Marvin T. Neumann war aufgrund seiner rassistischen Äußerungen schnell sogar für die AfD-Jugend (JA) – die dem deutschen Verfassungsschutz seit 2019 als „rechtsextremer Verdachtsfall“ und seit dieser Woche als „gesichert rechtsextremistisch“ gilt – zu viel. Als Co-Bundesvorsitzender der JA hielt Neumann sich gerade einmal zwei Wochen, dann musste er seinen Hut nehmen und trat auch gleich aus der Partei aus. Das war bereits Anfang Mai 2021. Stein des Anstoßes waren etliche, unverblümt offen rassistische und völkische Social-Media-Beiträge, in denen die AfD-interne „Arbeitsgemeinschaft Verfassungsschutz“ damals die Gefahr sah, das Bundesamt für Verfassungsschutz könnte sie zum Anlass nehmen, die JA zur „erwiesen extremistischen Bestrebung“ hochzustufen. Tatsächlich weisen Neumanns Äußerungen ihn als besonders verrohten neofaschistischen Kulturkämpfer (1) aus.
Für das FPÖ-nahe Magazin „Freilich“, das sich zu einem österreichischen Zentrum der „neurechten“ Agitation entwickelt hat (2), darf er trotzdem weiterhin schreiben (zuletzt in der aktuellen Ausgabe, Heft Nr. 20). Und nicht nur das: Es wird dort auch über ihn geschrieben, und er wird sogar zum Interview geladen. Warum denn das?
Gegen die „Formel der wandernden Kinder Israels“
Dann und wann gibt es kleine Hypes im „neurechten“ Sesselkreis. Und es hat den Anschein, als hätte Neumanns Text „,Wokeness‘ als Neoamerikanismus“, erschienen letzten Herbst als Blogbeitrag beim neofaschistischen „Jungeuropa“-Verlag, einen solchen ausgelöst. Zumindest sieht das „Freilich“-Magazin das so, wo es in einer Rezension von Neumanns Text (3) heißt, er versuche „den Ursprung der heutigen Probleme in einen ideengeschichtlichen Rahmen zu bringen“. Diese heutigen Probleme fasst Neumann mit dem Containerbegriff „Woke“, der natürlich alles enthält, was dem rechtsextremen Kulturkämpfer nicht passt. Soweit, so bekannt.
Neumann will nun aber erklären, wie es zu diesem „Totalitarismus“ kommen konnte. Dazu geht er zurück ins 18. Jahrhundert und findet das Problem bereits bei den US-Gründervätern, die z.T. der heutigen „Wokeness“ schon sehr nahegestanden seien mit „ihrem Egalitarismus, Humanismus und der Institutionskritik“. Durch diese radikalen Liberalen sei es in den entstehenden USA nicht zu einer Verfestigung „ethnisch-nationaler Elemente“ gekommen, sondern man legte „die Grundsteine für die Auflösung der Gesellschaft. Neumann nennt diesen Vorgang das ‚Gegenteil herkömmlicher nationaler Ethnogenese‘“.
Und Neumann kennt auch die wahrhaft Schuldigen an der versemmelten „Ethnogenese“, was „Freilich“ wohlmeinend so paraphrasiert:
Die geistige Vorleistung für die spätere Selbstauflösung leisteten antizionistische Juden wie Felix Adler oder Israel Zangwill. Sie proklamierten ein Ende des politischen Judentums in einer monotheistischen Weltgemeinschaft. Diese Ideen griffen wiederum englische Protestanten an den Universitäten auf und übertrugen sie auf das Christentum.
Also kurzum: Juden hätten den zersetzenden Liberalismus in die USA gebracht, der die Chancen auf einen völkischen Staat vernichtet hat. Im Originaltext (4) klingt der Antisemit u.a. so: „Der moralisierende Mythos der Amerikaner liegt also nicht primär in einer angelsächsischen Ahnenfigur, wie es für europäische Nationen üblich ist, sondern in der universellen Formel der wandernden Kinder Israels.“

Die Verbindung des Judentums mit dem verhassten Universalismus ist ein antisemitischer Klassiker. Denn Juden und Jüdinnen werden als heimatlos und wandernd imaginiert, was dem völkischen Verständnis von Gemeinschaft qua Abstammung (Stichwort „Ethnogenese“) nicht nur widerspricht, sondern als parasitäres – und mächtiges – Gegenprinzip gilt.
Neumann erzählt exakt diese Geschichte einer schleichenden Unterwanderung durch ein jüdisches Prinzip, nur eben in einem hochgestochenen Jargon, der eine historische Analyse nachahmt. Er markiert dabei das liberale (vulgo: zersetzende) Prinzip der US-amerikanischen Staatskonzeption als jüdisch und behauptet dann, dass eben dieses Prinzip heute die Völker Europas in ihrer Existenz bedrohe – denn das „ausgeweitete System der liberalen Demokratien“ wende sich „heutzutage gegen die Normen der einheimischen Bevölkerung und letztendlich gegen die Existenz dieser selbst“.
Mit einer weiteren Formulierung, die „Freilich“ wohlwollend in voller Länge zitiert, schwurbelt Neumann sich noch ein Stück weiter in den Nahbereich einer offen NS-affirmativen Agitation, die man sonst nur von Neonazis kennt:
Der Grad an assimilierten Migranten und die Abnahme antisemitischer Haltungen wurden nach dem Krieg als Zeugnis für die Überwindung des angeblich im Nationalsozialismus kulminierten weißen Rassismus angesehen. Je weniger anglo-europäische Amerikaner sich ihrer Ethnie bewusst waren und je mehr nicht weiße Migranten sozialen Aufstieg fanden, desto größer erschien die Distanz der US-Gesellschaft gegenüber dem europäischen Sündenfall des Faschismus.
„Freilich“ freut sich insgesamt über die neofaschistische Enthemmung in Intellektuellen-Jargon und verbleibt mit Lob: „Der sogenannte ‚Regenbogenimperialismus‘ der USA, den Neumann als ‚Wokeness‘ bezeichnet, erhält in dessen Texten ein scharfes Profi.l“
Deutscher Größenwahn in „neurechtem“ Sound
Die „Freilich“-Redaktion dürfte so fasziniert von den Ergüssen ihres Autors gewesen sein, dass sie ihn kurz darauf zum Interview bat (5). Übertitelt ist dieses mit einem Zitat, das Neumanns völkischen Größenwahn gut kenntlich macht: „Am Schicksal der Deutschen entscheidet sich die Zukunft Europas.“ Schicksalspathos ist gleichbleibend beliebt im Boysclub der extremen Rechten – von „neurechts“ bis neonazistisch. Und Neumann schielt zum Letzteren, wenn er den Untergang des NS mit dem Niedergang seines eigenen Milieus gleichsetzt: „Die Niederlage des Deutschen Reiches war letztendlich die Niederlage aller rechten und nationalkonservativen Kräfte des Westens, selbst in den Siegernationen – diese Erkenntnis erlangten viele US-Patrioten erst viel zu spät.“

Neumann sieht sich in einem Abwehrkampf gegen einen „linksliberal-volksfeindlichen Kurs des Westens“, gegen eine „aus den USA importierten weißenfeindlich-antieuropäische Doktrin“ und auch gegen eine „auf Hochtouren betriebene Geschichtsklitterung“ – um nur ein paar Zuspitzungen seiner völkischen Apokalyptik aufzuzählen. Natürlich fehlt auch die antisemitische Chiffre vom „Globalismus“ nicht, etwa hier: „Die Feindschaft gegen unser Volk ist so offensichtlich, dass eine Schärfung der nationalen Identität erfolgen muss, ihre Auflösung wäre der Erfolg der Globalisten.“
Neumann führt diese Feindschaft gegen das deutsche Volk immer wieder auf 1945 zurück. Er halluziniert, dass die „Re-Education“ der Westalliierten bis heute hin zu einem „globalistisch-woken Liberalismus“ anhält. Echten „Konservatismus“ gibt es laut Neumann „im Prinzip seit 1945 nicht mehr“. Nicht einmal die Law-and-Order-Partei CDU habe Einfluss darauf, „wer Gesetz und Ordnung eigentlich wirklich gestaltet“, raunt der Antisemit. Wie rechtsextrem Neumann ist, ließe sich an vielen weiteren Zitaten aufzeigen (6); besonders plastisch wird sein Extremismus, wenn er selbst die italienische Neofaschistin Meloni aufgrund ihrer außenpolitischen Position als „transatlantische Agentin“ bezeichnet.
So deutlich tönt es nicht allzu oft aus dem „neurechten“ Diskurssumpf, wo die relative Verharmlosung der eigenen Ideologie geradezu einen Fetisch bildet (Stichwort „Metapolitik“). Darauf achtet Neumann nun weniger. Dafür ist es erfrischend nachvollziehbar, worauf seine Agitation tatsächlich abzielt. Der „Freilich“-Interviewer schließt mit den Worten: „Herr Neumann, vielen Dank für die deutlichen Worte.“
Fußnoten
1 siehe dazu den Twitter-Thread von BuzzFeed-Autor Robert Wagner
2 2022 wurde nicht nur die identitär-nahe Plattform „Tagesstimme” aufgelöst und in „Freilich” integriert, sondern auch deren Chefredakteur Stefan Juritz zum Chefredakteur des gesamten „Freilich”-Medienprojekts gemacht.
3 „,Wokeness‘ als Neoamerikanismus: Ex-JA-Chef Neumann auf Spurensuche“, veröffentlich auf der Website von „Freilich“, eingesehen am 27.04.2023
4 „,Wokeness‘ als Neoamerikanismus“, veröffentlicht auf der Website des „Jungeuropa“-Verlag, eingesehen am 27.04.2023
5 „Am Schicksal der Deutschen entscheidet sich die Zukunft Europas“, Interview veröffentlich auf der Website von „Freilich“, eingesehen am 27.04.2023
6 Hier noch ein Beispiel, das ebenso gut von einem Neonazi stammen könnte: „Der Imperativ der woken Agenda ist: ‚Nie wieder Deutschland‘. Unser Imperativ muss sein: ‚Ewiges Deutschland‘. Ich bin überzeugt: Am Schicksal der Deutschen entscheidet sich die Zukunft Europas. Wenn wir den oktroyierten Selbsthass und den ritualisierten Kult der ethnokulturellen Selbstverneinung überwinden, dann kann der auf alle Europäer globalisierte weißenfeindliche Schuldkult überwunden werden und unsere Zivilisation hat noch einen Morgen.“