Nein, es geht hier nicht um die reale Region Patagonien, im äußersten Süden des amerikanischen Kontinents, sondern um einen Fantasiestaat. Oder präziser: Um die literarische Verarbeitung eines Fantasiestaates. In seinem 1981 erschienenen Roman „Moi, Antoine de Tounens, roi de Patagonie“ schildert der französische Autor Jean Raspail (1925–2020) die – gelinde gesagt – missglückte Privatmission des französischen Provinzanwalts Orélie-Antoine de Tounens (1825–1878). Dieser war im Jahr 1860 nach Patagonien aufgebrochen, um dort ein Königreich zu gründen. Was man im 19. Jahrhundert eben so macht als weißer, reicher Mann aus Europa.
Der katholische Reaktionär und Antidemokrat Raspail hat mit seinem Roman und zudem mit seiner Behauptung, er habe am Grab von De Tounens die Berufung vernommen, das Erbe Patagoniens weiterzuführen, einen kleinen Mythos geschaffen, der seither von literaturbegeisterten Rechten tradiert wird und zu Abenteuerkitsch mit kolonialem Anstrich einlädt.
Wenn „Neurechte“ ihr „inneres Kind“ entdecken
Die „3. Patagonische Nacht“ fand am barocken Wiener Ferdinandihof statt und bot Raspail-Lesungen, Chansons und Kerzenlichtatmosphäre. Michael Scharfmüller, Herausgeber des rechtsextremen Magazins „Info-Direkt“ (1), war mit der Kamera vor Ort und hat einigen der anwesenden Herren in Abendrobe Kurzinterviews (2) abgerungen. Darunter war etwa der „Vizekonsul von Patagonien zu Wien“, der in die Kamera schwärmte, Patagonien sei ein „Ersatz-Vaterland in Zeiten, wo die eigentlichen Vaterländer einem immer weniger Freude bereiten“. Bei dem Mann handelt es sich um Konrad M. Weiß, der in der Realität den „neurechten“ Wiener „Karolinger Verlag“ betreibt und kurzzeitig als Pressesprecher von Ex-Vizekanzler Heinz Christian Strache tätig war. In diese Zeit fällt auch ein Text von ihm, der in Götz Kubitscheks Magazin „Sezession“ (April 2018) erschien und in dem Weiß in seinem deutschnationalen Sermon das NS-Befreiungsjahr 1945 als „Katastrophe“ bezeichnet.
Apropos Kubitschek: Auch er war bei der Patagonien-Feier und sprach ähnlich verträumt in Scharfmüllers Kamera: Mit solchen Romanen habe man „durch fast kindliche Wünsche und Hoffnungen eine Art Welterklärung (…), die kein Sachbuch leisten“ könne. Kubitscheks Wünsche und Hoffnungen verdichten sich bekanntlich in seinem Thinktank „Institut für Staatspolitik“ (IfS), der der wichtigste Vernetzungsort der deutschsprachigen „neurechten“ Szene ist und seit April vom deutschen Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ eingestuft wird.
Auch der „Identitären“-Führer und ideologische Ziehsohn von Kubitschek, Martin S., war da und erklärte im typischen Jargon seiner Kadertruppe, dass es mehr solche „dissidente Salons“ brauche, wo sich „rechte Gegenkultur“ formen könne. Und der hyperreaktionäre deutsche Autor Michael Klonovsky, der an dem Abend auch eigene Texte vorlas, fand es hilfreich, bei Raspail sein „inneres Kind“ zu entdecken.
Auch wenn diese Koketterie mit kolonialen Abenteuern – Kubitschek spricht von „Spieltrieb“ und „Schabernack“ – beim „neurechten“ Kulturabend für rote Bäckchen sorgte, ist es doch ein anderes Werk von Raspail, das seine Bedeutung für die extreme Rechte hauptsächlich begründet. Klonovsky verwies im Interview darauf: Raspail habe mit seinem Roman „Heerlager der Heiligen“ (1973) „unglaublich hellsichtig“ beschrieben, „was später passiert“ sei – er nennt Raspail gar einen „Propheten“.
Der rassistische „Prophet“
Der Roman „Heerlager der Heiligen“ (1973) bildet die direkte Umkehrung des „Patagonien“-Abenteuers: Hier zieht kein weißer Mann hinaus in die Welt, sondern diese Welt kommt zurück zum weißen Mann. Und zwar in Form verelendeter, nicht-weißer Massen aus dem globalen Süden, die, gemäß dem bekannten rechten Narrativ von einem dekadenten Europa ohne soldatischem Selbstbehauptungswillen, einfach in den Kontinent gelassen werden, was letztlich zu dessen Untergang führt. Raspails Dystopie wurde, insbesondere im Gefolge der Fluchtjahres 2015, zum Kultbuch der „Neuen Rechten“. Das wundert nicht, denn es bietet eine Art literarische Blaupause um Geflohene in Invasoren umzudeuten. Zudem fährt es mit einer inzwischen allzu bekannten Sprache auf, die Geflüchtete entlang von Naturkatastrophen-Metaphern zu anonymen Körpern entmenschlicht. Kostprobe:
Mit einem Schlag hatten sich die Decks mit Männern, Frauen, Kindern gefüllt, die seit der Abfahrt in einer Kloake aus Dreck und Scheiße mariniert worden waren; mit einem Schlag kotzten die geöffneten Luken eine Masse ins Sonnenlicht. (…) Wie eine endlose Kaskade aus flüssig gewordenen Körpern. Die Schiffe quollen über wie volle Badewannen. Die Dritte Welt trat über die Ufer, und der Westen diente ihr als Abflusskanal. (Raspail zit. nach spiegel.de, 17.1.18)
Kubitscheks „Antaios“-Verlag brachte das Buch treffsicher im Jahr 2015 neu heraus, in einer neuen Übersetzung von dem Wiener „Identitären“-Ideologen Martin Semlitsch (Künstlername: „Lichtmesz“).
Die Bezugnahme auf Raspails Roman geht allerdings weit über „neurechte“ Sesselkreise mit Intellektualisierungsmission hinaus: Marine Le Pen und Steve Bannon beriefen sich auf das Buch, Michel Houellebecq nannte Raspail als Inspiration für seinen Roman „Unterwerfung“ und sogar Stephen Miller, der ehemalige Immigrationsberater von Ex-US-Präsident und Horrorclown Donald Trump, bezog sich positiv auf den Text.
Die „wahre und gesunde Frau“
Bei der „3. Patagonischen Nacht“ fiel dem interviewenden Aktivisten Scharfmüller trotz des bübischen Abenteuerfiebers auf, dass viele Frauen anwesend seien. Auch Martin S. freute sich darüber und bot eine Erklärung, bei der er neofaschistisches Bildungsdünkel und Sexismus geschickt in einem Satz verschaltete: „Offenbar ziehen genau solche Veranstaltungen, wenns mal nicht um Heidegger, Spengler oder irgendwelche politischen Fragen geht, sondern um Kultur, Musik und eben Chansons (…) auch mehr Frauen an.“ Daran konnte der leicht lallende Gastgeber Ronald F. Schwarzer gut anschließen, indem er den Sexismus um eine Umdrehung nach oben schraubte: „Genau, denn die wahre und gesunde Frau sehnt sich nach dem männlichen Mann.“ Gefragt wurde sie übrigens nicht, die „wahre und gesunde Frau“, denn Scharfmüller interviewte trotz der vielen Damen nur Männer. Rechter Abenteuerkitsch ist eben Männerkitsch.
Fußnoten
1 Das Dokumentationsarchiv des öst. Widerstandes (DÖW) charakterisiert „Info-Direkt“ folgendermaßen:
„Die Zeitschrift kleidet klassisch rechtsextreme Weltanschauung (…) in ein modernes Gewand und lotet insbesondere in Form von omnipräsentem Antisemitismus, Volksgemeinschaftsdünkel, einer teils offen vertretenen antidemokratischen Stoßrichtung und quasi-revolutionärem Impetus die Grenze zum Neonazismus aus, was auch der politischen Vita zentraler Akteure entspricht.“ (doew.at)
2 Alle Zitate von dem Patagonien-Abend stammen von dem Video, das unter dem Titel „Dritte Patagonische Nacht: Ein Fest für konservative Freigeister“ am 17.9.23 auf der Website von „Info-Direkt“ veröffentlich wurde. Zuletzt eingesehen: 21.9.23