Correctiv: 100 Karten über Rechtsextremismus
Thomas Neuhold/Andreas Praher: Widerstand-Verfolgung-Befreiung
Lutz Hachmeister: Hitlers Interviews
Maximilian Steinbeis: Die verwundbare Demokratie
Arne Semsrott: Machtübernahme
Benjamin Fredrich: Schlägereien in Parlamenten
Jason Stanley: Wie Faschismus funktioniert
Correctiv: 100 Karten über Rechtsextremismus
Yes! So etwas wünschen wir uns auch für Österreich – und damit soll keineswegs ausgedrückt werden, dass die 100 Karten nur für ein bundesdeutsches Lesepublikum tauglich sind. Erstens, weil auch Österreich oft genug in den Karten vorkommt (etwa bei der Vertreibung von Lehrkräften, als Österreich in weniger Jahren mehr Lehrkräfte vertrieben hat als Deutschland) und zweitens, weil einzelne Karten in ihrer Deutlichkeit für sich sprechen (etwa in der Gegenüberstellung von den vier Todesopfern linker Gewalt und den 238 durch rechte Gewalt zwischen 1990 und 2024). Es ist solide und wichtige Arbeit, die da ein Autor*innenkollektiv von Correctiv abgeliefert hat, und den Katapult-Verlag und sein Programm kann man sich auch gleich vormerken.
„Correctiv“ fügte hinsichtlich der Karte zu den Völkermorden noch eine Erläuterung hinzu: 100 Karten – Wichtige Erläuterungen zur Karte über Gerichtsverfahren wegen Völkermord
Correctiv, 100 Karten über Rechtsextremismus. Katapult-Verlag, Greifswald 2024
Thomas Neuhold/Andreas Praher: Widerstand – Verfolgung – Befreiung
Was sich hinter dem Titel versteckt, ist nichts anderes als der gelungene Vorschlag, sich Geschichte zu erwandern. Nicht irgendwelche Geschichten von Herrschern und Denkmälern, sondern sehr konkret von Orten im Salzburger Land und angrenzenden Gegenden, wo sich das NS-Terrorregime oder auch der Widerstand dagegen ganz konkret manifestiert hat, aber in so manchen der 35 vorgestellten Wanderungen der politischen Amnesie zum Opfer gefallen sind. Der Tourismus-Ort Mattsee (Kapitel 8 „Antisemitischer Ungeist im Sommerfrische-Idyll“) hat zwar sehr spät, aber doch mit der Aufarbeitung seiner frühen wild antisemitischen und profaschistischen Vergangenheit begonnen, aber das Denkmal am See für den alten Naziarzt Burghard Breitner steht noch immer. 24.000 Kriegsgefangene, davon die meisten sowjetische, waren bis 1945 im Lager St. Johann/Pongau unter miserabelsten Bedingungen gefangen gehalten worden. 3.700 starben als Folge von Zwangsarbeit, Folter oder der hygienischen Zustände (Kapitel 33 „Gepeinigt und zu Tode gefoltert“). Weshalb das doch ziemlich weit von Salzburg entfernte KZ Gusen im Mühlviertel (Kapitel 15 „Die unterirische Mordfabrik“) aufgenommen wurde, erschließt sich in der Beschreibung nicht, aber einen Beitrag ist es allemal wert. Der hätte auch dem Lager Weyer gebührt, das ganz knapp an der oberösterreichischen Grenze zu Salzburg liegt. Sei’s drum, wer sich aus welchen Gründen auch immer in oder um Salzburg herumtreibt, sollte dieses Buch lesen und einiges davon erwandern. Damit es besser picken bleibt im Gedächtnis.
Thomas Neuhold/ Andreas Praher, Widerstand – Verfolgung – Befreiung. Zeitgeschichtliche Wanderungen. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2024
Lutz Hachmeister: Hitlers Interviews
In einer Rezension wurde empfohlen, dass das Buch von Lutz Hachmeister Teil eines Curriculums von Journalistenschulen werden sollte. Es behandelt nämlich den Umgang von Journalist*innen mit Hitler, aus dem auch heute noch gelernt werden kann. An die hundert Interviews gab der Nazi-Boss ausländischen Journalist*innen – die allermeisten davon wurden in ehrerbietiger, devoter Haltung der Fragesteller*innen geführt. Die Spanne reichte dabei von grenzenloser politischer Anbiederung („Daily Mail“, S. 185) über „Appeasement“ („Times“-Chefredakteur Geoffrey Dawson wollte keine deutschen Empfindlichkeiten verletzen, S. 186) bis hin zu distanzloser Bewunderung (die dänische Schönheitskönigin Inga Arvad vom Berlingske Tidende: „Die Augen, die zartherzig sind, schauen einen direkt an. Sie strahlen Kraft aus.“, S. 252). Die Judenverfolgung war fast nie ein Thema (der Holocaust sowieso nicht). Die Unterredungen – so nannten die Nazis die Interviews – „gewährte“ Hitler in abnehmender Quantität fast nur bis 1938, was als Beleg dafür zu werten ist, dass die Nazis mit Interviews nur an positiver und einlullender Stimmung vor dem Krieg interessiert waren. Ab 1940 gab es insgesamt nur mehr vier Hitler-Interviews in ausländischen Medien.
Im Kapitel „Faking Hitler“ gräbt Hachmeister ein Juwel aus, den „jüdischen‑, russisch-österreichisch-US-amerikanischen“ (Wikipedia) Schriftsteller und Journalisten Leo Lania in seiner Autobiographie „Welt im Umbruch“. Warum Fake? Weil Lania es geschafft hat, getarnt als italienischer Faschist, sich Zutritt zu Hitler und dessen engstem Kreis in München zu verschaffen und so Informationen aus ihnen herauszuziehen. Lania: „Röhm war ohne Zweifel der stärkere, Pöhner der gewieftere Politiker, Strasser weit gebildeter- aber Hitler hatte etwas vor ihnen voraus: den Glauben an sich. einen abnormalen Größenwahn.“
Abgesehen von dieser amüsanten Einlage, bei der ein jüdischer und kommunistischer Journalist Hitler und seine Entourage übertölpelte, sind sonst, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, die Journalist*innen die Tölpel, die sich von den Nazis bzw. Hitler vorführen und instrumentalisieren ließen.
Im letzten Kapitel („Wie interviewt man einen Diktator – und warum überhaupt?“) geht es dann auch genau um diese Frage: Soll man Diktatoren überhaupt interviewen, ihnen eine Bühne geben? Hachmeister führt neben vielen negativen Beispielen auch eines an, wo der Interviewer durch exzellente Vorbereitung und Haltung Paroli bieten konnte: das Interview von Armin Wolf im Jahr 2018 mit Wladimir Putin. Aber selbst bei diesem hochstehenden Interview fand „Putin einen Weg, mit süffisantem Ausdruck den Spieß umzudrehen“ (S. 294).
Hachmeisters Resümee:
Journalisten in demokratischen Mediensystemen sollten sich daher immer fragen, ob letztlich die Propagandaeffekte für den Tyrannen, der häufig mit Großmachtansprüchen auch demokratische Systeme des Auslands aushebeln möchte, nicht gewichtiger sind als alle kurzfristigen Nachrichtenwerte und Scoops. (S. 316)
Sollte das nicht auch so ähnlich für bekennende Rechtsextreme gelten? Hachmeister kann dazu nicht mehr befragt werden. Der Autor ist leider einige Monate vor Veröffentlichung seiner spannenden Studie gestorben.
Lutz Hachmeister, Hitlers Interviews. Der Diktator und die Journalisten, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024
Maximilian Steinbeis: Die verwundbare Demokratie
Maximilian Steinbeis, Jurist und Journalist, betreibt seit 2009 den „Verfassungsblog“, der sich mittlerweile zu einer relevanten Diskussionsplattform über Verfassungsfragen entwickelt hat. Gemeinsam mit anderen schrieb er 2017 das zurecht heftig umstrittene Buch „Mit Rechten reden“, in dem sogar das rechte Narrativ von der „Übermacht der Linken“, die das Comeback der Rechten erst möglich gemacht habe, bedient wurde. Nun ja, Österreich wäre eigentlich das beste Beispiel zur Widerlegung dieser höchst problematischen These: Seit Jahrzehnten mehrheitlich konservativ, ganz sicher aber ohne „Übermacht der Linken“, wird bei uns nicht nur mit Rechten, sondern sogar mit Rechtsextremen unverdrossen geredet, nicht ausgegrenzt, sondern „eingehegt“, sprich koaliert, mit dem Erfolg, dass die Rechtsextremen immer stärker wurden.
Mittlerweile dürfte das Steinbeis auch anders sehen. Als er 2023 vom „Tagesspiegel“ (28.8.23) gefragt wurde, ob man die AfD „um jeden Preis von der Macht“ fernhalten solle, antwortete er entschieden mit: „Ja, auf jeden Fall.“
Warum, das beschreibt er in seinem jüngsten Buch über die verwundbare Demokratie am Beispiel von Thüringen: Was würde passieren, wenn eine Partei wie die AfD dort stärkste Kraft würde oder gar an die Regierung käme. Geschrieben wurde das Buch noch, bevor die AfD tatsächlich stimmstärkste Partei in Thüringen wurde.
Der deutsche Verfassungsschutz stuft die AfD in Thüringen seit Jahren als „erwiesen rechtsextrem“ ein, daran konnte auch eine Klage der AfD nichts ändern. Der AfD-Landesvorsitzende Björn Höcke hat Strafverfahren (zwei mit noch nicht rechtskräftigen Verurteilungen in erster Instanz) wegen der Verwendung von SA-Losungen und Volksverhetzung am Laufen. Die AfD in Thüringen ist mit Sicherheit eine rechtsextreme Partei. Im Buch von Steinbeis wird sie dennoch konsequent als „populistisch“ oder „autoritär populistisch“ bezeichnet. Sorry, aber der Populismus- Begriff ist wegen seiner Allerweltsverwendung ausgelutscht und unbrauchbar. Das mindert trotz oder gerade wegen der vielen sehr detailliert und spannend ausgeführten Überlegungen, wie diese AfD mit ihrer Programmatik in Thüringen handeln würde, wenn sie die Möglichkeiten dazu hätte, den analytischen Erkenntnisgrad des Buches. Für die im Untertitel angekündigten „Strategien gegen die populistische Übernahme“ bleiben nur ein paar Schlussseiten und der Verweis auf einen zivilen Verfassungsschutz: „nicht Repression, nicht Prävention – sondern Antizipation. Menschen, die sich vorbereiten. Amts‑, Mandats- und Funktionsträger:innen, auf deren Entscheidungen es im Fall des Falles ankommen wird. Genauso aber auch die in all diesen Szenarien so entscheidend wichtige Zivilgesellschaft.“
Also, die Strategien gegen die rechtsextreme oder autoritäre Machtübernahme sind mit Sicherheit nicht die Stärke dieses Buches. Aber dafür gibt’s ja Arne Semsrott.
Maximilian Steinbeis, Die verwundbare Demokratie. Strategien gegen die populistische Übernahme. Hanser-Verlag, München 2024
Arne Semsrott: Machtübernahme
Auf Wikipedia wird der Arne Semsrott als deutscher Journalist und Aktivist vorgestellt, in seinem Buch bezeichnet er sich selbst als Leiter des Transparenzprojekts „FragDenStaat“. Das kennen in Österreich vermutlich die Allerwenigsten, obwohl es eine demokratiepolitisch wichtige und für Österreich nachahmenswerte Einrichtung wäre.
Weil er Beschlüsse des Amtsgerichtes München aus laufenden Verfahren gegen Aktivist*innen der „Letzten Generation“ veröffentlicht hatte, läuft gegen Semsrott ein Strafverfahren. Das hat nicht direkt etwas mit seinem Buch zu tun, das die Überlegungen von Steinbeis über die verwundbare Demokratie nicht nur weiterdenkt und ergänzt, sondern vor allem „eine Anleitung zum Widerstand“ sein will. Die Bezeichnung „Aktivist“ darf er also ruhig als Auszeichnung für seine demokratiepolitische Arbeit nehmen. Ganz im Gegenteil zu herkömmlichen (klein-)bürgerlichen Ängsten und Vorstellungen, wonach sich Aktivismus negativ auf die Qualität von journalistischer oder auch wissenschaftlicher Arbeit auswirken würde, ist bei Semsrott davon nichts zu bemerken. Die Begrifflichkeiten, die er verwendet, sind nicht verschwommen, sondern klar: „Ein Rechtsextremist ist ein Rechtsextremist ist ein Rechtsextremist. Kein ‚Rechtspopulist‘ oder ‚umstrittener Politiker‘.“
Was die Rechtsextremisten in Deutschland wollen, benennt er als „autoritäre Wende“. Was dagegen hilft? Eine umfassende demokratiepolitische Mobilisierung, die er sehr anschaulich und mit Vorschlägen in Kapiteln über Zivilgesellschaft, Beamte, Justiz, Medien, Unternehmen, Gewerkschaften (ein Vorschlag von ihm: „in eine Gewerkschaft eintreten“) und natürlich die Zivilgesellschaft beschreibt. Auch die Parteien bezieht er in die Verantwortung ein: Stichworte „Brandmauer“ und notfalls mit Wäscheklammer wählen.
Sehr schön ausgearbeitet: seine Einschätzung zur „Correctiv“-Recherche über das rechtsextreme Potsdamer Treffen („Was für eine Geschichte“), die daraus abgeleiteten, überwiegend handfesten Vorschläge samt Medienkritik.
Nicht alles muss man teilen, aber überlegenswert ist auch dieser Punkt aus dem Medienkapitel:
8. AfD nicht einladen
Wann hat es mal einen echten Erkenntnisgewinn gegeben, als ein AfD-Politiker in einer Talkshow zu Gast war? Mit Rechtsextremisten redet man nicht freiwillig, sondern nur, wenn es sein muss. (…) Talkshows würden auch keine radikalen Islamisten einladen, weil sie sich außerhalb des Werterahmens bewegen. (…) Aber haben AfD und Islamisten nicht bei vielen Themen durchaus Schnittpunkte?
Wenn jetzt AfD durch FPÖ ersetzt würde (nicht nur bei diesem Vorschlag), dann würde ersichtlich, wie viel wir in Österreich zu tun hätten. Semsrotts Buch ist hilfreich dabei!
Arne Semsrott, Machtübernahme. Was passiert, wenn Rechtsextremisten regieren. eine Anleitung zum Widerstand. Droemer Verlag, München 2024.
Benjamin Fredrich: Schlägereien in Parlamenten
Ein Buch darüber war überfällig. Es ist allerdings nicht die erste Arbeit zum Thema. 2011 präsentierte die Grazer Künstlergruppe G.R.A.M. in der Wiener Galerie Christine König die Serie „Hohes Haus“. Dabei wurden „Schlägereien aus Parlamenten in aller Welt nachgestellt“.
Für den leider sehr knappen analytischen Teil des Buches wurde eine britische Studie von Christopher Gandrud aus dem Jahr 2015 herangezogen, die einige Gründe bzw. Voraussetzungen nennt, unter denen Schlägereien in Parlamenten wahrscheinlicher werden. Junge, noch nicht so eingespielte Demokratien werden da genannt; auch eine unverhältnismäßige Machtverteilung; damit ist gemeint: Je ungerechter sich das Verhältnis der Wähler*innenstimmen zu Mandaten verhält, desto wahrscheinlicher ist parlamentarische Gewalt. Wobei „parlamentarische Gewalt“ ja nicht nur Gewalt zwischen Parlamentarier*innen bedeuten muss.
In Armenien kam es etwa am 27.10.1999 zu einem mörderischen Attentat im Parlament, ausgeführt von fünf Personen, die im Parlament mit Kalaschnikows sechs Parlamentarier und zwei Regierungsmitglieder erschossen. Der Anschlag, der nie vollständig aufgeklärt wurde, sollte vermutlich eine friedliche Beilegung des Konflikts mit Aserbaidschan um Nagorni-Karabach torpedieren. Ein Buch, das Angriffe und Anschläge auf Parlamente (da gibt es noch etliche weitere!) behandelt, sollte noch geschrieben werden.
Demokratie (in irgendeiner Variante) ist jedenfalls der Rahmen auch für körperliche Auseinandersetzungen. In autoritären Systemen gibt es zwar ungleich mehr Gewalt, aber sicher nicht in deren „Parlamenten“, in denen in der Regel mehr applaudiert als parliert wird.
Die Gandrud-Studie liefert anscheinend keine Evidenz dafür, dass es in ethnisch und religiös polarisierten Ländern häufiger zu Gewalt im Parlament kommt. Aber: Der österreichische Reichsrat in Zeiten der Monarchie ist ein gutes Beispiel dafür. Im Buch wird Österreich-Ungarn 1898 sogar als Beispiel angeführt – in Form einer Beobachtung von Mark Twain, der damals einer Sitzung des Abgeordnetenhauses beiwohnte, in der heftig über die „Badenische Sprachverordnung“, vereinfacht über den Primat der tschechischen oder der deutschen Sprache in Böhmen, gestritten wurde – auch mit Fäusten. Wir verwenden allerdings nicht die Übersetzung des Buches aus dem Englischen, in der die christlich Sozialen als Christliche Sozialisten auftauchen – das geht gar nicht!
Eines Abends – im Saal steigerte sich der übliche Lärm gerade zu tosender Höchstform- kam es zu einer Prügelei. Alles drängelte, rangelte und rempelte in einem wogenden Handgemenge, bei dem nicht wenige Schläge ausgeteilt wurden. Zweimal wuchtete Schönerer einen der schweren Ministerfauteuils in die Luft – manche sagen, mit einer Hand- und bedrohte damit Mitglieder der Mehrheitsfraktion, beide Male wurde er ihm jedoch wieder entrungen. Ein Abgeordneter hämmerte mit der Glocke des Vorsitzenden auf Wolfs Kopf ein, ein anderer würgte ihn. Ein Professor wurde zu Boden geworfen, mit den Fäusten bearbeitet und ebenfalls gewürgt; in seiner Not zog er ein Federmesser, um die Schläge abzuwehren; es wurde ihm entrissen und fortgeschleudert und verletzte dabei prompt einen friedlichen, völlig unbeteiligten Christlichsozialen an der Hand. Das war übrigens das einzige Blut, das floss. (Mark Twain, Reportagen aus dem Reichsrat 1898/1899. Parlamentsdirektion, Wien 2013)
Elf Jahre später folgte erneut eine wilde Schlägerei im Wiener Abgeordnetenhaus. Wieder das Sprachenthema, aber ein anderer Beobachter: Adolf Hitler (vgl. Brigitte Hamann, Hitlers Wien). Dazu der Ausschnitt aus der „Arbeiterzeitung“ vom 6.2.1909:
Auf Grund allerhöchster Ermächtigung erkläre ich hiermit die XVIII. Session des Reichsrates für geschlossen.
Hiemit beehre ich mich, euer Hochwohlgeboren zur geneigten weiteren Veranlassung in Kenntnis zu setzen.
Bienerth.
Präsident: Die Sitzung ist geschlossen. (Anhaltender großer Lärm und Bewegung im ganzen Hause.)
Eine Prügelei.
Der Präsident verlässt den Saal. Aber die Abgeordneten bleiben trotz der Schließung der Sitzung auf ihren Plätzen. Anfangs herrscht noch Ruhe. Da rufen einige Tschechen „Bravo!” und Abgeordneter Lisg lässt wieder sein Nebelhorn ertönen.Nun stürzen einige deutsche Agrarier – mit ihnen auch Abgeordneter Stark – gegen Lisg los und es kommt zu einem Handgemenge. Die Abgeordneten schlagen aufeinander los, sie fassen einander an den Gurgeln, reißen einander von den Sitzen herab. Dem tschechischen Agrarier Spacel wird der Rock und der Hemdkragen vollständig in Stücke zerrissen. Der Abgeordnete Fresl wird von den deutschen Agrariern gräßlich geprügelt, dem Abgeordneten Udrzal beißt im Gewoge der Schlacht der Abgeordnete Kraus in den Daumen, so dass ihm das Blut herunterrinnt. Ebenso wird der deutsche Agrarier Größl von den Tschechen, unter die er geraten war, ganz zerhauen.
Was hier im Nachhinein ganz lustig wirkt, der Streit um Vorherrschaft zwischen nationalen Bewegungen, hat letztendlich den Ersten Weltkrieg befördert und mit den Hitler‘schen Schlussfolgerungen (Überlegenheit der deutschen „Rasse“) auch den Zweiten.
Das Buch lebt von den vielen Beispielen, wobei sich einige wenige Länder besonders hervortun: Südkorea etwa. Weil Südkorea mit mehreren Beispielen, darunter einem sehr ungustiösen, aufscheint: Der erst wenige Tage alte Versuch des Präsidenten, das Kriegsrecht durchzusetzen und das Parlament auszuschalten, ist an den Parlamentariern gescheitert.
Benjamin Fredrich, Schlägereien in Parlamenten. Katapult Verlag, Greifswald 2024
Jason Stanley: Wie Faschismus funktioniert
Faschismustheorien gibt es mittlerweile viele, und man kann nicht gerade behaupten, dass in den letzten Jahren auf diesem Gebiet etwas mehr Klarheit geschaffen worden wäre. Während ein Faschismus-Theoretiker wie Robert Paxton trotz – von ihm so benannter – deutlicher Indizien wie dem gewaltsamen Sturm auf das Kapitol zögern, in Trump einen Faschisten zu sehen, hat der Philosoph Jason Stanley diesbezüglich keine Probleme. Ganz im Gegenteil: Für ihn stellen „Ungarn, Polen und Italien (…) anschauliche Beispiele für die rapide Machtübernahme des Faschismus dar“. An anderer Stelle benennt er Donald Trump und Jair Bolsonaro in Brasilien als faschistische Anführer.
Wenn Stanley „die Bezeichnung ‚Faschismus‘ für Ultranationalismus jeglicher Couleur (ethnisch, religiös, kulturell)“wählt, „wobei die Nation durch einen autoritären Anführer vertreten wird, der in ihrem Namen spricht“ (S. 33), dann vereinfacht er zu stark. Seine zehn Charakteristika faschistischer Politik (1 Die mythische Vergangenheit, 2 Propaganda, 3 Anti-Intellektualismus, 4 Unwirklichkeit, 5 Hierarchie, 6 Die Opferrolle, 7 Recht und Ordnung, 8 Sexuelle Ängste, 9 Sodom und Gomorrha, 10 Arbeit macht frei) enthalten dagegen einige Aspekte, die in dieser Form in älteren Faschismustheorien kaum angesprochen wurden.
Zugegeben, die bloße Aufzählung schafft noch keine Klarheit. Auch sind einige Punkte seiner Typologie sehr ähnlich den von Umberto Eco so benannten Merkmalen des Faschismus. Neu hingegen ist die Hervorhebung der Opferrolle, der sexuellen Ängste (und nicht nur der Sexualität oder der sexuellen Macht) und des Stadt-Land-Konflikts, der sich hinter dem Punkt „Sodom und Gomorrha“ verbirgt. Die zehn Punkte sind für Stanley auch nicht bloß Elemente oder Charakteristika faschistischer Politik, sondern Strategien. Wenn einige von ihnen „in einer Partei oder politischen Bewegung zusammenkommen“, dann sind das „die gefährlichen Phasen“. Das ist nicht falsch, aber doch etwas zu allgemein. Zwei Elemente, die faschistische Politik wohl mitcharakterisieren und von rechtsextremer unterscheiden, fehlen bei Stanley völlig: die Eliminierung von (parlamentarischer) Demokratie und den Institutionen der Arbeiterbewegung (Gewerkschaften) und die gewaltförmigen Bewegungen, mit denen faschistische Herrschaft durchgesetzt wird.
Jason Stanley, Wie Faschismus funktioniert. Westend Verlag, Neu-Isenburg 2024