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Verfassungsschutzbericht 2022: Inakzeptabel wie kein anderer davor

Der Ver­fas­sungs­schutz­be­richt der DSN für das Jahr 2022 ist seit einer Woche online, und er ist in vie­len Punk­ten so inak­zep­ta­bel wie noch ande­rer davor. In der rechts­extre­men Sze­ne hat sich in den letz­ten Jah­ren eini­ges getan – bei­na­he nichts davon fin­det sich im Ver­fas­sungs­schutz­be­richt. Statt­des­sen gibt’s selt­sa­me Hin­wei­se auf das Pfle­ge­per­so­nal. Zu allem Überdruss […]

23. Mai 2023

Keine Zahlen?

Der Ver­fas­sungs­schutz­be­richt für das Jahr 2021 fällt noch in die Pro­be­pha­se der neu gegrün­de­ten DSN, aber allei­ne der Umstand, dass in ihm zum ers­ten Mal seit Jahr­zehn­ten kei­ne Sta­tis­ti­ken über rechts­extre­me Straf­ta­ten ent­hal­ten waren, konn­te schon böse Ahnun­gen wecken: Wer­den die Ver­fas­sungs­schutz­be­rich­te in Zukunft noch dün­ner, noch weni­ger aus­sa­ge­kräf­tig, obwohl von der neu­ge­grün­de­ten DSN das Gegen­teil ver­spro­chen (s. VSB 21, S. 10!) wur­de?

Sieht so aus. Im Bericht für das Jahr 2022 sind jeden­falls wie­der­um kei­ne Zah­len über die Häu­fig­keit rechts­extre­mer Anzei­gen und Delik­te ver­öf­fent­licht. Auch kei­ne ande­ren quan­ti­ta­ti­ven Anga­ben, über die Trends defi­nie­ren wer­den könn­ten. Es wird auch nicht ver­sucht, das Rät­sel zu lösen, war­um die Anga­ben von Innen- und Jus­tiz­mi­nis­te­ri­um so stark diver­gie­ren, dass völ­lig unter­schied­li­che Inter­pre­ta­tio­nen dar­aus hervorgehen.

Über­haupt: Es ist absurd, den Rechts­extre­mis­mus auf weni­ger als zehn Sei­ten abhan­deln zu wol­len – Fotos und Steh­sät­ze wie die­sen mit­ein­ge­rech­net: „Der Ter­mi­nus Rechts­extre­mis­mus ergibt sich aus unter­schied­li­chen gesell­schaft­li­chen Ver­wen­dungs­kon­tex­ten und den damit kor­re­spon­die­ren­den Inter­pre­ta­tio­nen, mit denen er jeweils bezeich­net wird.“ Aha!

Keine FPÖ?

Der Ver­fas­sungs­schutz­be­richt des deut­schen Innen­mi­nis­te­ri­ums wid­met über 50 Sei­ten dem Rechts­extre­mis­mus, lie­fert zudem im Kapi­tel „Poli­tisch moti­vier­te Kri­mi­na­li­tät“ zumin­dest den Ver­such, auf meh­re­ren Sei­ten rechts­extrem moti­vier­te Straf­ta­ten ein­zu­ord­nen. Die Ver­fas­sungs­schutz­be­rich­te der ein­zel­nen deut­schen Bun­des­län­der sind teil­wei­se noch umfang­rei­cher. Schließ­lich: War­um kommt die FPÖ im öster­rei­chi­schen Ver­fas­sungs­schutz­be­richt mit kei­ner Sil­be vor, wäh­rend die AfD im deut­schen für 2021 (der für 2022 liegt noch nicht vor) etli­che Male im Zusam­men­hang mit Rechts­extre­mis­mus erwähnt wird. Ist die FPÖ, die sich in ihrem Pro­gramm noch immer zur deut­schen „Volks­ge­mein­schaft“ bekennt und eine ras­sis­ti­sche sozi­al­po­li­ti­sche Pro­gram­ma­tik hat, weni­ger rechts­extrem als die AfD?

Kein Antisemitismus?

Im Ver­fas­sungs­schutz­be­richt für das Jahr 2020 war noch von der Ein­rich­tung von vier Arbeits­grup­pen zu lesen, dar­un­ter eine zu Anti­se­mi­tis­mus und eine zu Ver­schwö­rungs­theo­rien. Das schlug sich im dar­auf­fol­gen­den Jahr in einer deut­lich inten­si­ve­ren, wenn auch sehr all­ge­mei­nen Abhand­lung über „Anti­se­mi­tis­mus in Zei­ten der Pan­de­mie“ nie­der. 2022 hat­ten wir zwar immer noch Pan­de­mie und einen nicht nach­las­sen­den Strom anti­se­mi­ti­scher Het­ze, aber kei­ne Aus­ein­an­der­set­zung damit im Ver­fas­sungs­schutz­be­richt. Zum The­ma Anti­se­mi­tis­mus und rechts­extre­me bzw. anti­se­mi­ti­sche Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen sind wesent­lich mehr und teil­wei­se auch genaue­re Infos in den Tätig­keits­be­rich­ten der Bun­des­stel­le für Sek­ten­fra­gen zu finden.

Keine rechtsextremen Esoteriker*innen?

Vor allem die Pan­de­mie hat die zum Groß­teil sich unpo­li­tisch defi­nie­ren­de eso­te­ri­sche Sze­ne gewal­tig ins Rut­schen und ins rechts­extre­me Spek­trum gebracht. Neue Ger­ma­ni­sche Medi­zin, Ana­sta­sia-Pro­jek­te und rechts­extre­me Wan­der­pre­di­ger wie Ricar­do Lep­pe (der erst vor weni­gen Tagen wegen anti­se­mi­ti­scher und ras­sis­ti­scher Posi­tio­nen in Zürich ein Auf­tritts­ver­bot erhal­ten hat): Auch dar­über ist in den Berich­ten der Bun­des­stel­le für Sek­ten­fra­gen eini­ges, im Ver­fas­sungs­schutz­be­richt fak­tisch nichts zu lesen. Nur im Kapi­tel „Staats­feind­li­che Ver­bin­dun­gen“ wird zwar – völ­lig rich­tig – auf die „recht­se­so­te­ri­schen bis rechts­extre­men“ Welt­an­schau­un­gen die­ser Sze­ne hin­ge­wie­sen, die dann aber sofort wie­der bis ins Unkennt­li­che zer­re­det wer­den: „Folg­lich fin­den sich ideo­lo­gi­sche Berüh­rungs­punk­te und ideo­lo­gi­sche Über­schnei­dun­gen mit radi­ka­len bis extre­mis­ti­schen Grup­pie­run­gen und Strö­mun­gen über das gesam­te poli­ti­sche Spek­trum hin­weg.“ Geht das auch noch ein biss­chen genau­er, oder geht’s ohne­hin nur um ein bil­li­ges Auf­wär­men der aus­ge­laug­ten Huf­ei­sen-Theo­rie? (In der Pres­se­kon­fe­renz zur Prä­sen­ta­ti­on des Berichts hat sich der Innen­mi­nis­ter dann wirk­lich dar­auf ver­stie­gen zu behaup­ten, dass sich die Staats­ver­wei­ge­rer­sze­ne „aus der ganz rech­ten und zum Teil aus der ganz lin­ken Sze­ne” zusam­men­set­ze. Wie bitte?)

Keine Medien?

In Öster­reich gibt es seit vie­len Jah­ren ein sehr brei­tes Spek­trum rechts­extre­mer Medi­en: von „Zur Zeit“ und dem „Wochen­blick“ (ein­ge­stellt Ende 2022) über den „Eck­art“ bis hin zu Blätt­chen wie „Inter-Info“ oder „Frei­lich“ (frü­her: „Die Aula“). In den letz­ten Jah­ren hat aber vor allem die Bedeu­tung rechts­extre­mer Online-Medi­en deut­lich zuge­nom­men: zum Bei­spiel „report24“, „Auf1-TV“, „unzen­su­riert“, „tkp“-Blog oder auch diver­se Kanä­le auf Tele­gram. Im Bericht kom­men sie nicht vor. War­um nicht? Viel­leicht, weil etli­che von ihnen eine deut­li­che Nähe zur FPÖ aufweisen?

Cover "Der Eckart" (ÖLM) Mai 23
Cover „Der Eck­art” (ÖLM) Mai 23

Keine Rechtsextremen in der Exekutive?

Was die Pan­de­mie auch noch an die Ober­flä­che gespült hat, sind zahl­rei­che und beun­ru­hi­gen­de rechts­extre­me Akti­vi­tä­ten rund um Bun­des­heer und Poli­zei. Die sicher nicht voll­stän­di­ge Auf­lis­tung rechts­extre­mer Vor­fäl­le rund um das Bun­des­heer und die Outings von Bun­des­heer­be­diens­te­ten wie Horst Det­tel­ba­cher, der Fall der Moni­ka Don­ner, Johann Gais­wink­ler oder auch Her­mann Mit­te­rer sind ein deut­li­cher Hin­weis auf ein sys­te­mi­sches Pro­blem. Das gilt auch für die Poli­zei, bei der in den letz­ten Jah­ren vor allem Sym­pa­thien für Staats­ver­wei­ge­rer und radi­ka­le Coro­na-Manß­nah­men­geg­ner auf­fäl­lig waren.

Keine Waffen?

Ein eige­nes Kapi­tel im Bericht ist dem „Inter­na­tio­na­len Waf­fen­han­del und Pro­li­fe­ra­ti­on“ gewid­met. Rechts­extre­mis­mus kommt dar­in nicht vor, obwohl es in den letz­ten Jah­ren immer wie­der Hin­wei­se, in sel­te­nen Fäl­len sogar Auf­grif­fe von Rechts­extre­men gab, die im Waf­fen­han­del aktiv waren. In unse­rer Chro­no­lo­gie der Waf­fen­fun­de bei mut­maß­li­chen Rechts­extre­men hal­ten wir der­zeit bei Fall 36 (seit Juli 2019) und einer Unmen­ge an sicher­ge­stell­ten Waf­fen, Spreng­stof­fen und Muni­ti­on. Auch ein Waf­fen­meis­ter der nie­der­ös­ter­rei­chi­schen Poli­zei, der als Sach­ver­stän­di­ger aus­ge­rech­net für den Ver­fas­sungs­schutz tätig war und den Waf­fen­dea­ler der Neo­na­zis, Peter Bin­der, mit Muni­ti­on ver­sorgt hat, ist darunter.

Teil eines Waffenfunds in Klagenfurt, Sept. 2022 (Foto: LPD Kärnten)
Teil eines Waf­fen­funds in Kla­gen­furt, Sept. 2022 (Foto: LPD Kärnten)

Die Igno­ranz von Innen­mi­nis­te­ri­um bzw. DSN gegen­über der zuneh­men­den Bewaff­nung von Rechts­extre­men spie­gelt sich nicht nur in den dies­be­züg­li­chen Leer­stel­len des Berich­tes wider, son­dern auch in der Beant­wor­tung einer par­la­men­ta­ri­schen Anfra­ge der Abge­ord­ne­ten Sabi­ne Schatz (SPÖ), die 2020 vom dama­li­gen Innen­mi­nis­ter Neham­mer Nicht­ant­wor­ten erhielt, die vor Zynis­mus nur so triefen.

Keine gute Performance!

Wirk­lich hef­tig ist aber dann der Umgang der DSN mit dem Fall Rudolf P., dem 79-jäh­ri­gen Neo­na­zi und frü­he­ren FPÖ-Funk­tio­när, der 2021 ver­haf­tet wur­de. Die DSN wid­met ihm im Bericht (S. 19f) eine aus­führ­li­che Beschrei­bung, die wohl als Erfolgs­aus­weis gedacht war. Erwähnt wur­den dabei von P. ange­leg­te „Freun­des- und Fein­des­lis­ten“ und ein geplan­ter Anschlag auf das „Volksstimme“-Fest 2021. Zum Zeit­punkt des Fes­tes war P. zwar schon in Haft, im Pro­zess gegen ihn spiel­te der geplan­te und im Bericht als „natio­nal­so­zia­lis­tisch moti­vier­te, rechts­ter­ro­ris­ti­sche Straf­tat“ über­haupt kei­ne Rol­le. Die KPÖ als Ver­an­stal­te­rin des Fes­tes wur­den eben­so wenig infor­miert wie die Per­so­nen auf den Fein­des­lis­ten. In der media­len Erör­te­rung des Berich­tes zog man sich dann auf die ange­sichts der exzel­len­ten Ver­net­zung von P. mit Neo­na­zis und Iden­ti­tä­ren absur­de Behaup­tung vom Allein­gän­ger Rudolf P. zurück, der wegen und seit sei­ner Ver­haf­tung kei­ne Gefahr mehr für Fest und Fein­de dar­stel­len kön­ne. Und wie rea­lis­tisch ist die Vor­stel­lung, dass ein fast 80-Jäh­ri­ger ganz allein einen Ter­ror­an­schlag durch­zie­hen will?

Keine akzeptable Gefahreneinschätzung!

Was sich die DSN dann haupt­säch­lich im Kapi­tel „Schutz kri­ti­scher Infra­struk­tur“ an mög­li­chen Gefah­ren­ein­schät­zun­gen für die Zukunft zusam­men­reimt, über­schrei­tet deut­lich jedes akzep­ta­ble Niveau. Da wer­den neben rechts­extre­men Per­so­nen und Grup­pen aus der Coro­na-Pro­test­be­we­gung im glei­chen Atem­zug auch Klimaaktivist*innen als poten­zi­el­le Sicher­heits­ge­fahr genannt, aber dann auch noch die Per­so­nal­eng­päs­se im Gesund­heits­be­reich und die „Unzu­frie­den­heit über die Gehäl­ter“ als Ursa­che für „ver­mehr­tes Pro­test­ge­sche­hen“ beschrie­ben. Das alles ist vage gehal­ten, aber man fragt sich, was das in einem Ver­fas­sungs­schutz­be­richt über­haupt zu suchen hat. Von der Beob­ach­tung gewerk­schaft­li­cher und betrieb­li­cher Pro­tes­te soll­te die DSN jeden­falls sofort Abstand nehmen.

Gesundheitspersonal und Klimaschützer*innen als Beobachtungsgegenstand der DSN (VSB 22)
Gesund­heits­per­so­nal und Klimaschützer*innen als Beob­ach­tungs­ge­gen­stand der DSN (VSB 22)