Freilich „neurechter“ Antisemitismus

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Das FPÖ-nahe „Aula“-Nachfolgemagazin „Frei­lich“ ver­sucht seit sei­nem Start 2018 nicht mehr holz­ham­mer­mä­ßig anti­se­mi­tisch, son­dern „neu­rechts“ zu klin­gen. Ein ideo­lo­gisch beson­ders gefes­tig­ter Neo­fa­schist zeigt in „Frei­lich”, wie man den alten völ­ki­schen Anti­se­mi­tis­mus in neue Klei­der verpackt.

Mar­vin T. Neu­mann war auf­grund sei­ner ras­sis­ti­schen Äuße­run­gen schnell sogar für die AfD-Jugend (JA) – die dem deut­schen Ver­fas­sungs­schutz seit 2019 als „rechts­extre­mer Ver­dachts­fall“ und seit die­ser Woche als „gesi­chert rechts­extre­mis­tisch“ gilt – zu viel. Als Co-Bun­des­vor­sit­zen­der der JA hielt Neu­mann sich gera­de ein­mal zwei Wochen, dann muss­te er sei­nen Hut neh­men und trat auch gleich aus der Par­tei aus. Das war bereits Anfang Mai 2021. Stein des Ansto­ßes waren etli­che, unver­blümt offen ras­sis­ti­sche und völ­ki­sche Social-Media-Bei­trä­ge, in denen die AfD-inter­ne „Arbeits­ge­mein­schaft Ver­fas­sungs­schutz“ damals die Gefahr sah, das Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz könn­te sie zum Anlass neh­men, die JA zur „erwie­sen extre­mis­ti­schen Bestre­bung“ hoch­zu­stu­fen. Tat­säch­lich wei­sen Neu­manns Äuße­run­gen ihn als beson­ders ver­roh­ten neo­fa­schis­ti­schen Kul­tur­kämp­fer (1) aus.

Für das FPÖ-nahe Maga­zin „Frei­lich“, das sich zu einem öster­rei­chi­schen Zen­trum der „neu­rech­ten“ Agi­ta­ti­on ent­wi­ckelt hat (2), darf er trotz­dem wei­ter­hin schrei­ben (zuletzt in der aktu­el­len Aus­ga­be, Heft Nr. 20). Und nicht nur das: Es wird dort auch über ihn geschrie­ben, und er wird sogar zum Inter­view gela­den. War­um denn das?

Gegen die „For­mel der wan­dern­den Kin­der Isra­els

Dann und wann gibt es klei­ne Hypes im „neu­rech­ten“ Ses­sel­kreis. Und es hat den Anschein, als hät­te Neu­manns Text „,Woke­ness‘ als Neo­ame­ri­ka­nis­mus“, erschie­nen letz­ten Herbst als Blog­bei­trag beim neo­fa­schis­ti­schen „Jungeuropa“-Verlag, einen sol­chen aus­ge­löst. Zumin­dest sieht das „Freilich“-Magazin das so, wo es in einer Rezen­si­on von Neu­manns Text (3) heißt, er ver­su­che „den Ursprung der heu­ti­gen Pro­ble­me in einen ideen­ge­schicht­li­chen Rah­men zu brin­gen“. Die­se heu­ti­gen Pro­ble­me fasst Neu­mann mit dem Con­tai­ner­be­griff „Woke“, der natür­lich alles ent­hält, was dem rechts­extre­men Kul­tur­kämp­fer nicht passt. Soweit, so bekannt.

Neu­mann will nun aber erklä­ren, wie es zu die­sem „Tota­li­ta­ris­mus“ kom­men konn­te. Dazu geht er zurück ins 18. Jahr­hun­dert und fin­det das Pro­blem bereits bei den US-Grün­der­vä­tern, die z.T. der heu­ti­gen „Woke­ness“ schon sehr nahe­ge­stan­den sei­en mit „ihrem Ega­li­ta­ris­mus, Huma­nis­mus und der Insti­tu­ti­ons­kri­tik“. Durch die­se radi­ka­len Libe­ra­len sei es in den ent­ste­hen­den USA nicht zu einer Ver­fes­ti­gung „eth­nisch-natio­na­ler Ele­men­te“ gekom­men, son­dern man leg­te „die Grund­stei­ne für die Auf­lö­sung der Gesell­schaft. Neu­mann nennt die­sen Vor­gang das ‚Gegen­teil her­kömm­li­cher natio­na­ler Eth­no­ge­nese‘“.

Und Neu­mann kennt auch die wahr­haft Schul­di­gen an der ver­sem­mel­ten „Eth­no­ge­nese“, was „Frei­lich“ wohl­mei­nend so paraphrasiert:

Die geis­ti­ge Vor­leis­tung für die spä­te­re Selbst­auf­lö­sung leis­te­ten anti­zio­nis­ti­sche Juden wie Felix Adler oder Isra­el Zang­will. Sie pro­kla­mier­ten ein Ende des poli­ti­schen Juden­tums in einer mono­the­is­ti­schen Welt­ge­mein­schaft. Die­se Ideen grif­fen wie­der­um eng­li­sche Pro­tes­tan­ten an den Uni­ver­si­tä­ten auf und über­tru­gen sie auf das Christentum.

Also kurz­um: Juden hät­ten den zer­set­zen­den Libe­ra­lis­mus in die USA gebracht, der die Chan­cen auf einen völ­ki­schen Staat ver­nich­tet hat. Im Ori­gi­nal­text (4) klingt der Anti­se­mit u.a. so: „Der mora­li­sie­ren­de Mythos der Ame­ri­ka­ner liegt also nicht pri­mär in einer angel­säch­si­schen Ahnen­fi­gur, wie es für euro­päi­sche Natio­nen üblich ist, son­dern in der uni­ver­sel­len For­mel der wan­dern­den Kin­der Isra­els.

Marvin T. Neumann im "Jungeuropa"-Podcast mit dem Foto einer jüdischen Gruppe auf einer Pride-Parade als Teaserbild

Mar­vin T. Neu­mann im „Jungeuropa”-Podcast mit dem Foto einer jüdi­schen Grup­pe auf einer Pri­de-Para­de als Teaserbild

Die Ver­bin­dung des Juden­tums mit dem ver­hass­ten Uni­ver­sa­lis­mus ist ein anti­se­mi­ti­scher Klas­si­ker. Denn Juden und Jüdin­nen wer­den als hei­mat­los und wan­dernd ima­gi­niert, was dem völ­ki­schen Ver­ständ­nis von Gemein­schaft qua Abstam­mung (Stich­wort „Eth­no­ge­nese“) nicht nur wider­spricht, son­dern als para­si­tä­res – und mäch­ti­ges – Gegen­prin­zip gilt.

Neu­mann erzählt exakt die­se Geschich­te einer schlei­chen­den Unter­wan­de­rung durch ein jüdi­sches Prin­zip, nur eben in einem hoch­ge­sto­che­nen Jar­gon, der eine his­to­ri­sche Ana­ly­se nach­ahmt. Er mar­kiert dabei das libe­ra­le (vul­go: zer­set­zen­de) Prin­zip der US-ame­ri­ka­ni­schen Staats­kon­zep­ti­on als jüdisch und behaup­tet dann, dass eben die­ses Prin­zip heu­te die Völ­ker Euro­pas in ihrer Exis­tenz bedro­he – denn das „aus­ge­wei­te­te Sys­tem der libe­ra­len Demo­kra­tien“ wen­de sich „heut­zu­ta­ge gegen die Nor­men der ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung und letzt­end­lich gegen die Exis­tenz die­ser selbst“.

Mit einer wei­te­ren For­mu­lie­rung, die „Frei­lich“ wohl­wol­lend in vol­ler Län­ge zitiert, schwur­belt Neu­mann sich noch ein Stück wei­ter in den Nah­be­reich einer offen NS-affir­ma­ti­ven Agi­ta­ti­on, die man sonst nur von Neo­na­zis kennt:

Der Grad an assi­mi­lier­ten Migran­ten und die Abnah­me anti­se­mi­ti­scher Hal­tun­gen wur­den nach dem Krieg als Zeug­nis für die Über­win­dung des angeb­lich im Natio­nal­so­zia­lis­mus kul­mi­nier­ten wei­ßen Ras­sis­mus ange­se­hen. Je weni­ger ang­lo-euro­päi­sche Ame­ri­ka­ner sich ihrer Eth­nie bewusst waren und je mehr nicht wei­ße Migran­ten sozia­len Auf­stieg fan­den, des­to grö­ßer erschien die Distanz der US-Gesell­schaft gegen­über dem euro­päi­schen Sün­den­fall des Faschismus.

„Frei­lich“ freut sich ins­ge­samt über die neo­fa­schis­ti­sche Ent­hem­mung in Intel­lek­tu­el­len-Jar­gon und ver­bleibt mit Lob: „Der soge­nann­te ‚Regen­bo­gen­im­pe­ria­lis­mus‘ der USA, den Neu­mann als ‚Woke­ness‘ bezeich­net, erhält in des­sen Tex­ten ein schar­fes Profi.l

Deut­scher Grö­ßen­wahn in „neu­rech­tem“ Sound

Die „Freilich“-Redaktion dürf­te so fas­zi­niert von den Ergüs­sen ihres Autors gewe­sen sein, dass sie ihn kurz dar­auf zum Inter­view bat (5). Über­ti­telt ist die­ses mit einem Zitat, das Neu­manns völ­ki­schen Grö­ßen­wahn gut kennt­lich macht: „Am Schick­sal der Deut­schen ent­schei­det sich die Zukunft Euro­pas.“ Schick­sal­s­pa­thos ist gleich­blei­bend beliebt im Boy­sclub der extre­men Rech­ten – von „neu­rechts“ bis neo­na­zis­tisch. Und Neu­mann schielt zum Letz­te­ren, wenn er den Unter­gang des NS mit dem Nie­der­gang sei­nes eige­nen Milieus gleich­setzt: „Die Nie­der­la­ge des Deut­schen Rei­ches war letzt­end­lich die Nie­der­la­ge aller rech­ten und natio­nal­kon­ser­va­ti­ven Kräf­te des Wes­tens, selbst in den Sie­ger­na­tio­nen – die­se Erkennt­nis erlang­ten vie­le US-Patrio­ten erst viel zu spät.

Interview mit Marvin T. Neumann in "Freilich", Jänner 2023. Daneben Werbeeinschaltungen der FPÖ, der Burschenschaft Olympia und der AfD Bayern

Inter­view mit Mar­vin T. Neu­mann in „Frei­lich”, Jän­ner 2023. Dane­ben Wer­be­ein­schal­tun­gen der FPÖ, der Bur­schen­schaft Olym­pia und der AfD Bayern

Neu­mann sieht sich in einem Abwehr­kampf gegen einen „links­li­be­ral-volks­feind­li­chen Kurs des Wes­tens“, gegen eine „aus den USA impor­tier­ten wei­ßen­feind­lich-anti­eu­ro­päi­sche Dok­trin“ und auch gegen eine „auf Hoch­tou­ren betrie­be­ne Geschichts­klit­te­rung“ – um nur ein paar Zuspit­zun­gen sei­ner völ­ki­schen Apo­ka­lyp­tik auf­zu­zäh­len. Natür­lich fehlt auch die anti­se­mi­ti­sche Chif­fre vom „Glo­ba­lis­mus“ nicht, etwa hier: „Die Feind­schaft gegen unser Volk ist so offen­sicht­lich, dass eine Schär­fung der natio­na­len Iden­ti­tät erfol­gen muss, ihre Auf­lö­sung wäre der Erfolg der Glo­ba­lis­ten.

Neu­mann führt die­se Feind­schaft gegen das deut­sche Volk immer wie­der auf 1945 zurück. Er hal­lu­zi­niert, dass die „Re-Edu­ca­ti­on“ der West­al­li­ier­ten bis heu­te hin zu einem „glo­ba­lis­tisch-woken Libe­ra­lis­mus“ anhält. Ech­ten „Kon­ser­va­tis­mus“ gibt es laut Neu­mann „im Prin­zip seit 1945 nicht mehr“. Nicht ein­mal die Law-and-Order-Par­tei CDU habe Ein­fluss dar­auf, „wer Gesetz und Ord­nung eigent­lich wirk­lich gestal­tet“, raunt der Anti­se­mit. Wie rechts­extrem Neu­mann ist, lie­ße sich an vie­len wei­te­ren Zita­ten auf­zei­gen (6); beson­ders plas­tisch wird sein Extre­mis­mus, wenn er selbst die ita­lie­ni­sche Neo­fa­schis­tin Melo­ni auf­grund ihrer außen­po­li­ti­schen Posi­ti­on als „trans­at­lan­ti­sche Agen­tin“ bezeich­net.

So deut­lich tönt es nicht all­zu oft aus dem „neu­rech­ten“ Dis­kurs­sumpf, wo die rela­ti­ve Ver­harm­lo­sung der eige­nen Ideo­lo­gie gera­de­zu einen Fetisch bil­det (Stich­wort „Meta­po­li­tik“). Dar­auf ach­tet Neu­mann nun weni­ger. Dafür ist es erfri­schend nach­voll­zieh­bar, wor­auf sei­ne Agi­ta­ti­on tat­säch­lich abzielt. Der „Freilich“-Interviewer schließt mit den Wor­ten: „Herr Neu­mann, vie­len Dank für die deut­li­chen Wor­te.

Fuß­no­ten

1 sie­he dazu den Twit­ter-Thread von BuzzFeed-Autor Robert Wag­ner   
2 2022 wur­de nicht nur die iden­ti­tär-nahe Platt­form „Tages­stim­me” auf­ge­löst und in „Frei­lich” inte­griert, son­dern auch deren Chef­re­dak­teur Ste­fan Juritz zum Chef­re­dak­teur des gesam­ten „Freilich”-Medienprojekts gemacht.
3 „,Woke­ness‘ als Neo­ame­ri­ka­nis­mus: Ex-JA-Chef Neu­mann auf Spu­ren­su­che“, ver­öf­fent­lich auf der Web­site von „Frei­lich“, ein­ge­se­hen am 27.04.2023
4 „,Woke­ness‘ als Neo­ame­ri­ka­nis­mus“, ver­öf­fent­licht auf der Web­site des „Jungeuropa“-Verlag, ein­ge­se­hen am 27.04.2023
5Am Schick­sal der Deut­schen ent­schei­det sich die Zukunft Euro­pas“, Inter­view ver­öf­fent­lich auf der Web­site von „Frei­lich“, ein­ge­se­hen am 27.04.2023
6 Hier noch ein Bei­spiel, das eben­so gut von einem Neo­na­zi stam­men könn­te: Der Impe­ra­tiv der woken Agen­da ist: ‚Nie wie­der Deutsch­land‘. Unser Impe­ra­tiv muss sein: ‚Ewi­ges Deutsch­land‘. Ich bin über­zeugt: Am Schick­sal der Deut­schen ent­schei­det sich die Zukunft Euro­pas. Wenn wir den oktroy­ier­ten Selbst­hass und den ritua­li­sier­ten Kult der eth­no­kul­tu­rel­len Selbst­ver­nei­nung über­win­den, dann kann der auf alle Euro­pä­er glo­ba­li­sier­te wei­ßen­feind­li­che Schuld­kult über­wun­den wer­den und unse­re Zivi­li­sa­ti­on hat noch einen Mor­gen.