Keine Zahlen?
Der Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2021 fällt noch in die Probephase der neu gegründeten DSN, aber alleine der Umstand, dass in ihm zum ersten Mal seit Jahrzehnten keine Statistiken über rechtsextreme Straftaten enthalten waren, konnte schon böse Ahnungen wecken: Werden die Verfassungsschutzberichte in Zukunft noch dünner, noch weniger aussagekräftig, obwohl von der neugegründeten DSN das Gegenteil versprochen (s. VSB 21, S. 10!) wurde?
Sieht so aus. Im Bericht für das Jahr 2022 sind jedenfalls wiederum keine Zahlen über die Häufigkeit rechtsextremer Anzeigen und Delikte veröffentlicht. Auch keine anderen quantitativen Angaben, über die Trends definieren werden könnten. Es wird auch nicht versucht, das Rätsel zu lösen, warum die Angaben von Innen- und Justizministerium so stark divergieren, dass völlig unterschiedliche Interpretationen daraus hervorgehen.
Überhaupt: Es ist absurd, den Rechtsextremismus auf weniger als zehn Seiten abhandeln zu wollen – Fotos und Stehsätze wie diesen miteingerechnet: „Der Terminus Rechtsextremismus ergibt sich aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Verwendungskontexten und den damit korrespondierenden Interpretationen, mit denen er jeweils bezeichnet wird.“ Aha!
Keine FPÖ?
Der Verfassungsschutzbericht des deutschen Innenministeriums widmet über 50 Seiten dem Rechtsextremismus, liefert zudem im Kapitel „Politisch motivierte Kriminalität“ zumindest den Versuch, auf mehreren Seiten rechtsextrem motivierte Straftaten einzuordnen. Die Verfassungsschutzberichte der einzelnen deutschen Bundesländer sind teilweise noch umfangreicher. Schließlich: Warum kommt die FPÖ im österreichischen Verfassungsschutzbericht mit keiner Silbe vor, während die AfD im deutschen für 2021 (der für 2022 liegt noch nicht vor) etliche Male im Zusammenhang mit Rechtsextremismus erwähnt wird. Ist die FPÖ, die sich in ihrem Programm noch immer zur deutschen „Volksgemeinschaft“ bekennt und eine rassistische sozialpolitische Programmatik hat, weniger rechtsextrem als die AfD?
Kein Antisemitismus?
Im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2020 war noch von der Einrichtung von vier Arbeitsgruppen zu lesen, darunter eine zu Antisemitismus und eine zu Verschwörungstheorien. Das schlug sich im darauffolgenden Jahr in einer deutlich intensiveren, wenn auch sehr allgemeinen Abhandlung über „Antisemitismus in Zeiten der Pandemie“ nieder. 2022 hatten wir zwar immer noch Pandemie und einen nicht nachlassenden Strom antisemitischer Hetze, aber keine Auseinandersetzung damit im Verfassungsschutzbericht. Zum Thema Antisemitismus und rechtsextreme bzw. antisemitische Verschwörungserzählungen sind wesentlich mehr und teilweise auch genauere Infos in den Tätigkeitsberichten der Bundesstelle für Sektenfragen zu finden.
Keine rechtsextremen Esoteriker*innen?
Vor allem die Pandemie hat die zum Großteil sich unpolitisch definierende esoterische Szene gewaltig ins Rutschen und ins rechtsextreme Spektrum gebracht. Neue Germanische Medizin, Anastasia-Projekte und rechtsextreme Wanderprediger wie Ricardo Leppe (der erst vor wenigen Tagen wegen antisemitischer und rassistischer Positionen in Zürich ein Auftrittsverbot erhalten hat): Auch darüber ist in den Berichten der Bundesstelle für Sektenfragen einiges, im Verfassungsschutzbericht faktisch nichts zu lesen. Nur im Kapitel „Staatsfeindliche Verbindungen“ wird zwar – völlig richtig – auf die „rechtsesoterischen bis rechtsextremen“ Weltanschauungen dieser Szene hingewiesen, die dann aber sofort wieder bis ins Unkenntliche zerredet werden: „Folglich finden sich ideologische Berührungspunkte und ideologische Überschneidungen mit radikalen bis extremistischen Gruppierungen und Strömungen über das gesamte politische Spektrum hinweg.“ Geht das auch noch ein bisschen genauer, oder geht’s ohnehin nur um ein billiges Aufwärmen der ausgelaugten Hufeisen-Theorie? (In der Pressekonferenz zur Präsentation des Berichts hat sich der Innenminister dann wirklich darauf verstiegen zu behaupten, dass sich die Staatsverweigererszene „aus der ganz rechten und zum Teil aus der ganz linken Szene” zusammensetze. Wie bitte?)
Keine Medien?
In Österreich gibt es seit vielen Jahren ein sehr breites Spektrum rechtsextremer Medien: von „Zur Zeit“ und dem „Wochenblick“ (eingestellt Ende 2022) über den „Eckart“ bis hin zu Blättchen wie „Inter-Info“ oder „Freilich“ (früher: „Die Aula“). In den letzten Jahren hat aber vor allem die Bedeutung rechtsextremer Online-Medien deutlich zugenommen: zum Beispiel „report24“, „Auf1-TV“, „unzensuriert“, „tkp“-Blog oder auch diverse Kanäle auf Telegram. Im Bericht kommen sie nicht vor. Warum nicht? Vielleicht, weil etliche von ihnen eine deutliche Nähe zur FPÖ aufweisen?
Keine Rechtsextremen in der Exekutive?
Was die Pandemie auch noch an die Oberfläche gespült hat, sind zahlreiche und beunruhigende rechtsextreme Aktivitäten rund um Bundesheer und Polizei. Die sicher nicht vollständige Auflistung rechtsextremer Vorfälle rund um das Bundesheer und die Outings von Bundesheerbediensteten wie Horst Dettelbacher, der Fall der Monika Donner, Johann Gaiswinkler oder auch Hermann Mitterer sind ein deutlicher Hinweis auf ein systemisches Problem. Das gilt auch für die Polizei, bei der in den letzten Jahren vor allem Sympathien für Staatsverweigerer und radikale Corona-Manßnahmengegner auffällig waren.
Keine Waffen?
Ein eigenes Kapitel im Bericht ist dem „Internationalen Waffenhandel und Proliferation“ gewidmet. Rechtsextremismus kommt darin nicht vor, obwohl es in den letzten Jahren immer wieder Hinweise, in seltenen Fällen sogar Aufgriffe von Rechtsextremen gab, die im Waffenhandel aktiv waren. In unserer Chronologie der Waffenfunde bei mutmaßlichen Rechtsextremen halten wir derzeit bei Fall 36 (seit Juli 2019) und einer Unmenge an sichergestellten Waffen, Sprengstoffen und Munition. Auch ein Waffenmeister der niederösterreichischen Polizei, der als Sachverständiger ausgerechnet für den Verfassungsschutz tätig war und den Waffendealer der Neonazis, Peter Binder, mit Munition versorgt hat, ist darunter.
Die Ignoranz von Innenministerium bzw. DSN gegenüber der zunehmenden Bewaffnung von Rechtsextremen spiegelt sich nicht nur in den diesbezüglichen Leerstellen des Berichtes wider, sondern auch in der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage der Abgeordneten Sabine Schatz (SPÖ), die 2020 vom damaligen Innenminister Nehammer Nichtantworten erhielt, die vor Zynismus nur so triefen.
Keine gute Performance!
Wirklich heftig ist aber dann der Umgang der DSN mit dem Fall Rudolf P., dem 79-jährigen Neonazi und früheren FPÖ-Funktionär, der 2021 verhaftet wurde. Die DSN widmet ihm im Bericht (S. 19f) eine ausführliche Beschreibung, die wohl als Erfolgsausweis gedacht war. Erwähnt wurden dabei von P. angelegte „Freundes- und Feindeslisten“ und ein geplanter Anschlag auf das „Volksstimme“-Fest 2021. Zum Zeitpunkt des Festes war P. zwar schon in Haft, im Prozess gegen ihn spielte der geplante und im Bericht als „nationalsozialistisch motivierte, rechtsterroristische Straftat“ überhaupt keine Rolle. Die KPÖ als Veranstalterin des Festes wurden ebenso wenig informiert wie die Personen auf den Feindeslisten. In der medialen Erörterung des Berichtes zog man sich dann auf die angesichts der exzellenten Vernetzung von P. mit Neonazis und Identitären absurde Behauptung vom Alleingänger Rudolf P. zurück, der wegen und seit seiner Verhaftung keine Gefahr mehr für Fest und Feinde darstellen könne. Und wie realistisch ist die Vorstellung, dass ein fast 80-Jähriger ganz allein einen Terroranschlag durchziehen will?
Keine akzeptable Gefahreneinschätzung!
Was sich die DSN dann hauptsächlich im Kapitel „Schutz kritischer Infrastruktur“ an möglichen Gefahreneinschätzungen für die Zukunft zusammenreimt, überschreitet deutlich jedes akzeptable Niveau. Da werden neben rechtsextremen Personen und Gruppen aus der Corona-Protestbewegung im gleichen Atemzug auch Klimaaktivist*innen als potenzielle Sicherheitsgefahr genannt, aber dann auch noch die Personalengpässe im Gesundheitsbereich und die „Unzufriedenheit über die Gehälter“ als Ursache für „vermehrtes Protestgeschehen“ beschrieben. Das alles ist vage gehalten, aber man fragt sich, was das in einem Verfassungsschutzbericht überhaupt zu suchen hat. Von der Beobachtung gewerkschaftlicher und betrieblicher Proteste sollte die DSN jedenfalls sofort Abstand nehmen.