Demoabo
Kurioserweise liefen die ersten 60 Spaziergänge, also über ein Jahr, ohne eine an sich verpflichtende Versammlungsanmeldung. Polizeischutz gab’s dennoch. Die Steyrer Polizei sieht sich immer wieder mit der Kritik konfrontiert, die Spaziergänger*innen mit Samthandschuhen anzufassen, obwohl im Jänner 2022 ein Demonstrant gleich drei Polizisten mit Faustschlägen verletzt hatte. Für diese These spricht auch das Steyrer „Demoabo“, eine Genehmigung der Aufmärsche bis Ende 2025, die zweifellos eine Besonderheit darstellt.
Bei den sonntäglichen Demos sind immer wieder QAnon-Flaggen, Staatsverweigerer Symbolik mit umgedrehtem Bundesadler, Reichs- und Russlandflaggen und viele antisemitische Verschwörungselemente auf Plakaten, Stickern und Social Media-Postings zu finden. Ob Insekten als Nahrung, Transgender, Asyl, Teuerung, Krieg, Great Reset und Unterstützung für Putin – kein Thema scheut man bei den Ansprachen zu Beginn und am Ende des Spaziergangs. Eines der „safety words“ der kürzlich zur Seite getretenen Initiatorin dieser Veranstaltungen, Sabine Brandner, könnte als subtiler Appell des Unterbewusstseins verstanden werden: „Ganz ehrlich!“

Brander verdient ihre Brötchen nämlich schon seit längerem mit Wahrsagen, Runen- und Kartenlegen und neuerdings mit Vorträgen über Gesundheit und „Missbrauch“, wobei selbst teure Butter im Supermarkt als solcher bezeichnet wird. Nebenbei managt sie den Heimunterricht ihrer Kinder, die meistens bei den Spaziergängen dabei waren und auch mit Spendenkörbchen gesehen wurden – ein Familienbetrieb! Bei weit über hundert Spaziergängen war sie die Gallionsfigur, die vor und nach jedem Marsch zum „aufgewachten Volk“ sprach.

Die Anfänge
Als die Spaziergänge begannen, war die Pandemie noch kein Jahr alt, und die Maßnahmen waren relativ neu. Wer marschierte da plötzlich durch Steyr? Eine Querfront aus anthroposophisch Angehauchten, waldschratigen Althippies, aber auch Burschenschafter und latent empörte FPÖ-Anhänger*innen, einige Staatsverweigerer und ganz viel Grauzone drumherum. Es war ein zunächst langsam wachsendes Grüppchen.
Vielen Menschen vorher unbekannte rechtsextreme Trollfabriken wie der Wochenblick, Info-Direkt, ab 2021 auch report24 und Auf1 bekamen mehr Reichweite und konnten neue Follower aus der Mitte der Gesellschaft erreichen. Auch der regionale Fernsehsender aus Steyr, RTV Privatfernsehen, entpuppte sich plötzlich als aufstrebender rechtsextremer Propagandasender, der im Spiel der anderen schwurbelnden Medienmacher Oberösterreichs freudig empfangen wurde und seit Corona fast nur noch mit kruden Theorien und absurder Berichtserstattung aufwartet. Die Reichweite wurde mit gegenseitigen Interviews erhöht. Oberösterreich ist auch in dieser Hinsicht ein Industriebundesland. Diese spezielle Situation in Oberösterreich hat zweifellos dazu beigetragen, dass sich gerade Steyr als Hotspot und Symbol für die Protestszene etablieren konnte, wohl aber auch die Kulisse der Stadt, die nicht nur von den „Spaziergänger*innen“ geschätzt wird.

Bei den als „Spaziergänge“ getarnten rechten Demonstrationen nahmen nach und nach immer mehr Menschen aus teils weit entfernten Gegenden teil: vom oberösterreichischen Ennstal, dem Mostviertel, aus Linz-Land und selbst aus Wien reisen die Sonntagsspaziergänger*innen an, einmal mehr, einmal weniger. Zur Blütezeit wurde über mehrere Tausend Teilnehmer*innen berichtet, und tatsächlich dürften 5000–6000 Leute an den besten Sonntagen lautstark durch Steyr gewandert sein. Die Steyrer Bevölkerung, aber auch die Politik standen dem zunächst ratlos gegenüber – und auch manch Wiener Demoorganisator mag sich gefragt haben, warum phasenweise ausgerechnet in Steyr weitaus mehr Menschen mobilisiert wurden als in einer Millionenstadt.
Mit Trommeln und Trompete
Die Trommlergruppe hat bei den Steyrer Demos intern Kultstatus erlangt. Das liegt allerdings nicht an der rhythmischen Glanzleistung, sondern an der Tatsache, dass deren Lautstärke der Bevölkerung am meisten zusetzt – neben all den inhaltlichen Wahnsinnigkeiten und Absurditäten, die sonst noch abgelassen werden und nicht zuletzt den schrägen Tönen eines Trompeters aus der Region, der trotz der fast 130 „Spaziergänge“ und ebenso vielen fast zweistündigen Trainingseinheiten kaum hörbaren Fortschritt am Instrument erzielen konnte. Die Freude darüber, lautstark wahrgenommen zu werden, ist ungebrochen.

Kultstatus hat auch der Livestream des mittlerweile szeneweit bekannten Sachsen Bert Walter Ulbrich erreicht, der in Steyr lebt und auf so gut wie jedem Spaziergang das Kamerakind mit Selfiestick in der Hand gibt. Der unter dem Kürzel BWU-TV streamende Sachse taucht aber auch von Wien bis Innsbruck auf und fuhr mit einem anderen „Local Hero” zu einem Vernetzungstreffen an die tschechische Grenze. Sein Gequassel wurde ihm schon mehrmals zum Verhängnis und ebenso diverse Ausflüge auf Demos in Niederösterreich, wo die Polizei – anders als jene aus Steyr – fast jedes Mal Strafen wegen Maskenverstößen verhängte.
Beim BWU-Stream wird gebetsmühlenartig immer wieder (mit unvergleichlichem Zungenschlag) betont, wie verfahren werden würde, wenn man endlich am Ziel sei: „Arbeitslager für Nehammer, Van der Bellen und die ganze Politbagage! Steine klopfen mit einem kleinen Hämmerlein, Tausend Stück am Tag.“ Vor einiger Zeit bekam der „Sachsen-Bertl” eine Einladung vom Verfassungsschutz, weil er Polizisten und Soldaten rekrutieren wollte für – ja, wofür denn eigentlich?

➡️ Teil II: Nazis gesucht und gefunden!
*Zur Kunstfigur „Horst Schlager” ➡️ Fake-Horst taucht in die rechte Welt ein