Antisemitismus ist ein Phänomen, das seit etwa 2000 Jahren existiert und richtet sich pauschal gegen JüdInnen. Die Argumentationen der Ablehnung können dabei sehr unterschiedliche Formen annehmen.
Die Antisemitismen werden – trotz eines Ineinandergreifens – heute wie folgt unterschieden:
- religiöser Antijudaismus
- christlicher Antisemitismus
- „moderner“ Antisemitismus
- Vernichtungsantisemitismus
- Antisemitismus nach 1945; und
- Antizionismus
Der religiöse Antijudaismus war geprägt von einer Feindschaft polytheistischer Religionen gegen das monotheistische Judentum. Da es in polytheistischen Staaten üblich war, dass HerrscherInnen auch eine Machtfunktion innerhalb der polytheistischen Glaubenswelt einnahmen (PriesterInnen, GottkönigInnentum), musste die Ablehnung des Polytheismus als ein Angriff auf eben diese Machtposition darstellen. Eine scharfe Trennung zwischen einer speziellen und ausschließlichen Feindschaft gegenüber JüdInnen und einer Unterdrückung aufgrund damaliger Herrschaftsverhältnisse (Kriege, Besatzungen), ist hier aber kaum möglich.
Der christliche Antisemitismus
Im Christentum war eine Feindschaft gegen JüdInnen sehr früh vorhanden. Von Anfang an gab es zuerst eine Konkurrenz mit dem Judentum, die sehr schnell zu Vorwürfen und Vorurteilen gegen JüdInnen wurden. Eines der wichtigsten Elemente im christlichen Antisemitismus war immer schon der Glaube, dass JüdInnen schuld am Tod Jesus Christus sein sollen („Gottesmord“). Vom rund 2000 Jahre lang erhobenen Gottesmordvorwurf leitet sich die den Antisemitismus konstituierende und bis heute in verschiedensten Formen verbreitete Wahnvorstellung einer jüdischen Übermacht ab: “Wie mächtig muss eine Gruppe sein, die Gott ermorden kann?”
Während in den ersten Jahrhunderten die Feindschaft in Klöstern gepflegt wurde, entwickelte sich gegen Ende des ersten Jahrtausends u. Z. ein von großen Teilen der Bevölkerung getragener Antisemitismus. In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends kam es dann auch zu den allerersten Pogromen in Deutschland, geführt von den Kreuzrittern, die auf dem Weg nach Jerusalem waren.
Im Laufe des Mittelalters entwickelten sich weitere antisemitischen Vorstellungen wie die Ritualmordlegenden. JüdInnen wurde dabei vorgeworfen, dass sie Kinder ermorden, um das Blut zu entnehmen. Oder auch die Vorstellung einer „Brunnenvergiftung“, die eng verwandt ist mit der Verschwörungstheorie, dass JüdInnen schuld an Krankheiten, vor allem der Pest seien. Es entwickelten sich aufgrund der von christlichen MachthaberInnen erzwungenen Berufssparten des Geldhandels auch die antisemitischen Vorurteile, die JüdInnen pauschal der „Gier“ und des „Wuchers“ beschuldigten. Gegen Ende des Mittelalters wurde der Antisemitismus immer repressiver, es kam regelmäßig zu Pogromen und JüdInnen wurden oft gezwungen, in Ghettos zu leben.
„Martin Luthers antijüdische Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ 1543” — Quelle
Der moderne Antisemitismus
Viele der Vorstellungen des christlichen Antisemitismus prägen bis heute das Bild von AntisemitInnen über JüdInnen. „Gier“, „Wucherer“, wie auch Verschwörungstheorien von Naturkatastrophen, die angeblich von JüdInnen ausgelöst werden, haben heute noch ihren Stellenwert in den antisemitischen Vorstellungen. Auch die Ritualmordlegende, sowohl in ihrer alten Form wie auch „moderne“ Formen, finden sich auch heute noch.
Die Abgrenzung vom christlichen zum modernen Antisemitismus ist hier daher schwierig, doch gibt es mit der vom Kapitalismus geprägten neuen Gesellschaftsform neue Formen des Antisemitismus, wenn auch zum Teil auf alte aufbauend.
Mit der Liberalisierung änderte sich auch oft der rechtliche Status von JüdInnen. Österreich erlebte dagegen (fast) keine fortschreitende Liberalisierung der Gesellschaft und der Wirtschaft. Einerseits durch wirtschaftliche Krisen (Gründerkrise und Bankenkrach 1873), andererseits durch politisch — militärische Ereignisse (Königsgrätz). Der Machtverlust gefährdete den Schutz der Grenzen der Monarchie und so nahmen die sozial und ökonomisch gefährdeten Schichten eine besonders systembejahende Haltung ein. Einem unterentwickelten Liberalismus stand ein autoritärer Staat mit absolutistischen Ansprüchen gegenüber, getragen von Krone, Adel, Kirche sowie einer breiten Masse an traditionellen (im Feudalismus verankerten) HandwerkerInnen, die den Liberalismus, schon aufgrund ihrer wirtschaftlichen Ruinierung ablehnten. Als Zielscheibe boten sich die vermeintlichen Vertreter des Liberalismus und des Kapitalismus an, die JüdInnen. Das Feindbild „Jude“, das durch die christliche Tradition schon seit Jahrhunderten existierte, verschmolz zunehmend mit dem Feindbild „Kapitalist”.
Das BürgerInnentum war in Österreich mehrheitlich aber nicht nur antikapitalistisch und antiliberal, sondern auch antisozialistisch, es gab eine starke Ablehnung der ArbeiterInnenbewegung und der Sozialdemokratie. Und wieder wurde der politische Gegensatz durch Antisemitismus zum Ausdruck gebracht: „Die bolschewistische Gefahr ist eine jüdische Gefahr.“ (Ignaz Seipel).
So ergab sich die paradoxe Situation, dass für die AntisemitInnen nicht nur der Kapitalismus, sondern auch der Sozialismus jüdisch waren.
Der Vernichtungsantisemitismus
Davon zu unterscheiden – auch wenn es hier wieder keine scharfe Trennlinie gibt – ist der rassistische Antisemitismus.
Mit den Vorstellungen der deutschen und in weiterer Folge österreichischen Nationenbildung entwickelte sich eine Blut-und-Boden-Ideologie. Während in Frankreich die Nation in einer Zeit konstruiert wurde, die geprägt von den Gedanken der „Gleichheit“, „Freiheit“ und „Brüderlichkeit“ war, entwickelte sich in Deutschland die Nation später, in einer Zeit, die geprägt war von der Vorstellung der Ahnenschaft.
Auschwitz
Das eigene „Volk“ wurde mythologisiert und wurde als natürlicher „Organismus“ wahrgenommen, der auch menschliche Eigenschaften einnehmen konnte, wie „mutig“ und „schwach“. Den Menschen innerhalb dieses Konstrukts „Volk“ wurde eine bestimmte und, ebenso wie dem „Volk“ selbst, naturgewollte Ordnung zu gewiesen. Alles, was dem widersprach, richtete sich nun gegen die „Natur“ selbst, wurde als „Fremdkörper“ im „Organismus“ betrachtet und musste „ausgeschieden“ werden..
Der Schritt zum rassistischen Antisemitismus, der JüdInnen (als zu vernichtende „Gegenrasse“, auf die zuvor alles Negative projiziert wurde) ebenso wie „den Deutschen“ eine „naturgewollte“ Rolle gab und die Idee, alles „Fremde“, das dem Organismus „Volk“ schaden konnte, zu eliminieren, waren somit gegeben. Das Ergebnis war der millionenfache Mord an JüdInnen, aber auch an Roma und Sinti.
Antisemitismus nach 1945
Der Antisemitismus nach 1945 unterscheidet sich von seinen vorhergehenden Formen deutlich. Das politische und gesellschaftliche Klima Nachkriegsösterreichs ist geprägt von einer mangelnden Distanz zur Vergangenheit.
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches bedeutet die Tatsache, dass das NS-Regime eine massenweise Beteiligung der Bevölkerung an der “Judenvernichtung” erzielen konnte, ein ernsthaftes Problem für die KollaborateurInnen. Aber anstatt einer Aufarbeitung kam es zur Verdrängung, Schuldabwehr und Rechtfertigung von NS-Maßnahmen bis zur Schuldumkehr. Jene, die auf Antisemitismus aufmerksam machen, sind die wahren Schuldigen, weil sie die Sache nicht ruhen lassen) Durch die Schuldumkehr wurde der „Antisemitismus trotz Auschwitz“ zu einem „Antisemitismus wegen Auschwitz“.
„Antisemitismus nach Auschwitz“ auf einer Demonstration gegen Israel, am 4. Juni 2010 in Wien — Quelle
Der Nachkriegsantisemitismus der ÖsterreicherInnen hängt also einerseits mit der Nichtaufarbeitung der NS-Vergangenheit zusammen, andererseits und mit dem Versuch, eine neue österreichische Identität aufzubauen. Dafür sind bestimmte Verdrängungsleistungen, Verharmlosungen, Feindbilder notwendig.
Der Antisemitismus nach 1945 in Österreich ist ein “Antisemitismus ohne JüdInnen” (Paul Lendvai), nur 0,1 % der Bevölkerung sind jüdischen Glaubens . Er ist auch ein „Antisemitismus ohne AntisemitInnen“. Da der Antisemitismus offiziell verpönt ist, streitet jedeR ab, AntisemitIn zu sein. In Österreich entstand daher die zwiespältige Situation, das es weder eine Aufarbeitung und Überwindung des Antisemitismus gab oder gibt, noch eine Aufrechterhaltung als Ideologie erfolgte. Der Antisemitismus lebt im privaten Bereich großer Teile der Bevölkerung weiter, existiert aber im offiziellen Leben und der Geschichtsschreibung nicht. In dem der Antisemitismus tabuisiert wurde und wird, dadurch aber nicht aufgehoben ist, wurde er zum Alltagsantisemitismus, als welcher er sich festigte.
Antizionismus: Antisemitismus ohne AntisemitInnen
Eine heute weitverbreitete Form des „Antisemitismus ohne AntisemitInnen“ stellt der Antizionismus da. Antizionismus bezeichnet die Gegnerschaft gegenüber dem Staat Israel. Damit ist nicht eine Kritik an Handlungen Israels oder dessen Führung gemeint, sondern eine Kritik um der Kritik willen, unabhängig von möglichen Handlungen Israels. Diese Form des Antisemitismus richtet sich gegen jegliche Handlung Israels und negiert dabei das Existenzrecht Israels selbst.
Dabei werden die gleichen antisemitischen Muster verwendet, die die verschiedenen Antisemitismen auszeichnen: „Israel sei unversöhnlich“, „gierig“ (siehe „Holocaustindustrie“), „wolle die Weltherrschaft“ (siehe die angebliche „Medienkontrolle“), „hetzt Staaten gegeneinander auf“; aber auch Ritualmordlegenden, wie jene, dass Israel Organe haitischer Erdbebenopfer entnimmt, sind immer wieder zu hören.
So kommt Doron Rabinovici zu dem Schluss:
Paradoxerweise stärkte die Existenz des Staates das Selbstbewusstsein der Diaspora, können Juden auf der ganzen Welt furchtloser leben, wenn sie wissen, dass ein Flug nach Zion möglich ist. Wer allerdings glaubte, dass mit Israel der Antisemitismus bezwungen sein würde, muss nun erkennen, das Ressentiment läuft wenn auch vielleicht nicht wegen Israel, so zumindest gegen Israel zu neuer Form auf. Israel wurde von Beginn an seine Daseinsberechtigung streitig gemacht. Der Staat der Juden wird nicht selten als Jude unter den Staaten gehasst und verworfen.
Aufgenommen auf einer Demonstration gegen Israel, am 4. Juni 2010 in Wien. Vgl. die Ähnlichkeit mit dem Christlichen Antisemitismus und seiner Behauptung von „Ritualmordlegenden” — Quelle
Als „Jude unter den Staaten“ werden auf Israel die gleichen antisemitischen Argumentationsmuster angewendet, die schon typisch in der Gegnerschaft zu JüdInnen und zum Judentum im Allgemeinen existieren.
Der Kampf von Bewegungen gegen Israel wird durch AntizionistInnen zu einem emanzipativen Kampf umgelogen, selbst wenn diese Bewegungen selbst zutiefst antiemanzipatorisch sind. So ist für diese Art von AntisemitInnen eine Bewegung schon dann emanzipativ, wenn sich eine Gegnerschaft zu Israel selbst bildet. Die Gegnerschaft zu Israel genügt sich damit selbst, es braucht keine weitere Begründung als die Gegnerschaft selbst.