Die erste offene Frage: Warum wurden die brutalen Schlägereien im Cafe Zeppelin (Jänner 2010) und beim Public Viewing am Karmeliterplatz in Graz erst so spät verhandelt – zwei Jahre danach? Die zweite offene Frage: Warum wurden die Delikte in getrennten Verhandlungen zur Anklage gebracht? Obwohl die Anklageschrift die beiden Schlägereien und die NS-Wiederbetätigung dabei in einem abhandelte? Und warum wurden die Anklagepunkte gegen Franz Radl und drei weitere Personen wegen NS-Wiederbetätigung zur Wiederbetätigungs-Anklage gegen die Schläger hinzugefügt?
“Gottfried Küssel und Franz Radl jun., hinter Gittern.” (Anti-EU-Demonstration 2008) Quelle: de.indymedia.org
Zwischen den drei Deliktkreisen (schwere Körperverletzung und NS-Wiederbetätigung im „Zeppelin“, schwere Körperverletzung und NS Wiederbetätigung am Karmeliterplatz, NS-Wiederbetätigung rund um Franz Radl mit Holocaustleugnung und Gerd Honsik) gab es zwar einzelne personelle Überschneidungen, aber keine Versuche oder gar Beweise der ermittelnden Behörden, den zehn Angeklagten einen organisatorischen oder aktionsbezogenen Zusammenhang nachzuweisen.
Ganz im Gegenteil: Vor allem die Anklage gegen Franz Radl und drei weitere Beschuldigte wegen NS-Wiederbetätigung rund um eine Honsik-Propaganda-Homepage, eine „Honsik“-Klebeaktion in etlichen steirischen Orten und NS-Propaganda, darunter eine Hetz-CD mit Holocaustleugnungen übelster Art, entpuppte sich als offene Baustelle. Radl wurde angeklagt, die Honsik-Homepage „im Zusammenwirken mit weiteren noch unbekannten Tätern“ betrieben zu haben. Auch die Verteilung von „Honsik“-Klebern, wegen der Franz Radl, Markus L. und Gerhard T. gemeinsam angeklagt waren, erfolgte laut Anklage „im Zusammenwirken mit weiteren noch unbekannten Tätern“.
Die inzwischen nicht mehr existente Website “gerd-honsik.net” war auch Thema beim Prozess in Graz
Wer sind die weiteren unbekannten Täter und wo sind sie geblieben? Die größten Defizite der Ermittlungen offenbarten sich aber nur am Rande des Grazer Prozesses. Im Wiener Neonazi-Prozess gegen Küssel und Co. wegen Alpen-Donau wurde immer deutlicher, dass Franz Radl und Richard P. verdächtig sind, zum inneren Kern von Alpen-Donau zu gehören: die Alpen-Mur-Abteilung sozusagen. Küssel und Co. dunsten seit den Hausdurchsuchungen im Frühjahr 2011 in Untersuchungshaft.
Und was ist mit Franz Radl? Spätestens seit der parlamentarischen Anfrage zu Alpen-Donau im Juli 2010 musste die ermittelnde Behörde, der Verfassungsschutz, den Vorwürfen nachgehen. Eine Telefonüberwachung gab es, wurde im Prozess bekannt. Ja eh, aber die Kommunikation lief bei den Alpen-Nazis übers Internet. Auch Richard P. wurde in der Anfrage genannt. Gegen ihn fand erst im Juni 2012 eine Hausdurchsuchung statt. Da stand er schon einige Monate in Graz vor Gericht.
Die Vorwürfe bzw. Verdachtsmomente rund um die Mur-Connection von Alpen-Donau spielten in der Grazer Verhandlung keine Rolle. Ob und wann gegen Radl und Co. ein Verfahren wegen des Verdachts der Beteiligung an Alpen-Donau stattfinden wird, steht in den Sternen.
Richard P. am Campus der Uni Graz bei einem Wahlstandl des RFS
Zurück zum Grazer Prozess: Trotz der beschriebenen Defizite der Anklageschrift im Wiederbetätigungsprozess war der Vorwurf der NS-Wiederbetätigung klar ausgearbeitet und in etlichen Einzelbelegen dokumentiert – ein großer Unterschied zum Wiener Prozess! Auch die Verhandlungsführung durch den Richter, der beide Grazer Prozesse leitete, war tadellos. Die Versuche einzelner Angeklagter, Verhandlungsführung und Anklage zu diskreditieren, misslangen völlig. Auch das ist ein deutlicher Unterschied zum Wiener Prozess, der immer wieder von Pannen durchzogen war – und vor allem schon sehr lange dauert.
Die Ergebnisse der beiden Grazer Verhandlungen sind allerdings mehr als unbefriedigend. Wegen der schweren Körperverletzung im Zeppelin gab es im ersten Verfahren sechs Schuld- und zwei Freisprüche. Obwohl sich die Angeklagten offensichtlich verabredet hatten und quasi uniformiert und mit Nazi-Sprüchen im Lokal aufgetreten sind, wurden alle in diesem Zusammenhang vom Vorwurf der NS-Wiederbetätigung freigesprochen.
Zwei der „Zeppelin“-Täter waren am Neonazi-Aufmarsch am Karmeliterplatz beteiligt. Sie wurden wegen der NS-Wiederbetätigung auch verurteilt. Immerhin! Schließlich war der Grün-Parlamentarier Werner Kogler, der die Neonazi-Aktion dort angesprochen und bezeugt hatte, zunächst von einzelnen Medien bezichtigt worden, in eine „Wirtshausschlägerei“ verwickelt gewesen zu sein. Der Schläger vom Karmeliterplatz, Hans Peter A. , aber wurde vom Vorwurf der Wiederbetätigung freigesprochen.
Von den Personen rund um Franz Radl und deren Delikte blieben Radl und Markus L. mit Haftstrafen übrig, während Gerhard T. , der ebenfalls am Überfall im „Zeppelin“ beteiligt war und wegen Körperverletzung verurteilt wurde, vom Vorwurf der Wiederbetätigung freigesprochen wurde. Verstehe, wer will! Markus L. wiederum war vom Vorwurf der schweren Körperverletzung im „Zeppelin“ freigesprochen worden und wurde nun wegen eines Eintrags auf MySpace verurteilt. Der Freispruch von D. S. wegen der Beteiligung an „Honsik“-Kleberaktionen ist der einzige, den man verstehen kann. Dass das Brüderpaar Christian und Stefan J. vom Vorwurf der NS-Wiederbetätigung freigesprochen wurde, hingegen nicht. Man fragt sich, ob die zahlreichen Hinweise und Dokumente, die über die Jahre vor allem von Mayday-Graz gesammelt wurden, gleich im Papierkorb oder in einer Ablage beim Verfassungsschutz gelandet sind.
Rechts im Bild (mit brauner Jacke): Gerhard T.
In den beiden wichtigen Neonazi-Prozessen in Wien und in Graz wurde ausschließlich die NS-Wiederbetätigung angeklagt, die anderen Delikte – gefährliche Drohung, üble Nachrede, Beleidigung, Körperverletzung – blieben ausgeklammert bzw. wurden in Graz in einem separaten Verfahren abgehandelt. Warum eigentlich? Bei jedem Dorfnazi, der schlägert, werden sie in einem Verfahren verhandelt. Das Delikt der NS-Wiederbetätigung ermöglicht es nicht, dass sich Privatbeteiligte dem Verfahren anschließen. Wollte sich die ermittelnde Behörde nicht über die Schulter schauen lassen? Wegen Nichtigkeit und Berufung (durch Angeklagte und Staatsanwaltschaft) wird der Prozess wohl in eine zweite Runde gehen. Gut so!
Die Urteile im Detail:
Franz Radl: 24 Monate, davon acht Monate unbedingt
Markus L.: acht Monate bedingt
Christoph S.: acht Monate bedingt
Christoph G.: drei Monate bedingt
Richard P.: zwölf Monate bedingt
Freispruch: Stefan und Christian J., Gerhard T., D.S.
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