Die extreme Rechte ist, um massentauglich zu werden bzw. zu bleiben, darauf angewiesen, ihre Ideologeme, Slogans und Zielvorstellungen im bürgerlichen Konservatismus, also der sogenannten „Mitte“ der Gesellschaft nachhaltig zu verankern. Um dies zu erreichen, bedarf es Scharnier- bzw. Brückenpositionen, die dazu in der Lage sind, extrem rechte Inhalte relativ unverdächtig mit etablierten Normdiskursen zu vermitteln und so im medialen, politischen und kulturellen Mainstream zu verankern.
Um ein wichtiges Beispiel zu nennen: Einer der größten diskursiven Coups hinsichtlich einer Verschiebung im Rand-Mitte-Kontinuum nach rechts war der Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ (2010) von dem deutschen Sozialdemokraten Thilo Sarrazin. Laut dem Historiker Volker Weiß habe in Sarrazins Buch eine „latente bürgerliche Krisenstimmung ihren Ausdruck [gefunden]. Themen und Begriffe, die bislang in der äußersten Rechten zirkulierten, erreichten die ganze Gesellschaft“ (Weiß 2017, S. 10).
Positionen und Personen, die nicht aus einschlägigen Szenen kommen, aber unter einem bürgerlich-konservativen Deckmantel rechte Inhalte verbreiten, sind unerlässlich für den politischen und „metapolitischen“ Erfolg der extremen Rechten. Dieser Erfolg lässt sich allerdings nicht mit „Verführung“ oder Täuschung der Massen erklären, sondern er resultiert daraus, dass die Zuspitzungen am rechtsextremen „Rand“ bereits latent in der „Mitte“ angelegt sind und im Rahmen von autoritärer Krisenbewältigung erstarken. Dieses Kontinuum mit seinen fließenden Übergängen und Schwellen muss ein kritischer Rechtsextremismusbegriff fassen können.
Rechtsextremismus als „extreme Spielart des Konservativen“
Der Klagenfurter Historiker Willibald Holzer bestimmte Rechtsextremismus in seiner grundlegenden Definition, die auch das Dokumentationsarchiv des öst. Widerstandes (DÖW) verwendet und weiterentwickelt, als ein „Syndromphänomen“, das insbesondere hinsichtlich „ideengeschichtlicher Entwicklungslinien und sozioökonomischer Funktionsspezifika (…) als extreme Spielart des Konservativen“ (Holzer 1994, S. 17) erscheint. Holzer versuchte damit, die ideologischen Kontinuitäten und Schnittmengen zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus theoretisch zu fassen. Dieses Verständnis weiterentwickelnd hat der DÖW-Mitarbeiter Heribert Schiedel (1) Rechtsextremismus als „militante Steigerungsform der zentralen Werte und Ideologien spätbürgerlicher Gesellschaften“ (Schiedel 2007, S. 24) bezeichnet und sein Kollege Bernhard Weidinger spricht im ersten Band der wichtigen FIPU-Buchreihe (2) von Rechtsextremismus als „Übertreibung bürgerlicher Normalität“ (Weidinger 2014, S. 80).
Alle diese Formulierungen zielen darauf ab, begrifflich zu fassen, dass extrem rechte Ideologeme – etwa Antisemitismus, Rassismus, Männlichkeitskult, Volksgemeinschaftsdenken – bereits in der bürgerlichen Normalität angelegt sein müssen, bevor sie durch entsprechende Akteur*innen mobilisiert werden können.
Die wichtigste Weiterentwicklung dieses Verständnisses besteht in dem Einbezug einer geschlechterkritischen Perspektive, die u.a. die FIPU-Wissenschaftlerin Judith Goetz (2014/2019) vollzogen hat. Denn Antifeminismus bzw. „Antigenderismus“ (als bewusste Feindmarkierung) zählt zu den gegenwärtig ganz zentralen Scharnieren einer spektrenübergreifenden Mobilisierung, insofern die Feindmarkierung Gender in konservativen und auch liberalen Milieus sehr erfolgreich verfängt. Zudem bietet Antifeminismus die Möglichkeit einer „Re-Artikulation unverstellt völkischen Denkens“ (Goetz/Mayer 2019, S. 217), die oft im Rahmen eines Verschwörungsnarrativs artikuliert wird und sich dergestalt auch erfolgversprechend mit Antisemitismus verschränken lässt.
„Rechtsextremismus“ bezeichnet demnach weder eine simple „Pathologie“ noch einen ideologischen Außenpol bürgerlicher Gesellschaften, sondern ein spezifisches, der nationalstaatlich-kapitalistischen Vergesellschaftung immanentes Potenzial zu autoritärer Krisenbewältigung, das sich stets gegen Aufklärung, Demokratisierung und Emanzipation richtet.
Radikalisierter Konservatismus & rohe Bürgerlichkeit
Eine vielbeachtete Aktualisierung bezüglich der Wesensverwandtschaft von Konservatismus und Rechtsextremismus hat Natascha Strobl mit ihrem Buch „Radikalisierter Konservatismus“ (2021) vorgelegt. Sie bezeichnet damit eine „Transformation bestehender konservativer Großparteien“ (Strobl 2021, S. 30) und bezieht sich insbesondere auf die rechtspopulistische Wende der ÖVP unter Kurz, sowie jene der US-Republikaner*innen unter Trump. Strobl geht mit einem historischen Blick auf die Weimarer Republik davon aus, dass in krisenhaften Zeiten „in konservativen Kreisen Faschisierungsdynamiken inner- und außerhalb des Parlaments“ (ebd., S. 143) entstehen würden. Ihr zufolge entsteht radikalisierter Konservatismus dann, wenn die entsprechenden Akteur*innen „angetrieben von der Dynamik der rohen Bürgerlichkeit, eine Bewegung hin zum Rechtsextremismus vollziehen“ (ebd., S. 30). Damit bezieht sie sich auf ein weiteres wichtiges Konzept, das den Schwellenbereich zwischen konservativer Norm und rechtem Rand anvisiert:
„Rohe Bürgerlichkeit“ bezeichnet dem Soziologen Wilhelm Heitmeyer zufolge „die Tatsache, dass unter einer dünnen Schicht zivilisiert-vornehmer (,bürgerlicher‘) Umgangsformen autoritäre Haltungen verborgen sind, die immer deutlicher sichtbar werden, meist in Form einer rabiater werdenden Rhetorik“ (Heitmeyer 2018, S. 310). Diese Haltungen legitimieren ihre Verachtung schwacher und marginalisierter Gruppen im Rahmen einer sozialdarwinistischen Logik, die gesellschaftliche Verhältnisse auf Konkurrenz und Eigenverantwortung reduziert. Zentral dabei ist die Rückversicherung der eigenen Überlegenheit als „Leistungsträger“.
Das Konzept der „Rohen Bürgerlichkeit“ hat durch das Ende September 2023 veröffentlichte Skandalvideo, das Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) dabei zeigt, wie er Armut verspottet und armen Familien McDonalds-Burger empfiehlt, verstärkt öffentliche Resonanz erfahren.
Insbesondere vor dem Hintergrund des anhaltenden Rechtstrends konservativer Parteien, gehört es zu den zentralen Aufgaben antifaschistischer Arbeit, die vielgestaltigen Übergänge von konservativ zu rechtsextrem analytisch in den Blick zu nehmen. Darauf werden wir uns im Rahmen der kommenden Artikelreihe „Rechts-Schaniere“ fokussieren.
Fußnoten
1 Hinter dem Pseudonym Heribert Schiedel steht der DÖW-Mitarbeiter Andreas Peham.
2 Die Rechtsextremismus-Buchreihe der „Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit“ (FIPU) hat seit 2014 vier Bände mit unterschiedlichen Schwerpunkten zum Thema herausgebracht, die im Mandelbaumverlag erschienen sind. Gemeinsam mit den Publikationen des DÖW stellen diese Bücher die wichtigsten wissenschaftlichen Beiträge zu aktuellen Entwicklungen im öst. Rechtsextremismus dar.
Literatur
Goetz, Judith (2014): (Re-)Naturalisierungen der Geschlechterordnung. Anmerkungen zur Geschlechterblindheit der (österreichischen) Rechtsextremismusforschung. In: FIPU (Hg.): Rechtsextremismus. Entwicklungen und Analysen – Band 1. Wien: Mandelbaum, S.
Goetz, Judith/Mayer, Stefanie (2019): Mit Gott und Natur gegen geschlechterpolitischen Wandel. Ideologie und Rhetoriken des rechten Antifeminismus. In: FIPU (Hg.): Rechtsextremismus. Band 3: Geschlechterreflektierte Perspektiven. Wien: Mandelbaum, S. 205–247
Heitmeyer, Wilhelm (2018): Autoritäre Versuchungen. Berlin: Suhrkamp
Schiedel Heribert (2007): Der rechte Rand. Extremistische Gesinnungen in unserer Gesellschaft, Wien DÖW, S. 8, online als pdf
Holzer, Willibald (1994): Rechtsextremismus. Konturen, Definitionsmerkmale und Erklärungsansätze. In: DÖW (Hg.): Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus. Wien: Deuticke, S. 12–96
Strobl, Natascha (2021): Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse. Berlin: Suhrkamp
Weidinger, Bernhard (2014): Zwischen Kritik und konservativer Agenda. Eine Verteidigung des Rechtsextremismusbegriffs gegen seine Proponent*innen. In: FIPU (Hg.): Rechtsextremismus. Entwicklungen und Analysen – Band 1. Wien: Mandelbaum, S. 69–87