Ernst Kirchweger
Einige Tausend Menschen waren am 31. März dem Aufruf der Organisatoren gefolgt und demonstrierten für die Demokratisierung der Universitäten und die Entlassung jenes Hochschulprofessors Borodajkewycz, der zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Jahre die universitäre Öffentlichkeit beschäftigt hatte.
An seiner Hochschule, der für Welthandel (jetzt: Wirtschaftsuniversität), hatte Borodajkewycz eine große Fangemeinde unter den Studierenden. Nicht nur die üblichen Rechtsextremen, sondern auch die offiziellen Funktionäre der Hochschülerschaft waren – unter Berufung auf die Lehr- und Meinungsfreiheit – Unterstützer von Borodajkewycz.
„An der Hochschule für Welthandel wird die demokratische Gesinnung den Studenten unter anderem von Professor Taras Borodajkewycz beigebracht, der unter Schuschnigg Katholikentage organisierte, aber 1938 zum Naziregime überging und der jetzt akademischer Lehrer und Vorbild sein soll.“ („Die Zukunft“ Nr. 4 /1962)
Mit diesen harmlosen Sätzen des damaligen VSStÖ-Funktionärs und jetzigen Bundespräsidenten Heinz Fischer hatte Anfang der 1960er-Jahre eine Auseinandersetzung begonnen, die in den Demonstrationen am 31. März 1965 kulminierte.
Der antifaschistischen Demonstration in der Wiener Innenstadt versuchte sich nämlich die Rechte entgegenzustellen: Ein vorwiegend studentisches Publikum hatte sich vor der Technischen Universität versammelt und brüllte Parolen wie „Hoch Boro“, „Hoch Auschwitz“ „Proleten raus“ und „Juden raus“ – Rufe, an die sich später, rund um die Gerichtsverhandlung – die Teilnehmenden mehr erinnern wollten, die sie auch nicht gehört haben wollten.
Auch an die öffentliche Verbrennung von Zeitungspaketen des „Kurier“ vor der Universität Wien wollte sich später niemand mehr so genau erinnern. Der „Kurier“ unter seinem damaligen Chefredakteur Hugo Portisch hatte schon in den Tagen vor der Demonstration offen gegen den Nazi-Professor Borodajkewycz Partei ergriffen und war deshalb von den rechtsextremen Studierenden als „Judenblatt“ mit einer öffentlichen Verbrennungsaktion „abgestraft“ worden. An der Zeitungsverbrennung soll nach Aussagen eines Prozesszeugen auch Günther Kümel beteiligt gewesen sein.
In der Philharmonikergasse, unmittelbar vor dem Hotel Sacher, traf Günther Kümel, der rechtsextreme Student (24), jedenfalls auf Ernst Kirchweger, den Pensionisten. Kirchweger, der bis 1934 Mitglied der sozialdemokratischen Arbeiterpartei war und dann wie viele andere zur KPÖ übertrat, war während der Zeit des Austrofaschismus und auch in der NS-Zeit im organisierten Widerstand tätig gewesen. Dass er angesichts der offen neonazistischen Ausrichtung und der zahlreichen Provokationen der Gegendemonstration erregt war, ist wohl klar. Dass aber von dem klein gewachsenen (165 cm) und zierlichen Mann keine relevante Bedrohung ausgehen konnte, ebenso.
Bei seinem Kontrahenten, dem Studenten Günther Kümel, war das anders. Kümel hatte sich schon früh, mit 16 Jahren, im neonazistischen Bund Heimattreuer Jugend (BHJ) organisiert und an einschlägigen Aktionen beteiligt: Hakenkreuzschmierereien, Stinkbomben gegen den Maiaufmarsch der SPÖ, Zertrümmerung von Schaukästen. Der BHJ wurde 1961 verboten, aber Kümel setzte seine Aktivitäten im Ring Freiheitlicher Jugend (RFJ) und darüber hinaus in einer Gruppe von Neonazis gemeinsam mit Gerd Honsik fort: im Mai eine Brandbombe gegen die italienische Botschaft, im Juli 61 ein Bombenattentat gegen das Büro der „Alitalia“, im August eines gegen die US-Botschaft, im Oktober Schüsse auf die italienische Botschaft und dann, Ende November 1961, die Schüsse auf das Parlament.
Während Kümels Komplizen wegen NS-Wiederbetätigung verurteilt werden, wird er selbst von dieser Anklage freigesprochen und im Mai 1962 lediglich wegen Übertretung des Waffengesetzes zu zehn Monaten strengen Arrest (bedingt) verurteilt.
Über seine Teilnahme an der rechtsextremen Gegendemonstration des 31. März 1965 verbreitet Kümel, der damals eine der neonazistischen Szenegrößen war, eher beiläufige Versionen. Dem Gericht, das im Oktober 1965 über seine Tat urteilte, erzählte er, dass er „etwas verspätet zu der Demonstration gekommen [sei], um die Demonstranten zu ‚beobachten‘.“ (Neues Österreich, 19.10.1965) Borodajkewycz kannte er zwar aus seiner BHJ-Zeit von einem Vortrag, „er hätte aber nicht die Absicht gehabt, sich einzumischen“ (ebenda).
Dem Historiker Rafael Kropiunigg wiederum tischte er für dessen Buch „Eine österreichische Affäre“ (Wien, Czernin Verlag 2015) eine Version auf, wonach er sich in „letzter Minute“ entschlossen habe, „doch an dem Zug teilzunehmen“. Faktum ist, dass Kümel, der ein Boxtraining hinter sich hatte, vor dem Hotel Sacher Ernst Kirchweger einen heftigen Faustschlag ins Gesicht versetzte, der dazu führte, dass Ernst Kirchweger zu Boden ging und zwei Tage später, am 2. April, an den Folgen seiner Kopfverletzungen starb. Kümel, der vom Tatort geflüchtet war, wurde nach wenigen Tagen ausgeforscht und im Herbst 1965 vor Gericht gestellt.
Ernst Kirchweger war der erste politische Tote der Zweiten Republik – der Täter, ein damals ein szenebekannter Rechtsextremer, der noch immer einschlägig politisch aktiv ist.