Ja, es gibt sie auch, die linken antisemitischen Vorfälle, und sie schmerzen sehr! Vermutlich haben sie vorwiegend im Bereich des israelbezogenen Antisemitismus stattgefunden. Insgesamt machen die linken antisemitischen Vorfälle 2020 an die 15 Prozent aus, die muslimischen rund 13 Prozent, ein Drittel der Meldungen konnte nicht zugeordnet werden. Somit bleiben für den rechten und damit dominanten Antisemitismus an die 40 Prozent der Vorfälle.
Die Vorfälle insgesamt werden im Bericht gegliedert in 11 physische Angriffe – gegenüber 2019 (6) eine drastische Steigerung, 22 Bedrohungen, 53 Sachbeschädigungen, 135 Fälle von Massenzuschriften und 364 Fälle von verletzendem Verhalten. Dass die Dunkelziffer vor allem bei den unter „Massenzuschriften“ registrierten Vorfällen um ein Vielfaches höher ist als die angegebene Zahl von 135, ergibt sich schon aus der Methodik: „[O]ft finden sich zum Beispiel in einem Diskussionsforum oder Social Media-Thread mehrere, teils dutzende antisemitische Kommentare; sie werden dann dennoch immer nur als ein Vorfall gezählt.“
Wer auch immer schon mal einen FB-Thread etwa über George Soros verfolgt hat, weiß, dass sich da oft Dutzende antisemitische Hass-Kommentare gegenseitig zu übertreffen versuchen. Aber wie will man etwa die im Jahr 2020 regelrecht explodierten antisemitischen Postings in (Corona-)Gruppen und Kanälen auf Telegram, die Österreich zugeordnet werden können, zählen? Oder wie die Mails, die von auf Antisemitismus, Antizionismus und Verschwörungserzählungen programmierten Einzelpersonen über das Jahr verteilt zu Dutzenden, ja Hunderten an breite Verteiler versendet werden?
Trotz all dieser Schwierigkeiten einer quantitativen und qualitativen Analyse ist der Bericht der IKG ungleich differenzierter und gehaltvoller als etwa der Bericht des Verfassungsschutzes, der den antisemitischen Vorfällen in seinem Bericht für 2019 insgesamt nur einen Anteil von 3,19% oder 30 unter allen rechtsextremen Tathandlungen zumisst und damit der Dimension antisemitischer Vorfälle in keiner Weise gerecht wird.
In der Kategorie der physischen Angriffe werden einige Beispiele geschildert, wobei wir hier den einen aus dem November 2020 deshalb noch einmal wiedergeben, weil er neben der Aggression auch das absichtliche Wegschauen sichtbar macht:
Ein aufgrund seiner Bekleidung als jüdisch erkennbarer orthodoxer Rabbiner wartet an einer Haltestelle in Wien-Landstraße auf die Straßenbahn als eine unbekannte Frau schnellen Schrittes auf ihn zukommt. Sie beginnt ihn zu beschimpfen und schreit unter anderem „Alle Juden muss ich umbringen – mit dir fang ich jetzt an – komm gleich mit zum Friedhof! Ich muss jetzt alle Juden töten!“. Dabei öffnet sie ihre Tasche und greift nach einem knapp 30 cm langen Messer. Der Rabbiner ergreift daraufhin die Flucht, doch die Angreiferin folgt ihm und reißt ihm seine Kippa vom Kopf; als er diese aufheben will greift die Frau wieder nach ihrem Messer, kann es jedoch nicht aus der Tasche ziehen; also beginnt sie auf den Rabbiner einzutreten, unter anderem gegen das Schienbein. Von den rund ein Dutzend Umstehenden eilt keiner zur Hilfe, einige drehen sich gar aktiv weg; der Betroffene rettet sich in eine Straßenbahn und entkommt so der Angreiferin. Anzeige wurde erstattet.
Der Bericht zu den antisemitischen Vorfällen, der 2020 wesentlich detaillierter und umfangreicher ist als in den Vorjahren, kann Entwicklungen aufzeigen (hier ist besonders das Kapitel „Ein Jahr im Zeichen der Pandemie“ mit den Hinweisen auf Shoah-Relativierungen und die Opfer-Täter-Umkehr durch die Corona-Leugner*innen erwähnenswert) und Vorfälle dokumentieren. Die Meldestelle ist jedoch auf eine aktive und sensible Zivilgesellschaft angewiesen, die solche Vorfälle registriert und weitermeldet. Das sind in erster Linie natürlich einzelne aufmerksame Personen aus der Bevölkerung. Es freut uns aber, dass in dem Bericht auch zivilgesellschaftlichen Institutionen wie FPÖ Fails, Presse Service Wien und Stoppt die Rechten für die Kooperation gedankt wird.
Umgekehrt ist ebenfalls der IKG zu danken, dass sie mit der Neueinrichtung der Antisemitismus-Meldestelle und deren Präsenz in Sozialen Medien Vorfälle nicht nur publik macht, sondern zugleich ein unkompliziertes Meldesystem geschaffen hat. Auch daran könnte sich der Staat ein Beispiel nehmen.
Die Reaktionen auf mediale Meldungen zum Bericht belegen, was aufgezeigt wird: antisemitische Reflexe.
Eine limitierte Auswahl einschlägiger Reaktionen auf die Berichterstattung zur Präsentation des Jahresberichts der Antisemitismus-Meldestelle (https://t.co/JAKt3t53DW)https://t.co/t3kAvJW4AF
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