Marc-Uwe Kling: Views
Davide Coppo: Der Morgen gehört uns
Paul Lynch: Das Lied des Propheten
Percival Everett: James
Marc-Uwe Kling: Views
Sein Name ist mittlerweile vielen geläufig. Mit Büchern wie „Das NEINhorn“, „Das Klugscheißerchen“ oder „Der Tag, an dem Oma das Internet kaputt gemacht hat“ begeistert er nicht nur Kinder, sondern auch deren Eltern, für die er schon früher die „Känguru“-Geschichten in mehreren Folgen („Chroniken“, „Manifest“, „Offenbarung“, zuletzt die Känguru-Apokryphen“) geschrieben hat. Jetzt wagte sich der Vielschreiber an ein neues Genre, den Krimi, der zunächst einmal sehr konventionell erzählt wird.
Ein junges Mädchen verschwindet spurlos, taucht einige Tage später in einem brutalen Vergewaltigungsvideo auf, das über die „sozialen“ Medien viral geht: „Der Chef von X hat sich sogar bemüßigt gesehen, auf seiner Plattform das Video höchstpersönlich zu teilen. #FreedomOfSpeech’ShareThe Truth“
Dringend tatverdächtig: vier schwarze Männer aus Mali. Das gefundene Fressen für die rechte Szene, allen voran die Gruppierung „Aktiver Heimatschutz“. Mit den Ermittlungen wird eine Kommissarin mit libanesischen Wurzeln betraut. Und weil sich die Ermittlungen schwierig gestalten, wird auch sie zur Zielscheibe der Empörung, die sich in unzähligen Klicks („Views“), aber auch in Demonstrationen und schließlich in manifester und tödlicher Gewalt ausdrückt: „Wie konnte alles in so kurzer Zeit eskalieren? Aber die Antwort ist ganz einfach. Es ist nicht in kurzer Zeit eskaliert. Im Gegenteil: Seit Jahrzehnten beobachten alle, wie die Gesellschaft immer mehr Risse bekommt, und keiner kittet sie. Da darf man sich nicht wundern, wenn sie schließlich zerbricht.”
Klings Story ist topaktuell. Das wird spätestens dann klar, als Künstliche Intelligenz ins Spiel kommt. Aber hier wird nicht gespoilert. Nur noch ein Zitat, das Kling einem Journalisten in den Mund legt: „Unter Flüchtlingen gibt es auch Arschlöcher. Unter Nazis gibt es nur Arschlöcher.“
Marc-Uwe Kling, Views. Ullstein- Verlag, Berlin 2024
Davide Coppo: Der Morgen gehört uns
In seinem Erstlingsroman erzählt Coppo, der hauptberuflich als Chefredakteur einer Sportzeitung arbeitet, die Entwicklung des vernachlässigten und labilen Jugendlichen Ettore, den immer weniger mit seinen Eltern, aber umso mehr mit seiner Nonna Elsa verbindet. Die Geschichten seiner Oma, die Entscheidung für ein Elite-Gymnasium, die mühsamen Freundschaften für ihn, den Außenseiter, die ihn zu einer postfaschistischen Jugendorganisation führen, der Auftritt eines gewalttätigen Mitschülers und Neonazi, um den sich viele Gerüchte ranken, der aber genau deshalb seine Bewunderung findet und schließlich sein Messerangriff auf einen Gleichaltrigen – das sind nicht nur Stationen seiner rechtsextremen Radikalisierung, sondern auch Weggabelungen, an denen Ettore immer wieder falsch abgebogen ist.
In seinem mehrmonatigen Hausarrest, den er als Strafe für seinen Messerstich ausgefasst hat, beschreibt der neunzehnjährige Ettore rückblickend und ziemlich abgeklärt diese Entwicklung. Coppo liefert keine umfassende und abschließende Erklärung für den Weg in die rechtextreme Gewalt, schon gar kein Rezept für den Weg heraus, auch wenn die distanzierte und reflektierte Erzählhaltung Läuterung erahnen lässt.
In der Danksagung am Schluss wird zart angedeutet, dass alles an diesem Buch zwar Fiktion ist, aber „Schatten zurück auf eine reale Vergangenheit“ wirft – auf die des Autors? Dann gäbe es ja Grund für Optimismus.
Davide Coppo, Der Morgen gehört uns. Kjona-Verlag, München, 2024
Paul Lynch: Das Lied des Propheten
für diesen Roman hat Paul Lynch, ein irischer Schriftsteller, 2023 den britischen Booker-Prize erhalten. Zu Recht! Der Roman beschreibt zu Beginn, wie die vierfache Mutter Eilish Stack am Fenster steht, in den Garten schaut, „wie das Dunkel lautlos die Kirschbäume einbringt“ – eine friedliche, beruhigende Szene, in der sie aber das beharrliche Klopfen an der Haustür komplett ausblendet. Ihr Sohn Bailey macht sie darauf aufmerksam, sie öffnet die Tür, zwei Zivilbeamte der „Garda“ stehen davor, wollen ihren Mann sprechen, der aber noch nicht zuhause ist. Das Gespräch bleibt freundlich aber ausweichend, was das Anliegen der beiden Polizisten betrifft.
Es sind ziemlich die letzten ruhigen Minuten im Leben von Eilish Stack und ihren Kindern. Ihr Mann Larry ist Gewerkschaftsfunktionär, die Regierung des Landes aber klar rechts und gewerkschaftsfeindlich. Gegen Larry liegt eine „Beschuldigung“ vor, in der ihm staatsgefährdendes Verhalten vorgeworfen wird. Was Larry zunächst noch als böswilliges Ärgernis interpretiert, wird sich als fatale Fehleinschätzung herausstellen. Larry verschwindet in den Gefängnissen der Regierung, die sich immer deutlicher zu einem autoritären, ja faschistischen Regime entwickelt, das das Land in einen blutigen Bürgerkrieg treibt, in dem die Regierung sogar mit Bomben gegen vermeintlich aufständische Viertel vorgeht.
Larry stirbt in einem Folterkeller des Regimes, der älteste Sohn Mark geht in den Untergrund, Bailey landet im Krankenhaus. Eilish muss in täglich prekärer werdenden Konstellationen das Überleben mit ihrer halbwüchsigen Tochter Molly und dem Baby Ben organisieren, aber auch noch ihren dementen Vater versorgen, der allein in einem anderen Stadtviertel wohnt. Eilish bleibt letztlich keine andere Möglichkeit, als das zu tun, was sie nie wollte: ihr Land verlassen, flüchten, um überleben zu können.
Die „Irish Times“ schrieb über den Roman: „Erschreckend plausibel“
Paul Lynch, Das Lied des Propheten. Klett-Cotta, Stuttgart,2024.
Percival Everett: James
Wer sich als Kind oder Jugendliche/r die Abenteuer des Huckleberry Finn (und natürlich vorher Tom Sawyer) reingezogen und großartig gefunden hat, darf jetzt als erwachsene Person Everetts Roman „James“ lesen und ebenso grandios finden. Da wird die Geschichte Twains aus der Perspektive des Sklaven James erzählt, der Huck auf seiner Reise entlang des Mississippi begleitet.
Die „New York Times“ hat „James“ als eines der besten zehn Bücher des Jahres 2024 ausgerufen und das ist mit Sicherheit noch etwas untertrieben, denn Everett gelingt mit seinem Roman nicht nur eine Begleiterzählung zu Twains Huckleberry Finn, sondern eine komplette Neuerzählung – subversiv, ironisch und amüsant. Ein Alptraum für jeden Rassisten! Während bei Twain der Sklave Jim trotz seines erwachsenen Alters und seiner Liebenswürdigkeit – dem Zeitgeist entsprechend – noch als unreif und kindlich beschrieben wird, schaut die Geschichte bei Everett ganz anders aus.
Der entflohene Sklave Jim, der sich erst später in James umbenennen wird, ist Hauptperson, Ich-Erzähler und eine starke Persönlichkeit. Huck ist jetzt der unselbstständige und kindliche Junge. Die Brutalität der amerikanischen Sklavenhaltergesellschaft des 19. Jahrhunderts wird nicht wie noch bei Twain kostümiert, sondern ungeschminkt erzählt. Bei einem seiner Peiniger hat der Sklave Jim aber in der Bibliothek Bücher der Aufklärer Voltaire und Locke gefunden, sie intensiv aufgearbeitet und ihre Leerstellen und Widersprüche bezüglich der Menschenrechte gefunden.
Was ihm – und vielen anderen Schwarzen – in der Auseinandersetzung mit den Weißen hilft, ist das Spiel mit der Sprache. Untereinander kommunizieren sie in fehlerfreier Hochsprache, mit den Weißen wird nicht nur der Blick gesenkt und genuschelt, sondern auch in einem eigentümlichen, grammatikalisch falschen Idiom gesprochen, das Unterlegenheit ausdrückt. Jim: „Nuschelt irgendetwas, das verschafft ihnen die Genugtuung, euch sagen zu können, dass ihr nicht nuscheln sollt.”
Großartig ist auch die Szene, in der er Mitglied einer jener Blackface Minstrel Shows wird, die Weiße veranstaltet haben, um sich – schwarz geschminkt – über Schwärze lustig zu machen. Auch Jim bzw. James muss sich mit schwarzer Schuhwichse anmalen, um „echt“ als geschminkter Weißer zu wirken. Wehe, das Publikum wäre ihm auf die Schliche gekommen!
Als er gegenüber Huck noch den dummen Schwarzen spielt, sagt er einmal zu ihm: „Da sin die Leute ehm komisch. Die nehm die Lühng, die sie hahm wollen, und schmeißen die Wahrheiten weg, die ihn Angs machng.” Das hat sich nicht verändert!
Everett sagt über Mark Twain außerhalb seines Buches: „Sein Humor und seine Menschlichkeit haben mich beeinflusst, lange bevor ich Schriftsteller wurde.”
Percival Everett, James. Hanser Verlag, München 2024.