Antisemitismus nimmt zu

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Die Israe­li­ti­sche Kul­tus­ge­mein­de (IKG) hat in die­sen Tagen ihren Bericht über „Anti­se­mi­ti­sche Vor­fäl­le 2020“ prä­sen­tiert und einen Anstieg der Mel­dun­gen um 6,4 Pro­zent gegen­über dem Vor­jahr doku­men­tiert. Damit ist ein Nega­tiv­re­kord seit Beginn der Doku­men­ta­ti­on von Vor­fäl­len im Jahr 2002 erreicht. 585 Mel­dun­gen waren „um 585 anti­se­mi­ti­sche Vor­fäl­le zu viel“, wie IKG-Prä­si­dent Oskar Deutsch zutref­fend bemerk­te. Dabei sind die­se regis­trier­ten Vor­fäl­le nur die Spit­ze des anti­se­mi­ti­schen Eis­bergs, der – nach wie vor – eher ein brau­ner Sumpf ist.

Ja, es gibt sie auch, die lin­ken anti­se­mi­ti­schen Vor­fäl­le, und sie schmer­zen sehr! Ver­mut­lich haben sie vor­wie­gend im Bereich des israel­be­zo­ge­nen Anti­se­mi­tis­mus statt­ge­fun­den. Ins­ge­samt machen die lin­ken anti­se­mi­ti­schen Vor­fäl­le 2020 an die 15 Pro­zent aus, die mus­li­mi­schen rund 13 Pro­zent, ein Drit­tel der Mel­dun­gen konn­te nicht zuge­ord­net wer­den. Somit blei­ben für den rech­ten und damit domi­nan­ten Anti­se­mi­tis­mus an die 40 Pro­zent der Vorfälle.

Antisemitische Vorfälle 2020 – politische Zuordnung gesamt: 39,15% rechts, 14,87% links, 12,65% muslimisch, 33,33% nicht zuordenbar

Anti­se­mi­ti­sche Vor­fäl­le 2020 – poli­ti­sche Zuord­nung gesamt: 39,15% rechts, 14,87% links, 12,65% mus­li­misch, 33,33% nicht zuordenbar

Politische Zuordnung der antisemit. Vorfälle 2020

Poli­ti­sche Zuord­nung der anti­se­mit. Vor­fäl­le 2020 nach Kategorien

Die Vor­fäl­le ins­ge­samt wer­den im Bericht geglie­dert in 11 phy­si­sche Angrif­fe – gegen­über 2019 (6) eine dras­ti­sche Stei­ge­rung, 22 Bedro­hun­gen, 53 Sach­be­schä­di­gun­gen, 135 Fäl­le von Mas­sen­zu­schrif­ten und 364 Fäl­le von ver­let­zen­dem Ver­hal­ten. Dass die Dun­kel­zif­fer vor allem bei den unter „Mas­sen­zu­schrif­ten“ regis­trier­ten Vor­fäl­len um ein Viel­fa­ches höher ist als die ange­ge­be­ne Zahl von 135, ergibt sich schon aus der Metho­dik: „[O]ft fin­den sich zum Bei­spiel in einem Dis­kus­si­ons­fo­rum oder Social Media-Thread meh­re­re, teils dut­zen­de anti­se­mi­ti­sche Kom­men­ta­re; sie wer­den dann den­noch immer nur als ein Vor­fall gezählt.

Antisemitische Vorfälle 2008-2020

Anti­se­mi­ti­sche Vor­fäl­le 2008–2020

Wer auch immer schon mal einen FB-Thread etwa über Geor­ge Sor­os ver­folgt hat, weiß, dass sich da oft Dut­zen­de anti­se­mi­ti­sche Hass-Kom­men­ta­re gegen­sei­tig zu über­tref­fen ver­su­chen. Aber wie will man etwa die im Jahr 2020 regel­recht explo­dier­ten anti­se­mi­ti­schen Pos­tings in (Corona-)Gruppen und Kanä­len auf Tele­gram, die Öster­reich zuge­ord­net wer­den kön­nen, zäh­len? Oder wie die Mails, die von auf Anti­se­mi­tis­mus, Anti­zio­nis­mus und Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen pro­gram­mier­ten Ein­zel­per­so­nen über das Jahr ver­teilt zu Dut­zen­den, ja Hun­der­ten an brei­te Ver­tei­ler ver­sen­det werden?

Antisemitische Vorfälle 2020 – GB, D, A im Vergleich: relativ zur Bevölkerungszahl mit großem Abstand höchste Anzahl an Meldungen in Österreich

Anti­se­mi­ti­sche Vor­fäl­le 2020 – GB, D, A im Ver­gleich: rela­tiv zur Bevöl­ke­rungs­zahl mit gro­ßem Abstand höchs­te Anzahl an Mel­dun­gen in Österreich

Trotz all die­ser Schwie­rig­kei­ten einer quan­ti­ta­ti­ven und qua­li­ta­ti­ven Ana­ly­se ist der Bericht der IKG ungleich dif­fe­ren­zier­ter und gehalt­vol­ler als etwa der Bericht des Ver­fas­sungs­schut­zes, der den anti­se­mi­ti­schen Vor­fäl­len in sei­nem Bericht für 2019 ins­ge­samt nur einen Anteil von 3,19% oder 30 unter allen rechts­extre­men Tat­hand­lun­gen zumisst und damit der Dimen­si­on anti­se­mi­ti­scher Vor­fäl­le in kei­ner Wei­se gerecht wird.

In der Kate­go­rie der phy­si­schen Angrif­fe wer­den eini­ge Bei­spie­le geschil­dert, wobei wir hier den einen aus dem Novem­ber 2020 des­halb noch ein­mal wie­der­ge­ben, weil er neben der Aggres­si­on auch das absicht­li­che Weg­schau­en sicht­bar macht:

Ein auf­grund sei­ner Beklei­dung als jüdisch erkenn­ba­rer ortho­do­xer Rab­bi­ner war­tet an einer Hal­te­stel­le in Wien-Land­stra­ße auf die Stra­ßen­bahn als eine unbe­kann­te Frau schnel­len Schrit­tes auf ihn zukommt. Sie beginnt ihn zu beschimp­fen und schreit unter ande­rem „Alle Juden muss ich umbrin­gen – mit dir fang ich jetzt an – komm gleich mit zum Fried­hof! Ich muss jetzt alle Juden töten!“. Dabei öff­net sie ihre Tasche und greift nach einem knapp 30 cm lan­gen Mes­ser. Der Rab­bi­ner ergreift dar­auf­hin die Flucht, doch die Angrei­fe­rin folgt ihm und reißt ihm sei­ne Kip­pa vom Kopf; als er die­se auf­he­ben will greift die Frau wie­der nach ihrem Mes­ser, kann es jedoch nicht aus der Tasche zie­hen; also beginnt sie auf den Rab­bi­ner ein­zu­tre­ten, unter ande­rem gegen das Schien­bein. Von den rund ein Dut­zend Umste­hen­den eilt kei­ner zur Hil­fe, eini­ge dre­hen sich gar aktiv weg; der Betrof­fe­ne ret­tet sich in eine Stra­ßen­bahn und ent­kommt so der Angrei­fe­rin. Anzei­ge wur­de erstattet.

Der Bericht zu den anti­se­mi­ti­schen Vor­fäl­len, der 2020 wesent­lich detail­lier­ter und umfang­rei­cher ist als in den Vor­jah­ren, kann Ent­wick­lun­gen auf­zei­gen (hier ist beson­ders das Kapi­tel „Ein Jahr im Zei­chen der Pan­de­mie“ mit den Hin­wei­sen auf Sho­ah-Rela­ti­vie­run­gen und die Opfer-Täter-Umkehr durch die Corona-Leugner*innen erwäh­nens­wert) und Vor­fäl­le doku­men­tie­ren. Die Mel­de­stel­le ist jedoch auf eine akti­ve und sen­si­ble Zivil­ge­sell­schaft ange­wie­sen, die sol­che Vor­fäl­le regis­triert und wei­ter­mel­det. Das sind in ers­ter Linie natür­lich ein­zel­ne auf­merk­sa­me Per­so­nen aus der Bevöl­ke­rung. Es freut uns aber, dass in dem Bericht auch zivil­ge­sell­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen wie FPÖ Fails, Pres­se Ser­vice Wien und Stoppt die Rech­ten für die Koope­ra­ti­on gedankt wird.

Danksagung Antisemitsmusbericht 2020: FPÖ Fails, Presseservice Wien, Stoppt die Rechten

Dank­sa­gung Anti­se­mit­smus­be­richt 2020: FPÖ Fails, Pres­se­ser­vice Wien, Stoppt die Rechten

Umge­kehrt ist eben­falls der IKG zu dan­ken, dass sie mit der Neu­ein­rich­tung der Anti­se­mi­tis­mus-Mel­de­stel­le und deren Prä­senz in Sozia­len Medi­en Vor­fäl­le nicht nur publik macht, son­dern zugleich ein unkom­pli­zier­tes Mel­de­sys­tem geschaf­fen hat. Auch dar­an könn­te sich der Staat ein Bei­spiel nehmen.

Die Reak­tio­nen auf media­le Mel­dun­gen zum Bericht bele­gen, was auf­ge­zeigt wird: anti­se­mi­ti­sche Reflexe.

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