Rechtsextremismus

Was ist Rechtsextremismus, und warum verwenden wir diesen Begriff?

Definitionen

„Stoppt die Rech­ten“ ver­wen­det den Begriff Rechts­extre­mis­mus zur Beschrei­bung bestimm­ter Aus­sa­gen, Ein­stel­lungs­mus­ter, Hand­lun­gen und Organisationsformen.

In der wis­sen­schaft­li­chen Lite­ra­tur las­sen sich inzwi­schen zahl­rei­che, unter­schied­li­che, teil­wei­se auch mit­ein­an­der im Wider­spruch ste­hen­de Defi­ni­tio­nen von Rechts­extre­mis­mus fin­den. „Stoppt die Rech­ten“ erach­tet jene am brauch­bars­ten, die Rechts­extre­mis­mus über die dahin­ter ste­hen­den Ideo­lo­gien, allen vor­an Vor­stel­lun­gen einer ver­meint­lich natür­li­chen Ungleich­heit oder Ungleich­wer­tig­keit der Men­schen defi­nie­ren. Das bedeu­tet, dass ein zen­tra­ler Grund­pfei­ler rechts­extre­men Den­kens die Ableh­nung der Idee ist, dass alle Men­schen gleich sind. Eine sol­che Defi­ni­ti­on nah­men bei­spiels­wei­se elf Sozialwissenschaftler_innen vor, die 2006 von der Fried­rich-Ebert-Stif­tung beauf­tragt wur­den, Rechts­extre­mis­mus zu definieren:

„Der Rechts­extre­mis­mus ist ein Ein­stel­lungs­mus­ter, des­sen ver­bin­den­des Kenn­zei­chen Ungleich­wer­tig­keits­vor­stel­lun­gen dar­stel­len. Die­se äußern sich im poli­ti­schen Bereich in der Affi­ni­tät zu dik­ta­to­ri­schen Regie­rungs­for­men, chau­vi­nis­ti­scher Ein­stel­lun­gen und einer Ver­ham­lo­sung bzw. Recht­fer­ti­gung des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Im sozia­len Bereich sind sie gekenn­zeich­nnet durch anti­se­mi­ti­sche, frem­den­feind­li­che und sozi­al­dar­wi­nis­ti­sche Ein­stel­lun­gen.“ (Fried­rich-Ebert-Stif­tung 2006)

Merkmale

Eine der wohl prä­zi­ses­ten Defi­ni­tio­nen stammt von dem öster­rei­chi­schen Rechts­extre­mis­mus­theo­re­ti­ker Wil­li­bald Hol­zer. Die­se wird u.a. auch vom Doku­men­ta­ti­ons­ar­chiv des Öster­rei­chi­schen Wider­stan­des (DÖW) ver­wen­det. In sei­nem 1993 im „Hand­buch des öster­rei­chi­schen Rechts­extre­mis­mus“ publi­zier­ten Text „Rechts­extre­mis­mus – Kon­tu­ren, Defi­ni­ti­ons­merk­ma­le und Erklä­rungs­an­sät­ze“ beschreibt er das Phä­no­men als ein Sam­mel­be­cken von ein­zel­nen Aus­sa­gen, die sich in ers­ter Linie auf die Natur und Natür­lich­keit beru­fen, um sich so jeg­li­cher Dyna­mik, Ver­än­de­rung und Kri­tik zu ent­zie­hen. Das Prin­zip der Ungleich­heit wird somit über alles gestellt. Auch Andre­as Peham, Mit­ar­bei­ter des DÖW, betont, dass sich in Öster­reich „weit­ge­hend ein Ver­ständ­nis von Rechts­extre­mis­mus durch­ge­setzt [hat], wel­ches die­sen in ers­ter Linie inhalt­lich und als Syn­drom­phä­no­men bestimmt“. In einem von der For­schungs­grup­pe Ideo­lo­gien und Poli­ti­ken der Ungleich­heit (FIPU) vor­ge­leg­ten Sam­mel­band „Rechts­extre­mis­mus — Ent­wick­lun­gen und Ana­ly­sen – Band 1“ (2014, S. 117f) ergänzt und erwei­tert er Holz­ers Defi­ni­ti­on und macht fol­gen­de Kri­te­ri­en fest:

Rechts­extre­mis­mus wird dem­nach begrif­fen als ein gan­zes Bün­del von Merk­ma­len, darunter
— die Behaup­tung natür­li­cher Ungleich­heit: ein bio­lo­gis­tisch, im Rück­griff auf die nicht wei­ter hin­ter­frag­ba­re Instanz Natur argu­men­tie­ren­der Anti­uni­ver­sa­lis­mus und Antie­ga­li­ta­ris­mus, der sich gegen sozia­le Eman­zi­pa­ti­ons­be­stre­bun­gen (u. a. Femi­nis­mus) und die Idee EINER Mensch­heit richtet
— das Den­ken und Han­deln Völ­kern, in natür­li­chen oder orga­ni­schen Gemein­schaf­ten, die mit einer unver­än­der­li­chen Eigen­art (Iden­ti­tät) aus­ge­stat­tet wer­den und dem Indi­vi­du­um als Trä­ger von Rech­ten min­des­tens gleich­ge­stellt, in man­cher Hin­sicht sogar über­ge­ord­net sind (Anti­li­be­ra­lis­mus)
— völ­ki­scher, auf gemein­sa­me Abstam­mung zie­len­der oder inte­gra­ler Natio­na­lis­mus; Volks­ge­mein­schafts­ideo­lo­gie, in wel­chem die (homo­ge­ne) Gemein­schaft gegen die hete­ro­ge­ne Gesell­schaft und oft in Oppo­si­ti­on zu den poli­ti­schen, sozia­len und kul­tu­rel­len Eli­ten gebracht und immer von Frem­den bedroht (zer­setzt) wird
— ein zur „Selbst­über­hö­hung nei­gen­des Wir-Gefühl“ (Hol­zer 1993: 38)
— dau­ern­der Pro­test und auto­ri­tä­re Rebel­li­on gegen das herr­schen­de Sys­tem oder demo­kra­ti­sche Insti­tu­tio­nen (Grund­rechts-/Min­der­hei­ten­schutz, Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bot usw.), gegen die ein angeb­li­cher Mehr­heits­wil­le in Wider­spruch gebracht wird (direk­te oder iden­ti­tä­re Demokratie)
— extre­mes Ticketdenken/Dichotomisierung der Gesell­schaft: star­res Den­ken in fes­ten und ant­ago­nis­ti­schen Grup­pen wie z. B. Wir (unten) und Die (da oben) bzw. Volk und Eli­te, Freund-Feind-Sche­ma­ti­sie­run­gen (Manich­äis­mus)
— rigi­der Geschlech­ter­dua­lis­mus  und Ableh­nung jeder Abwei­chung von einer behaup­te­ten Norm (z. B. Homophobie)
— die Beru­fung auf den All­tags­ver­stand, hier­zu­lan­de oft immer noch als „gesun­des Volks­emp­fin­den“  bezeich­net (Anti­in­tel­lek­tua­lis­mus, Antielitarismus )
— ein Dis­kurs, der weni­ger ratio­na­len Argu­men­te, son­dern vor allem „Begriffs­fe­ti­sche“ (Lenk 1971: 85) und poli­ti­sche Mythen gene­riert (Irra­tio­na­lis­mus)
— Sicher­heits­ver­spre­chen durch die Auf­lö­sung von Ambi­va­lenz (durch Dicho­to­mi­sie­rung) und die Reduk­ti­on von Komplexität
— Sün­den­bock­men­ta­li­tät und Nei­gung zu per­so­na­li­sie­ren­den und ver­schwö­rungs­theo­re­ti­schen (para­no­iden) Welt­erklä­run­gen, in wel­chen man sich ger­ne zum Opfer macht (Täter-Opfer-Umkehr)
— Natio­na­li­sie­ren­de (deutsch­na­tio­na­le) Geschichts­be­trach­tung bis hin zu wei­chen For­men des Revi­sio­nis­mus und der NS-Apologie
— (kul­tu­rel­ler) Ras­sis­mus und (oft codier­ter) Anti­se­mi­tis­mus, ein­ge­bet­tet in einen all­ge­mei­nen Deka­denz-/Ka­ta­stro­phen­dis­kurs, Behaup­tung einer dro­hen­den Zer­set­zung der Eigen­grup­pe und eines per­ma­nen­ten Not­stan­des zur Errei­chung dau­ern­der Mobilisierung
— „tota­li­tä­re Nor­men­ver­ständ­nis­se“ (Heit­mey­er 2002: 503), auto­ri­tä­re Ein­stel­lun­gen und anti­li­be­ra­le (rigi­de) Ord­nungs­vor­stel­lun­gen (star­ker Staat)
— Kult der (phal­li­schen) Stärke/Hypermaskulinismus
— eine spe­zi­fi­sche, von Gewalt­me­ta­phern durch­setz­te, aggres­si­ve Spra­che (vgl. Bott 1969)  und ein bestimm­ter mili­tan­ter, abwer­ten­der Stil in der poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung (Dif­fa­mie­run­gen, Patho­lo­gi­sie­run­gen, Tier­me­ta­phern, Namens­po­le­mi­ken usw.)
— die sys­te­ma­ti­sche Per­so­na­li­sie­rung und Mora­li­sie­rung  des Politischen.

Kritik

Inzwi­schen ist der Begriff auch sehr umstrit­ten, was vor allem damit zu tun hat, dass er den Ein­druck ver­mit­telt, es wür­de sich um ein Phä­no­men han­deln, das nur am äußers­ten gesell­schaft­li­chen Rand anzu­tref­fen wäre. Die­ser Vor­stel­lung spie­len vor allem jenen Extremismustheoriker*innen in die Hän­de, die davon aus­ge­hen, die Gesell­schaft funk­tio­nie­re wie ein Huf­ei­sen. Es gäbe eine „neu­tra­le“ Mit­te und zwei extre­mis­ti­sche Rän­der, die sich nicht von­ein­an­der unter­schei­den wür­den. Viel­mehr sind jedoch ras­sis­ti­sche, anti­se­mi­ti­sche, sexis­ti­sche Ein­stel­lun­gen eben­falls in der Mit­te der Gesell­schaft tief ver­an­kert, wenn auch (noch) nicht so aus­ge­prägt wie im Rechts­extre­mis­mus. Hin­zu kommt, dass es einen Unter­schied zwi­schen lin­ken und rech­ten Ideo­lo­gien gibt, was sich allei­ne an den unter­schied­li­chen poli­ti­schen Ziel­set­zun­gen zeigt.

Neonazismus

Im Gegen­satz zum Rechts­extre­mis­mus steht der Neo­na­zis­mus in Öster­reich auf­grund des Ver­bots­ge­set­zes, das (neo)nationalsozialistische Betä­ti­gung, Leug­nung, Ver­harm­lo­sung, Rela­ti­vie­rung der NS-Ver­bre­chen ver­bie­tet, unter Stra­fe. Das Ver­bots­ge­setz und sei­ne gän­gi­ge Anwen­dung soll­ten aber nicht als ein­zi­ger Indi­ka­tor her­an­ge­zo­gen wer­den, um eine ent­spre­chen­de Begriffs­be­stim­mung nicht vom Wil­len der Behör­den abhän­gig zu machen. Trotz flie­ßen­der Gren­zen und Grau­zo­nen kann beim Neo­na­zis­mus von einer extre­me­ren Vari­an­te des Rechts­extre­mis­mus gespro­chen wer­den, die u.a. durch offe­ne Ableh­nung der (libe­ra­len-) Demo­kra­tie, mas­si­ve Gewalt­be­reit­schaft und der posi­ti­ven Bezug­nah­me auf den Natio­nal­so­zia­lis­mus zum Aus­druck kommt.

Rechtsradikalismus

Der Begriff Rechts­ra­di­ka­lis­mus ist zwar umgangs­sprach­lich weit ver­brei­tet, jedoch um eini­ges schwam­mi­ger als der Begriff des Rechts­extre­mis­mus und in der Fach­welt nur mehr wenig gebräuch­lich. Radi­ka­lis­mus lei­tet sich aus dem latei­ni­schen Wort „Radix“ für Wur­zel ab. Als radi­kal wer­den Per­so­nen bezeich­net, die grund­le­gen­de Kri­tik üben, d.h. Pro­ble­me „an der Wur­zel anpa­cken“. Da dies bei Neo­na­zis und Rechts­extre­men nicht der Fall ist, raten wir von einer Ver­wen­dung die­ses Begriffs ab.

Rechtspopulismus

Unter Popu­lis­mus wird im Grun­de genom­men eine poli­ti­sche Stra­te­gie ver­stan­den, die sich vor allem auf den Ein­satz eines bestimm­ten poli­ti­schen Stils und damit ver­bun­de­ner Mit­tel bezieht: ver­meint­lich unpo­li­ti­scher Anti-Intel­lek­tua­lis­mus, Per­so­na­li­sie­rung, Mora­li­sie­rung, Ableh­nung von (Macht-)Eliten und (staat­li­chen) Insti­tu­tio­nen, Insze­nie­rung als die „Stim­me des Vol­kes“ usw.. Meist wird in die­sem Zusam­men­hang eine cha­ris­ma­ti­sche Füh­rungs­per­sön­lich­keit aus­ge­macht, der nach­ge­sagt wird, durch beson­de­re rhe­to­ri­sche Bega­bun­gen die Mas­sen zu „ver­füh­ren“ bzw. zu „ver­zau­bern“. Dadurch wer­den men­schen­feind­li­che Ein­stel­lun­gen, die zum Teil tief in der Gesell­schaft ver­an­kert sind, ver­harm­lost und als „Ver­blen­dung“ abge­tan. Weil sich die­ser Begriff mehr auf die Beschrei­bung der ein­ge­setz­ten Mit­tel als auf die dahin­ter­ste­hen­den Ideo­lo­gien bezieht, ist er wenig geeig­net, um poli­ti­sche Strö­mun­gen zu kategorisieren.

Literaturempfehlungen:

  • Stif­tung DÖW [Hg.] (1993): Hand­buch des öster­rei­chi­schen Rechts­extre­mis­mus, 2. Aufl. Wien: Deu­ti­ke Verlag.
  • For­schungs­grup­pe Ideo­lo­gien und Poli­ti­ken der Ungleich­heit [Hg.in] (2014): Rechts­extre­mis­mus: Ent­wick­lun­gen und Ana­ly­sen – Band 1. Wien: Man­del­baum Verlag.
  • Hol­zer, Wil­li­bald: (1993): Rechts­extre­mis­mus — Kon­tu­ren, Defi­ni­ti­ons­merk­ma­le und Erklä­rungs­an­sät­ze. In: Stif­tung DÖW [Hg.] (1993): Hand­buch des öster­rei­chi­schen Rechts­extre­mis­mus, 2. Aufl. Wien: Deu­ti­ke Ver­lag. S. S. 11–96.
  • Salz­born, Samu­el (2014): Rechts­extre­mis­mus: Erschei­nungs­for­men und Erklä­rungs­an­sät­ze. Baden-Baden: Nomos/UTB Verlag.
  • Stöss, Richard (2007): Rechts­extre­mis­mus im Wan­del. Bonn: Fried­rich-Ebert-Stif­tung. (Link PDF)