Mit zahlreichen an das Innen- und das Justizministerium gerichteten Fragen klopft die SPÖ-Nationalratsabgeordnete Sabine Schatz seit 2017 die Lage der rechtsextremen, rassistischen und antisemitischen Straftaten und den Umgang der Justiz damit ab. Die Vergleichsdaten aus den Vorjahren würden ermöglichen, „die (…) Entwicklung beobachten zu können“, schrieb Schatz 2022 in einer Presseaussendung (4.3.22). Damit hätte sie recht, wenn denn die Zahlen in den Beantwortungen stimmen würden. Tatsächlich tun sich aber mehr Fragen als Antworten auf. Nämlich dann, wenn man die Zahlen aus dem Innenministerium (BMI) mit jenen aus dem Justizministerium (BMJ) vergleicht. Die Logik wäre: Jede Anzeige – etwa nach dem Verbotsgesetz – müsste zu einem neuen Verfahren bei den Staatsanwaltschaften führen. Die Zahlen zu den Anzeigen und zu den „Anfällen“ (angelegte Verfahren) bei den Staatsanwaltschaften müssten also in einer nachvollziehbaren Relation sein. Theoretisch! Tatsächlich klaffen sie in einem unerklärbaren Ausmaß auseinander.
Sinkende Zahlen da, ein Allzeithoch dort
2022 seien die Zahlen – rechtsextreme Tathandlungen und Anzeigen – leicht gesunken, erfahren wir aus der Anfragebeantwortung von Minister Gerhard Karner. Der Blick auf die Anfragebeantwortung aus dem BMJ zeigt jedoch anderes: Noch nie war die Zahl der neu eröffneten Verfahren („Anfälle“) so hoch wie 2022 – noch Schlimmeres weist ein Blick auf die Entwicklung aus: Seit 2017, als zum ersten Mal auf parlamentarischer Ebene an das BMJ abgefragt wurde, wie viele Verfahren nach dem Verbotsgesetz eröffnet wurden, hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Demnach sind 2022 an jedem Tag im Jahr inklusive arbeitsfreier Tage durchschnittlich 6,6 neue Verfahren nach dem Verbotsgesetz eröffnet worden, während es 2017 noch 3,1 Verfahren waren.


Beispiel 2021: vier unterschiedliche Zahlen
Etwa zwei Wochen vor Eintreffen der Anfragebeantwortung des BMI präsentierte Minister Karner im Februar 2022 die Kriminalstatistik 2021. Dort hieß es:
Wurden 2019 noch 1.388 Anzeigen nach dem Verbotsgesetz gelegt, waren es 2021 bereits 1.671 Fälle und damit eine signifikante Steigerung (sic!). „Diese Zahlen zeichnen ein klares Bild einer Veränderung im Bereich des Rechtsextremismus, das auch von der Pandemie beeinflusst wurde. Das zeigt auch die Verharmlosung des Holocaust im Rahmen von Corona-Demos, aber auch im Internet und in sozialen Medien.
Kurz darauf wies seine eigene Anfragebeantwortung 998 Anzeigen nach dem Verbotsgesetz aus. Welche Anzeigen kannte das Innenministerium im Februar, die es im März nicht mehr kannte? Anders gefragt: Welche der beiden extrem unterschiedlichen Zahlen stimmt? Gar keine? Denn diesen Schluss lässt die Beantwortung der Frage an das BMJ, wie viele Verfahren nach dem Verbotsgesetz 2021 eröffnet wurden, zu: Justizministerin Alma Zadić gab 2.072 Anfälle an. Knapp drei Monate später, Ende Mai 2022 meinte Alexander M., Staatsanwalt in einer Sondereinheit für extremistische Straftaten, in einem Interview mit den Salzburger Nachrichten (27.5.22, S. 3):
M. und sein Team sind somit auch eine Art Seismograf für gesellschaftliche Umbrüche. Ebbte die Hetze gegen Asylsuchende, Muslime und Migrantinnen mit dem Sinken der Asylzahlen wieder ab, stieg zuletzt die Zahl bei Verstößen gegen das Verbotsgesetz. 1097 Anzeigen landeten deshalb im ersten Quartal auf den Schreibtischen der Staatsanwälte, im Vorjahr waren es 2361. Der Staatsanwalt sieht den Grund dafür vor allem in der Coronapandemie.
Wir haben nun also eine Bandbreite von 998 Anzeigen (BMI) bis 2.361 Anfällen* (BMJ). „Stoppt die Rechten“ hat die Anfragebeantwortungen ab dem Jahr 2017 ausgewertet und die Zahlen aus dem BMI mit jenen aus dem aus dem BMJ verglichen. Die Quintessenz: Alle Angaben aus der Justiz waren erheblich höher – mit dem negativen Höhepunkt im ersten Halbjahr 2022, denn da übertraf die Zahl des Justizministeriums jene des Innenministeriums gleich um das Vierfache.
Eine noch größere Differenz zwischen BMI und BMJ ergeben die Vergleiche bezüglich der Anzeigen nach dem Verhetzungsparagraphen. Für 2022 übertrifft die Zahl aus dem BMJ jene des BMI um das 7,5‑fache.

In der öffentlichen Diskussion stehen de facto nur die Zahlen des Innenministeriums. Die Frage ist, worauf die Lageeinschätzungen und Präventionsmaßnahmen des BMI bzw. des Verfassungsschutzes beruhen. Die alarmierende Antwort: Möglicherweise erfolgen die Einschätzungen auf Basis völlig falscher Daten und daher im Blindflug. Das Ganze sieht – wenn wir freundlicherweise nicht von Vorsatz ausgehen – nach einer unglaublichen Schlamperei im Umgang mit diesen Zahlen, nach einer Missachtung des parlamentarischen Interpellationsrechtes sowie einer Irreführung der Öffentlichkeit aus.

Reaktionen aus den zuständigen Ministerien und offene Fragen
Während das Justizministerium auf die Richtigkeit seiner eigenen Zahlen beharrt, gibt das Innenministerium vom „Standard” befragt zwei Gründe an:
Aus dem Innenministerium und der DSN wurden dem STANDARD zwei verschiedene Gründe genannt, wegen derer es Unterschiede geben kann, wenngleich ein Unterschied von weit über hundert Prozent so nicht erklärt werden könne.
Erstens würden nicht alle Taten bei der Polizei angezeigt, sondern NGOs oder auch Privatpersonen zeigen auch direkt bei der Justiz an. Allerdings ermittelt auch dann meist die Polizei, womit die große Diskrepanz nicht erklärt wird. (…)
Zweitens müsse man, so eine DSN-Sprecherin, zwischen „Tathandlungen und Delikten, die im Jahr 2022 gesetzt und den Sicherheitsbehörden bekannt wurden”, und jenen, die zwar bekannt wurden, aber aus der Vergangenheit stammen, unterscheiden. Letztere seien nicht in der Statistik 2022 ersichtlich, gingen aber nicht verloren, weil sie in der Kriminalstatistik eigens erfasst werden.
Dass das Zahlenmaterial leicht differieren kann, dass manche (aber nicht Hunderte) Anzeigen direkt an die Staatsanwaltschaften gerichtet werden – geschenkt! Dass aus dem Innenministerium und aus dem Verfassungsschutz, der im Innenministerium angesiedelt ist, unterschiedliche Erklärungen kommen, erstaunt. Da selbst die Zahlen aus der Kriminalstatistik nicht einmal annähernd an jene des BMJ herankommen, vermag die Erklärung aus dem Innenressort ebenfalls nicht zu überzeugen.

Offen bleiben nicht nur die Fragen, wie es zu derartigen Abweichungen in den Zahlenangaben kommen kann und ob nun davon auszugehen ist, dass auch die anderen abgefragten Zahlen zu den rechtsextremen Straftaten nicht stimmen, sondern auch, warum es einer NGO wie „Stoppt die Rechten“ überlassen bleibt, das vorgelegte Zahlenmaterial überhaupt einmal abzugleichen und zu analysieren. Nehammer, damals noch Innenminister, sprach Ende 2020 bezüglich der rechtsextremen Szene noch von einem „Pulverfass“, und nun stellt sich heraus, dass das Innenministerium genau bezüglich dieser Szene keinen seriösen Überblick darüber zu haben scheint, was sich wirklich tut. Das wäre tatsächlich ein brandgefährliches Pulverfass!
P.S.: Werter Herr Innenminister, eine Tat nach dem Verbotsgesetz ist kein „Vergehen“, wie Sie es in Ihren Anfragebeantwortungen bezeichnen, sondern ein „Verbrechen“.
Im Strafrecht werden die strafbaren Handlungen unterteilt in Verbrechen und Vergehen. Die Kategorisierung erfolgt dabei nach der Höhe des gesetzlich festgelegten Strafrahmens der Tat. Verbrechen sind vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind. Alle anderen strafbaren Handlungen sind Vergehen, d.h. alle Handlungen, die mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bedroht sind. (oesterreich.gv.at)
* Dieselbe Zahl nannte Ministerin Zadić auch in einer Pressekonferenz im November 2022.
➡️ Der Standard: Verwirrung um rechtsextreme Fallzahlen