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Rechts-Scharniere

In der kom­men­den Arti­kel­rei­he „Rechts-Schar­­nie­­re“ wird „Stoppt die Rech­ten“ in unre­gel­mä­ßi­gen Abstän­den Posi­tio­nen in Augen­schein neh­men, die den flie­ßen­den Über­gang von kon­ser­va­tiv zu rechts(extrem) bespie­len. Hier vor­ab eine begriff­li­che Ein­ord­nung zum Ver­hält­nis von Kon­ser­va­tis­mus und Rechts­extre­mis­mus. Die extre­me Rech­te ist, um mas­sen­taug­lich zu wer­den bzw. zu blei­ben, dar­auf ange­wie­sen, ihre Ideo­lo­ge­me, Slo­gans und Ziel­vor­stel­lun­gen im […]

12. Okt 2023
Zu den fließenden Übergängen zwischen konservativ und rechts(extrem)

Die extre­me Rech­te ist, um mas­sen­taug­lich zu wer­den bzw. zu blei­ben, dar­auf ange­wie­sen, ihre Ideo­lo­ge­me, Slo­gans und Ziel­vor­stel­lun­gen im bür­ger­li­chen Kon­ser­va­tis­mus, also der soge­nann­ten „Mit­te“ der Gesell­schaft nach­hal­tig zu ver­an­kern. Um dies zu errei­chen, bedarf es Schar­nier- bzw. Brü­cken­po­si­tio­nen, die dazu in der Lage sind, extrem rech­te Inhal­te rela­tiv unver­däch­tig mit eta­blier­ten Norm­dis­kur­sen zu ver­mit­teln und so im media­len, poli­ti­schen und kul­tu­rel­len Main­stream zu verankern.

Um ein wich­ti­ges Bei­spiel zu nen­nen: Einer der größ­ten dis­kur­si­ven Coups hin­sicht­lich einer Ver­schie­bung im Rand-Mit­te-Kon­ti­nu­um nach rechts war der Best­sel­ler „Deutsch­land schafft sich ab“ (2010) von dem deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­ten Thi­lo Sar­ra­zin. Laut dem His­to­ri­ker Vol­ker Weiß habe in Sar­ra­zins Buch eine „laten­te bür­ger­li­che Kri­sen­stim­mung ihren Aus­druck [gefun­den]. The­men und Begrif­fe, die bis­lang in der äußers­ten Rech­ten zir­ku­lier­ten, erreich­ten die gan­ze Gesell­schaft“ (Weiß 2017, S. 10).

Posi­tio­nen und Per­so­nen, die nicht aus ein­schlä­gi­gen Sze­nen kom­men, aber unter einem bür­ger­lich-kon­ser­va­ti­ven Deck­man­tel rech­te Inhal­te ver­brei­ten, sind uner­läss­lich für den poli­ti­schen und „meta­po­li­ti­schen“ Erfolg der extre­men Rech­ten. Die­ser Erfolg lässt sich aller­dings nicht mit „Ver­füh­rung“ oder Täu­schung der Mas­sen erklä­ren, son­dern er resul­tiert dar­aus, dass die Zuspit­zun­gen am rechts­extre­men „Rand“ bereits latent in der „Mit­te“ ange­legt sind und im Rah­men von auto­ri­tä­rer Kri­sen­be­wäl­ti­gung erstar­ken. Die­ses Kon­ti­nu­um mit sei­nen flie­ßen­den Über­gän­gen und Schwel­len muss ein kri­ti­scher Rechts­extre­mis­mus­be­griff fas­sen können.

Rechtsextremismus als „extreme Spielart des Konservativen“

Der Kla­gen­fur­ter His­to­ri­ker Wil­li­bald Hol­zer bestimm­te Rechts­extre­mis­mus in sei­ner grund­le­gen­den Defi­ni­ti­on, die auch das Doku­men­ta­ti­ons­ar­chiv des öst. Wider­stan­des (DÖW) ver­wen­det und wei­ter­ent­wi­ckelt, als ein „Syn­drom­phä­no­men“, das ins­be­son­de­re hin­sicht­lich „ideen­ge­schicht­li­cher Ent­wick­lungs­li­ni­en und sozio­öko­no­mi­scher Funk­ti­ons­spe­zi­fi­ka (…) als extre­me Spiel­art des Kon­ser­va­ti­ven“ (Hol­zer 1994, S. 17) erscheint. Hol­zer ver­such­te damit, die ideo­lo­gi­schen Kon­ti­nui­tä­ten und Schnitt­men­gen zwi­schen Kon­ser­va­tis­mus und Rechts­extre­mis­mus theo­re­tisch zu fas­sen. Die­ses Ver­ständ­nis wei­ter­ent­wi­ckelnd hat der DÖW-Mit­ar­bei­ter Heri­bert Schie­del (1) Rechts­extre­mis­mus als „mili­tan­te Stei­ge­rungs­form der zen­tra­len Wer­te und Ideo­lo­gien spät­bür­ger­li­cher Gesell­schaf­ten“ (Schie­del 2007, S. 24) bezeich­net und sein Kol­le­ge Bern­hard Wei­din­ger spricht im ers­ten Band der wich­ti­gen FIPU-Buch­rei­he (2) von Rechts­extre­mis­mus als „Über­trei­bung bür­ger­li­cher Nor­ma­li­tät“ (Wei­din­ger 2014, S. 80).

Alle die­se For­mu­lie­run­gen zie­len dar­auf ab, begriff­lich zu fas­sen, dass extrem rech­te Ideo­lo­ge­me – etwa Anti­se­mi­tis­mus, Ras­sis­mus, Männ­lich­keits­kult, Volks­ge­mein­schafts­den­ken – bereits in der bür­ger­li­chen Nor­ma­li­tät ange­legt sein müs­sen, bevor sie durch ent­spre­chen­de Akteur*innen mobi­li­siert wer­den können.

Die wich­tigs­te Wei­ter­ent­wick­lung die­ses Ver­ständ­nis­ses besteht in dem Ein­be­zug einer geschlech­ter­kri­ti­schen Per­spek­ti­ve, die u.a. die FIPU-Wis­sen­schaft­le­rin Judith Goetz (2014/2019) voll­zo­gen hat. Denn Anti­fe­mi­nis­mus bzw. „Anti­gen­de­ris­mus“ (als bewuss­te Feind­mar­kie­rung) zählt zu den gegen­wär­tig ganz zen­tra­len Schar­nie­ren einer spek­tren­über­grei­fen­den Mobi­li­sie­rung, inso­fern die Feind­mar­kie­rung Gen­der in kon­ser­va­ti­ven und auch libe­ra­len Milieus sehr erfolg­reich ver­fängt. Zudem bie­tet Anti­fe­mi­nis­mus die Mög­lich­keit einer „Re-Arti­ku­la­ti­on unver­stellt völ­ki­schen Den­kens“ (Goetz/Mayer 2019, S. 217), die oft im Rah­men eines Ver­schwö­rungs­nar­ra­tivs arti­ku­liert wird und sich der­ge­stalt auch erfolg­ver­spre­chend mit Anti­se­mi­tis­mus ver­schrän­ken lässt.

„Rechts­extre­mis­mus“ bezeich­net dem­nach weder eine simp­le „Patho­lo­gie“ noch einen ideo­lo­gi­schen Außen­pol bür­ger­li­cher Gesell­schaf­ten, son­dern ein spe­zi­fi­sches, der natio­nal­staat­lich-kapi­ta­lis­ti­schen Ver­ge­sell­schaf­tung imma­nen­tes Poten­zi­al zu auto­ri­tä­rer Kri­sen­be­wäl­ti­gung, das sich stets gegen Auf­klä­rung, Demo­kra­ti­sie­rung und Eman­zi­pa­ti­on richtet.

Radikalisierter Konservatismus & rohe Bürgerlichkeit

Eine viel­be­ach­te­te Aktua­li­sie­rung bezüg­lich der Wesens­ver­wandt­schaft von Kon­ser­va­tis­mus und Rechts­extre­mis­mus hat Nata­scha Strobl mit ihrem Buch „Radi­ka­li­sier­ter Kon­ser­va­tis­mus“ (2021) vor­ge­legt. Sie bezeich­net damit eine „Trans­for­ma­ti­on bestehen­der kon­ser­va­ti­ver Groß­par­tei­en“ (Strobl 2021, S. 30) und bezieht sich ins­be­son­de­re auf die rechts­po­pu­lis­ti­sche Wen­de der ÖVP unter Kurz, sowie jene der US-Republikaner*innen unter Trump. Strobl geht mit einem his­to­ri­schen Blick auf die Wei­ma­rer Repu­blik davon aus, dass in kri­sen­haf­ten Zei­ten „in kon­ser­va­ti­ven Krei­sen Faschi­sie­rungs­dy­na­mi­ken inner- und außer­halb des Par­la­ments“ (ebd., S. 143) ent­ste­hen wür­den. Ihr zufol­ge ent­steht radi­ka­li­sier­ter Kon­ser­va­tis­mus dann, wenn die ent­spre­chen­den Akteur*innen „ange­trie­ben von der Dyna­mik der rohen Bür­ger­lich­keit, eine Bewe­gung hin zum Rechts­extre­mis­mus voll­zie­hen“ (ebd., S. 30). Damit bezieht sie sich auf ein wei­te­res wich­ti­ges Kon­zept, das den Schwel­len­be­reich zwi­schen kon­ser­va­ti­ver Norm und rech­tem Rand anvisiert:

„Rohe Bür­ger­lich­keit“ bezeich­net dem Sozio­lo­gen Wil­helm Heit­mey­er zufol­ge „die Tat­sa­che, dass unter einer dün­nen Schicht zivi­li­siert-vor­neh­mer (,bür­ger­li­cher‘) Umgangs­for­men auto­ri­tä­re Hal­tun­gen ver­bor­gen sind, die immer deut­li­cher sicht­bar wer­den, meist in Form einer rabia­ter wer­den­den Rhe­to­rik“ (Heit­mey­er 2018, S. 310). Die­se Hal­tun­gen legi­ti­mie­ren ihre Ver­ach­tung schwa­cher und mar­gi­na­li­sier­ter Grup­pen im Rah­men einer sozi­al­dar­wi­nis­ti­schen Logik, die gesell­schaft­li­che Ver­hält­nis­se auf Kon­kur­renz und Eigen­ver­ant­wor­tung redu­ziert. Zen­tral dabei ist die Rück­ver­si­che­rung der eige­nen Über­le­gen­heit als „Leis­tungs­trä­ger“.

Das Kon­zept der „Rohen Bür­ger­lich­keit“ hat durch das Ende Sep­tem­ber 2023 ver­öf­fent­lich­te Skan­dalvideo, das Bun­des­kanz­ler Karl Neham­mer (ÖVP) dabei zeigt, wie er Armut ver­spot­tet und armen Fami­li­en McDo­nalds-Bur­ger emp­fiehlt, ver­stärkt öffent­li­che Reso­nanz erfahren.

Ins­be­son­de­re vor dem Hin­ter­grund des anhal­ten­den Rechts­trends kon­ser­va­ti­ver Par­tei­en, gehört es zu den zen­tra­len Auf­ga­ben anti­fa­schis­ti­scher Arbeit, die viel­ge­stal­ti­gen Über­gän­ge von kon­ser­va­tiv zu rechts­extrem ana­ly­tisch in den Blick zu neh­men. Dar­auf wer­den wir uns im Rah­men der kom­men­den Arti­kel­rei­he „Rechts-Scha­nie­re“ fokussieren.

Fußnoten

1 Hin­ter dem Pseud­onym Heri­bert Schie­del steht der DÖW-Mit­ar­bei­ter Andre­as Peham.
2 Die Rechts­extre­mis­mus-Buch­rei­he der „For­schungs­grup­pe Ideo­lo­gien und Poli­ti­ken der Ungleich­heit“ (FIPU) hat seit 2014 vier Bän­de mit unter­schied­li­chen Schwer­punk­ten zum The­ma her­aus­ge­bracht, die im Man­del­baum­ver­lag erschie­nen sind. Gemein­sam mit den Publi­ka­tio­nen des DÖW stel­len die­se Bücher die wich­tigs­ten wis­sen­schaft­li­chen Bei­trä­ge zu aktu­el­len Ent­wick­lun­gen im öst. Rechts­extre­mis­mus dar.

Literatur

Goetz, Judith (2014): (Re-)Naturalisierungen der Geschlecht­er­ord­nung. Anmer­kun­gen zur Geschlech­terblind­heit der (öster­rei­chi­schen) Rechts­extre­mis­mus­for­schung. In: FIPU (Hg.): Rechts­extre­mis­mus. Ent­wick­lun­gen und Ana­ly­sen – Band 1. Wien: Man­del­baum, S.
Goetz, Judith/Mayer, Ste­fa­nie (2019): Mit Gott und Natur gegen geschlech­ter­po­li­ti­schen Wan­del. Ideo­lo­gie und Rhe­to­ri­ken des rech­ten Anti­fe­mi­nis­mus. In: FIPU (Hg.): Rechts­extre­mis­mus. Band 3: Geschlech­ter­re­flek­tier­te Per­spek­ti­ven. Wien: Man­del­baum, S. 205–247
Heit­mey­er, Wil­helm (2018): Auto­ri­tä­re Ver­su­chun­gen. Ber­lin: Suhrkamp
Schie­del Heri­bert (2007): Der rech­te Rand. Extre­mis­ti­sche Gesin­nun­gen in unse­rer Gesell­schaft, Wien DÖW, S. 8, online als pdf
Hol­zer, Wil­li­bald (1994): Rechts­extre­mis­mus. Kon­tu­ren, Defi­ni­ti­ons­merk­ma­le und Erklä­rungs­an­sät­ze. In: DÖW (Hg.): Hand­buch des öster­rei­chi­schen Rechts­extre­mis­mus. Wien: Deu­ti­cke, S. 12–96
Strobl, Nata­scha (2021): Radi­ka­li­sier­ter Kon­ser­va­tis­mus. Eine Ana­ly­se. Ber­lin: Suhrkamp
Wei­din­ger, Bern­hard (2014): Zwi­schen Kri­tik und kon­ser­va­ti­ver Agen­da. Eine Ver­tei­di­gung des Rechts­extre­mis­mus­be­griffs gegen sei­ne Proponent*innen. In: FIPU (Hg.): Rechts­extre­mis­mus. Ent­wick­lun­gen und Ana­ly­sen – Band 1. Wien: Man­del­baum, S. 69–87