Rechtsextreme Straftaten: Im Blindflug unterwegs?

Inzwis­chen kom­men sie zweimal jährlich – die Zahlen zu den recht­sex­tremen Straftat­en in Öster­re­ich, die über hal­b­jährliche par­la­men­tarische Anfra­gen an Innen- und Jus­tizmin­is­teri­um öffentlich wer­den. In die Medi­en schaf­fen es aus den Beant­wor­tun­gen nur wenige Eck­dat­en – sie wer­den als Seis­mo­graph dafür gehan­delt, wie die Lage des Recht­sex­trem­is­mus in Öster­re­ich ist. Aber: Die Zahlen scheinen falsch zu sein und an der tat­säch­lichen Lage völ­lig vor­beizuge­hen, wie eine Recherche von „Stoppt die Recht­en“ ergeben hat.

Mit zahlre­ichen an das Innen- und das Jus­tizmin­is­teri­um gerichteten Fra­gen klopft die SPÖ-Nation­al­ratsab­ge­ord­nete Sabine Schatz seit 2017 die Lage der recht­sex­tremen, ras­sis­tis­chen und anti­semi­tis­chen Straftat­en und den Umgang der Jus­tiz damit ab. Die Ver­gle­ichs­dat­en aus den Vor­jahren wür­den ermöglichen, „die (…) Entwick­lung beobacht­en zu kön­nen“, schrieb Schatz 2022 in ein­er Presseaussendung (4.3.22). Damit hätte sie recht, wenn denn die Zahlen in den Beant­wor­tun­gen stim­men wür­den. Tat­säch­lich tun sich aber mehr Fra­gen als Antworten auf. Näm­lich dann, wenn man die Zahlen aus dem Innen­min­is­teri­um (BMI) mit jenen aus dem Jus­tizmin­is­teri­um (BMJ) ver­gle­icht. Die Logik wäre: Jede Anzeige – etwa nach dem Ver­bots­ge­setz – müsste zu einem neuen Ver­fahren bei den Staat­san­waltschaften führen. Die Zahlen zu den Anzeigen und zu den „Anfällen“ (angelegte Ver­fahren) bei den Staat­san­waltschaften müssten also in ein­er nachvol­lziehbaren Rela­tion sein. The­o­retisch! Tat­säch­lich klaf­fen sie in einem unerk­lär­baren Aus­maß auseinander.

Sink­ende Zahlen da, ein Allzei­thoch dort

2022 seien die Zahlen – recht­sex­treme Tathand­lun­gen und Anzeigen – leicht gesunken, erfahren wir aus der Anfrage­beant­wor­tung von Min­is­ter Ger­hard Karn­er. Der Blick auf die Anfrage­beant­wor­tung aus dem BMJ zeigt jedoch anderes: Noch nie war die Zahl der neu eröffneten Ver­fahren („Anfälle“) so hoch wie 2022 – noch Schlim­meres weist ein Blick auf die Entwick­lung aus: Seit 2017, als zum ersten Mal auf par­la­men­tarisch­er Ebene an das BMJ abge­fragt wurde, wie viele Ver­fahren nach dem Ver­bots­ge­setz eröffnet wur­den, hat sich die Zahl mehr als ver­dop­pelt. Dem­nach sind 2022 an jedem Tag im Jahr inklu­sive arbeits­freier Tage durch­schnit­tlich 6,6 neue Ver­fahren nach dem Ver­bots­ge­setz eröffnet wor­den, während es 2017 noch 3,1 Ver­fahren waren.

Anfragebeantwortung Innenministerium Anzeigen 2022: 929 nach dem Verbotsgesetz

Anfrage­beant­wor­tung Innen­min­is­teri­um Anzeigen 2022: 929 nach dem Verbotsgesetz

Anfragebeantwortung Justizministerium Anfälle 2022: 623 nach Verhetzung, 2.397 nach dem Verbotsgesetz (Die Jahresangabe "2021" ist falsch, Zahlen beziehen sich auf 2022.)

Anfrage­beant­wor­tung Jus­tizmin­is­teri­um Anfälle 2022: 623 nach Ver­het­zung, 2.397 nach dem Ver­bots­ge­setz (Die Jahre­sangabe „2021” ist falsch, Zahlen beziehen sich auf 2022.)

Beispiel 2021: vier unter­schiedliche Zahlen

Etwa zwei Wochen vor Ein­tr­e­f­fen der Anfrage­beant­wor­tung des BMI präsen­tierte Min­is­ter Karn­er im Feb­ru­ar 2022 die Krim­i­nal­sta­tis­tik 2021. Dort hieß es:

Wur­den 2019 noch 1.388 Anzeigen nach dem Ver­bots­ge­setz gelegt, waren es 2021 bere­its 1.671 Fälle und damit eine sig­nifikante Steigerung (sic!). „Diese Zahlen zeich­nen ein klares Bild ein­er Verän­derung im Bere­ich des Recht­sex­trem­is­mus, das auch von der Pan­demie bee­in­flusst wurde. Das zeigt auch die Ver­harm­lo­sung des Holo­caust im Rah­men von Coro­na-Demos, aber auch im Inter­net und in sozialen Medien.

Kurz darauf wies seine eigene Anfrage­beant­wor­tung 998 Anzeigen nach dem Ver­bots­ge­setz aus. Welche Anzeigen kan­nte das Innen­min­is­teri­um im Feb­ru­ar, die es im März nicht mehr kan­nte? Anders gefragt: Welche der bei­den extrem unter­schiedlichen Zahlen stimmt? Gar keine? Denn diesen Schluss lässt die Beant­wor­tung der Frage an das BMJ, wie viele Ver­fahren nach dem Ver­bots­ge­setz 2021 eröffnet wur­den, zu: Jus­tizmin­is­terin Alma Zadić gab 2.072 Anfälle an. Knapp drei Monate später, Ende Mai 2022 meinte Alexan­der M., Staat­san­walt in ein­er Son­dere­in­heit für extrem­istis­che Straftat­en, in einem Inter­view mit den Salzburg­er Nachricht­en (27.5.22, S. 3):

M. und sein Team sind somit auch eine Art Seis­mo­graf für gesellschaftliche Umbrüche. Ebbte die Het­ze gegen Asyl­suchende, Mus­lime und Migran­tinnen mit dem Sinken der Asylzahlen wieder ab, stieg zulet­zt die Zahl bei Ver­stößen gegen das Ver­bots­ge­setz. 1097 Anzeigen lan­de­ten deshalb im ersten Quar­tal auf den Schreibtis­chen der Staat­san­wälte, im Vor­jahr waren es 2361. Der Staat­san­walt sieht den Grund dafür vor allem in der Coronapandemie.

Wir haben nun also eine Band­bre­ite von 998 Anzeigen (BMI) bis 2.361 Anfällen* (BMJ). „Stoppt die Recht­en“ hat die Anfrage­beant­wor­tun­gen ab dem Jahr 2017 aus­gew­ertet und die Zahlen aus dem BMI mit jenen aus dem aus dem BMJ ver­glichen. Die Quin­tes­senz: Alle Angaben aus der Jus­tiz waren erhe­blich höher – mit dem neg­a­tiv­en Höhep­unkt im ersten Hal­b­jahr 2022, denn da über­traf die Zahl des Jus­tizmin­is­teri­ums jene des Innen­min­is­teri­ums gle­ich um das Vierfache.

Eine noch größere Dif­ferenz zwis­chen BMI und BMJ ergeben die Ver­gle­iche bezüglich der Anzeigen nach dem Ver­het­zungspara­graphen. Für 2022 über­trifft die Zahl aus dem BMJ jene des BMI um das 7,5‑fache.

Die Zahlen aus dem Justiz- und dem Innenministerium im Vergleich seit 2017 (Auswertung SdR)

Die Zahlen aus dem Jus­tiz- und dem Innen­min­is­teri­um im Ver­gle­ich seit 2017 (Auswer­tung SdR)

In der öffentlichen Diskus­sion ste­hen de fac­to nur die Zahlen des Innen­min­is­teri­ums. Die Frage ist, worauf die Lageein­schätzun­gen und Präven­tion­s­maß­nah­men des BMI bzw. des Ver­fas­sungss­chutzes beruhen. Die alarmierende Antwort: Möglicher­weise erfol­gen die Ein­schätzun­gen auf Basis völ­lig falsch­er Dat­en und daher im Blind­flug. Das Ganze sieht – wenn wir fre­undlicher­weise nicht von Vor­satz aus­ge­hen – nach ein­er unglaublichen Schlam­perei im Umgang mit diesen Zahlen, nach ein­er Mis­sach­tung des par­la­men­tarischen Inter­pel­la­tion­srecht­es sowie ein­er Irreführung der Öffentlichkeit aus.

BMI-Zahl bestimmt die Schlagzeilen: rechtsextreme Straftaten gesunken (4.3.22)

BMI-Zahl bes­timmt die Schlagzeilen: recht­sex­treme Straftat­en gesunken (4.3.22)

Reak­tio­nen aus den zuständi­gen Min­is­te­rien und offene Fragen

Während das Jus­tizmin­is­teri­um auf die Richtigkeit sein­er eige­nen Zahlen behar­rt, gibt das Innen­min­is­teri­um vom „Stan­dard” befragt zwei Gründe an:

Aus dem Innen­min­is­teri­um und der DSN wur­den dem STANDARD zwei ver­schiedene Gründe genan­nt, wegen der­er es Unter­schiede geben kann, wen­ngle­ich ein Unter­schied von weit über hun­dert Prozent so nicht erk­lärt wer­den könne.
Erstens wür­den nicht alle Tat­en bei der Polizei angezeigt, son­dern NGOs oder auch Pri­vat­per­so­n­en zeigen auch direkt bei der Jus­tiz an. Allerd­ings ermit­telt auch dann meist die Polizei, wom­it die große Diskrepanz nicht erk­lärt wird. (…)
Zweit­ens müsse man, so eine DSN-Sprecherin, zwis­chen „Tathand­lun­gen und Delik­ten, die im Jahr 2022 geset­zt und den Sicher­heits­be­hör­den bekan­nt wur­den”, und jenen, die zwar bekan­nt wur­den, aber aus der Ver­gan­gen­heit stam­men, unter­schei­den. Let­ztere seien nicht in der Sta­tis­tik 2022 ersichtlich, gin­gen aber nicht ver­loren, weil sie in der Krim­i­nal­sta­tis­tik eigens erfasst werden.

Dass das Zahlen­ma­te­r­i­al leicht dif­ferieren kann, dass manche (aber nicht Hun­derte) Anzeigen direkt an die Staat­san­waltschaften gerichtet wer­den – geschenkt! Dass aus dem Innen­min­is­teri­um und aus dem Ver­fas­sungss­chutz, der im Innen­min­is­teri­um ange­siedelt ist, unter­schiedliche Erk­lärun­gen kom­men, erstaunt. Da selb­st die Zahlen aus der Krim­i­nal­sta­tis­tik nicht ein­mal annäh­ernd an jene des BMJ her­ankom­men, ver­mag die Erk­lärung aus dem Innen­res­sort eben­falls nicht zu überzeugen.

Nehammer warnt im Dezember 2020 "vor Gefahr des Rechtsextremismus" (derstandard.at)

Neham­mer warnt im Dezem­ber 2020 „vor Gefahr des Recht­sex­trem­is­mus” (derstandard.at)

Offen bleiben nicht nur die Fra­gen, wie es zu der­ar­ti­gen Abwe­ichun­gen in den Zahle­nangaben kom­men kann und ob nun davon auszuge­hen ist, dass auch die anderen abge­fragten Zahlen zu den recht­sex­tremen Straftat­en nicht stim­men, son­dern auch, warum es ein­er NGO wie „Stoppt die Recht­en“ über­lassen bleibt, das vorgelegte Zahlen­ma­te­r­i­al über­haupt ein­mal abzu­gle­ichen und zu analysieren. Neham­mer, damals noch Innen­min­is­ter, sprach Ende 2020 bezüglich der recht­sex­tremen Szene noch von einem „Pul­ver­fass“, und nun stellt sich her­aus, dass das Innen­min­is­teri­um genau bezüglich dieser Szene keinen ser­iösen Überblick darüber zu haben scheint, was sich wirk­lich tut. Das wäre tat­säch­lich ein brandge­fährlich­es Pulverfass!

P.S.: Wert­er Herr Innen­min­is­ter, eine Tat nach dem Ver­bots­ge­setz ist kein „Verge­hen“, wie Sie es in Ihren Anfrage­beant­wor­tun­gen beze­ich­nen, son­dern ein „Ver­brechen“.

Im Strafrecht wer­den die straf­baren Hand­lun­gen unterteilt in Ver­brechen und Verge­hen. Die Kat­e­gorisierung erfol­gt dabei nach der Höhe des geset­zlich fest­gelegten Strafrah­mens der Tat. Ver­brechen sind vorsät­zliche Hand­lun­gen, die mit lebenslanger oder mit mehr als drei­jähriger Frei­heitsstrafe bedro­ht sind. Alle anderen straf­baren Hand­lun­gen sind Verge­hen, d.h. alle Hand­lun­gen, die mit ein­er Frei­heitsstrafe bis zu drei Jahren bedro­ht sind. (oesterreich.gv.at)

* Dieselbe Zahl nan­nte Min­is­terin Zadić auch in ein­er Pressekon­ferenz im Novem­ber 2022.

➡️ Der Stan­dard: Ver­wirrung um recht­sex­treme Fallzahlen