Die gute Nachricht zuerst: Der Verfassungsschutzbericht heißt noch immer so, obwohl die Behörde, die ihn herausgibt (Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst; DSN), nicht mehr Verfassungsschutz heißt. Auch gut: Der jährliche Bericht hat seine anorektische Phase überwunden und sich seitenmäßig deutlich erholt. Er leidet aber noch immer am ÖVP-Bias, dem krampfhaften Versuch, politische Entwicklungen durch die ÖVP-Brille zu betrachten. Das tut dem Bericht nicht gut, während der Innenminister davon lebt.
ÖVP-Bias
Die Präsentation des Verfassungsschutzberichtes 2024 durch Innenminister Gerhard Karner (ÖVP), Staatssekretär Jörg Leichtfried (SPÖ) und DSN-Chef Omar Haijawi-Pirchner am 26.Mai verlief fast wie immer: betont nichtssagend trotz Warnung vor gestiegenen Gefährdungen. Die politische Kunst eines ÖVP-Innenministers besteht darin, einerseits überall die Extremismen wachsen zu sehen (links und rechts und sonst wo), andererseits aber das österreichische Publikum zu beruhigen: Wir haben so ziemlich alles im Griff, würden aber noch ein paar Eingriffe in die Bürgerrechte wie etwa die Messenger-Überwachung brauchen.
Das stimmt schon in der allgemeinen Lageeinschätzung nicht – Stichwort ÖVP-Bias. Während Haijawi-Pirchner noch betont, dass die weitaus stärkste extremistische Gruppe der Rechtsextremismus ist, der sich durch steigende Gewaltbereitschaft und Tendenz zur Bewaffnung hervortut, beharrt der Innenminister darauf, dass die „zweifellos gefährlichste Gruppe“ der islamistische Extremismus sei. In den Wortmeldungen gelingt es dann, die Gefährdungslage so herzurichten, dass islamistischer, linker und rechter Extremismus irgendwie gleichermaßen gefährlich herüberkommen.
Wo bleibt die FPÖ?
Wurde in den Wortmeldungen etwas vergessen? Richtig – die FPÖ! Die kommt im Bericht nur einmal im rechtsextremen Kontext vor, aber auch da nur sehr sanft – fast wie ein Opfer der Identitären, die bei einer Kundgebung der FPÖ im März 24 ein Banner mit „Remigration“ hochgehalten haben (S. 28f). Das läuft unter „zunehmender Vernetzung“ der Identitären mit der Parteipolitik. Dazu wäre mehr zu sagen: etwa die offensiven Ansagen der FPÖ zur „Remigration“, die deutlich rechtsextremen Positionen im Wahlprogramm 2024 der FPÖ, ihr Bündniskonzept mit den außerparlamentarischen Rechtsextremen, ihr unverhohlenes Anbiedern an rechtsextreme Symbolik, die nicht mehr – wie einst bei Straches Gruß („drei Bier“) – verschämt entschuldigt wird, sondern wie der White-Power-Gruß auch von den FPÖ-Spitzenfunktionären ganz offen dargeboten wird. Über die von der FPÖ ausgehende rechtsextremen Gefahr: kein Wort im Bericht.
Sklavensprache
Sklavensprache nennt man es, wenn hinter erzwungenen oder akzeptierten Sprachregelungen Anspielungen gemacht werden, die nur Eingeweihte richtig interpretieren können. Wenn etwa angesprochen wird, dass „Nachrufe oder subtile Solidaritätsbekundungen“ (S. 25) mit beispielsweise verstorbenen Holocaustleugner*innen genutzt werden, um der Strafandrohung des Verbotsgesetzes zu entkommen, dann fallen nur Eingeweihten diverse Funktionäre aus der FPÖ ein. Erwähnt werden sie nicht.
Rechtsextreme Medien
Der Bericht erwähnt auch einige „Alternativmedien“, die als „Bindeglied zwischen der rechtsextremen Szene, rechtspopulistischen Parteien, heterodox- extremistischen Gruppierungen und Verschwörungsnarrativen“ dienen (S. 42f). Die Analyse ist korrekt, aber warum werden Ross und Reiter bei den „rechtspopulistischen Parteien“ nicht genannt? Warum werden unter den „Alternativmedien“ – an sich bereits ein euphemistischer Begriff für rechtsextreme Desinformation – nur Auf1, report24 und der mittlerweile verblichene Heimatkurier aufgezählt, nicht aber FPÖ-TV, RTV, unzensuriert, Info-Direkt, Status, Eckart, Freilich oder auch der exxpress? Warum wird nicht der spannenden Frage nachgegangen, wer diese Medien mit Inseraten und anderen Zuwendungen füttert?
Wie wär’s mit einer wissenschaftlichen Studie über rechtsextreme Fake-News-Medien in Österreich? Über deren Netzwerke, Finanzierung und Bedeutung? In Auftrag gegeben von der DSN oder dem Innenministerium, erarbeitet von einem universitären Publizistik-Institut mit den Ergebnissen im nächsten Bericht?
Das Mysterium der Zahlen
Zwei Jahre (2021, 2022) hat sich der Bericht jeglicher Statistik enthalten. Es waren keine Angaben über rechtsextreme Straftaten und die der sonstigen Extremismen zu finden. Seit dem vorletzten Bericht gibt es wieder Statistiken. Fakt ist, dass die die Zahlen des Innenministeriums (BMI), die im Bericht verwendet werden, so stark von den Angaben des Justizministeriums nach unten abweichen, dass jeder Erklärungsversuch scheitern muss.

Nach den Angaben des BMI für 2024 im Bericht liegen rechtsextreme Tathandlungen und Anzeigen im Vergleich zu allen anderen angeführten Extremismen weit vorne.

Bitte nicht heterodox!
Eine Neuerung im Bericht 2024 ist das Upgrade für das, was bisher unter „Staatsfeindliche Verbindungen“ firmierte. Konkret hieß die Oberkategorie bisher „Extremismus und Staatsfeindliche Verbindungen“, das bedeutete wohl, die staatsfeindlichen Verbindungen wurden nicht als extremistisch eingestuft. Ein „Upgrade“ erfolgt durch die Neubenennung „Heterodoxer Extremismus“. Darunter versteht der Bericht extremistische Strömungen, Szenen, Milieus und Gruppierungen, „deren verbindendes ideologisches Element die fundamentalistische Ablehnung demokratischer/staatlicher Strukturen sowie der Glaube an (antisemitische) Verschwörungsnarrative ist“ (S. 40). Das sind Merkmale, die dem Rechtsextremismus zuzuordnen sind. Nimmt man dann noch die auch vom DSN konstatierte „starke Unterwanderung durch rechtsextreme Milieus“ (S. 42) dazu, fragt sich: Was hindert DSN und BMI daran, diese Strömungen unter dem Rechtsextremismus zu subsummieren? Weil dann der Sektor Rechtsextremismus in seiner Relevanz noch gewichtiger wäre?
Das Upgrade für die früheren staatsfeindlichen Verbindungen passt schon, nicht aber die Bezeichnung „Heterodoxer Extremismus“. Zum einen, weil sie dem Rechtsextremismus-Bereich zuzuordnen sind (das gilt wohl auch für die Reste der Corona-Maßnahmen-Gegner*innen), zum anderen weil der Begriff „heterodox“ „abweichend“, „andersgläubig“, „im Gegensatz zu etablierten Meinungen“ bedeutet. Das kann von den Akteuren (1) wie eine Auszeichnung oder Eigenbenennung verstanden werden.
Politischer Kleister
Wir haben schon in unserer Kritik am Bericht für das Jahr 2023 festgehalten, dass die Zuordnung des Klimaaktivismus zum „Linksextremismus“ den eigenen DSN-Erkenntnissen widerspricht. Sie ist nichts anderes als politischer Kleister, der dem schwarzen BMI ins Konzept passt und die dürftige Bilanz der Tathandlungen und Anzeigen im Bereich Linksextremismus etwas aufbläst.
Konkrete Hinweise auf eine Entwicklung hin zu gewaltbereiten, extremistischen Methoden innerhalb der Klimabewegung sowie zu einer verstärkten Vernetzung beziehungsweise Rekrutierung durch den Linksextremismus wurden bis dato nicht verzeichnet, wenngleich sie nicht zur Gänze ausgeschlossen werden können. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass einzelne Personen und Personengruppen die Grenze zur Strafbarkeit bereits überschritten haben, um ihrem Protest und Aktionismus erhöhte Aufmerksamkeit zu verschaffen. (Verfassungsschutzbericht 2023, S. 52)
Hinsichtlich einer möglichen Infiltrierung der Klimaschutzbewegung durch die linksextreme Szene können derzeit nur vereinzelte personelle Vernetzungen oder Zusammenschlüsse festgestellt werden. Eine Übernahme der zivilgesellschaftlichen Klimaschutzbewegung durch die linksextreme Szene wird demzufolge — und aufgrund der nach wie vor bestehenden Differenzen — derzeit als unwahrscheinlich eingeschätzt. (Verfassungsschutzbericht 2024, S. 53)
Der versteckte Rechtsextremismus
Was auffällt: In der undeutlichen Kategorie „auslandsbezogener Extremismus“, der sowohl linksextreme als auch rechtsextreme Aktivitäten zugeordnet werden, finden sich 65 (!) Anzeigen wegen Verhetzung und vier nach dem NS-Verbotsgesetz. Auch unter der Kategorie „Islamistischer Extremismus und Terrorismus“ sind sieben Anzeigen wegen Verhetzung und acht nach dem NS-Verbotsgesetz gelistet.
Selbst im Kapitel „Internationaler illegaler Waffenhandel und Proliferation“ sind noch vier Anzeigen nach dem Verbotsgesetz zu entdecken. Da Verhetzung und Verbotsgesetz Tatbestände sind, die faktisch ausschließlich im Bereich Rechtsextremismus angesiedelt sind, würden diese anderen Kapiteln zugeordneten Anzeigen wohl die Zahlenbilanz in der Kategorie Rechtsextremismus noch weiter verstärken.
Apropos Gefährdungspotenzial
Das Gefährdungspotenzial des Rechtsextremismus wird nicht nur in seinen Straftaten sichtbar, sondern auch in seinen alltäglichen Aktivitäten, den Angriffen auf Verfassung und Bürger- und Menschenrechte und den ständigen Grenzverletzungen. Auch dorthin sollte ein Verfassungsschutz schauen und darüber berichten.
➡️ dsn.gv.at: Verfassungsschutzbericht 2024
* Alle relevanten rechtsextremen Medien werden von Männern geführt – s. Überblick!