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Bücherschau Dezember 2023

„Wir sind spät dran mit der Bücher­schau für die Fei­er­ta­ge. Noch dazu kön­nen wir dies­mal kei­ne Rezen­sio­nen lie­fern, son­dern nur Buch­emp­feh­lun­gen. Das heißt nicht, dass wir die Bücher nicht gele­sen hät­ten. Aber die Rechts­extre­men der diver­sen Schat­tie­run­gen, die der­zeit über­all aus den Büschen sprin­gen, for­dern uns in der aktu­el­len Bericht­erstat­tung so, dass wir kaum Zeit […]

15. Dez 2023

Der fast vergessene Rechtsterrorismus
Rechtsextreme im Staat
Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators (neu bearbeitete Ausgabe)
Wenn die Liebe ruht

Der fast vergessene Rechtsterrorismus

Das Buch von Uffa Jen­sen, His­to­ri­ker am Zen­trum für Anti­se­mi­tis­mus­for­schung der TU Ber­lin, hät­te eigent­lich schon 2020, näm­lich zum 40. Jah­res­tag des titel­ge­ben­den Erlan­ger Dop­pel­mor­des vom 19. Dezem­ber 1980, erschei­nen sol­len, wur­de dann aber pan­de­mie­be­dingt erst 2022 ver­öf­fent­licht. An schnei­den­der Aktua­li­tät hat es den­noch nichts ver­lo­ren. Das zeigt sich an den Pas­sa­gen, in denen Jen­sen die Ver­bin­dung zwi­schen der neo­na­zis­ti­schen Wehr­sport­grup­pe (WSG) Hoff­mann und der paläs­ti­nen­si­schen Befrei­ungs­be­we­gung (PLO) abhandelt.

Die Zusam­men­ar­beit mit der WSG lässt sich per se als anti­se­mi­ti­sche Hand­lung kenn­zeich­nen. Schließ­lich ging es hier­bei um eine Koope­ra­ti­on mit Rechts­extre­mis­ten und Anti­se­mi­ten, die im Liba­non gegen „Juden‘ kämp­fen woll­ten. (…) Wer mit Hoff­mann und Kon­sor­ten zusam­men­ar­bei­te­te, nahm auto­ma­tisch in Kauf, dass auch Juden – und nicht ‚nur‘ Israe­lis – ins Visier gerie­ten. (S.166)

Der Ein­satz der WSG im Liba­non kam über Trai­nings in Aus­bil­dungs­la­gern der PLO nicht hin­aus. Damals war zumin­dest eini­gen wich­ti­gen Kadern der Fatah, der wich­tigs­ten Orga­ni­sa­ti­on der PLO, die klar neo­na­zis­ti­sche (und damit anti­se­mi­ti­sche) Posi­tio­nie­rung der WSG, suspekt, wäh­rend ande­re Tei­le hef­tig koope­rier­ten. Der ver­hee­ren­de Bom­ben­an­schlag auf das Münch­ner Okto­ber­fest im Sep­tem­ber und der anti­se­mi­ti­sche Dop­pel­mord an dem jüdi­schen Erlan­ger Ver­le­ger Shlo­mo Lewin und des­sen Lebens­ge­fähr­tin Fri­da Poesch­ke im Dezem­ber 1980, in die Akti­vis­ten der WSG ver­wi­ckelt waren, beschleu­nig­ten aber staat­li­che Repres­si­on und den Zer­fall der WSG.

Aus­führ­lich behan­delt Jen­sen aber nicht nur die Ereig­nis­se rund um den Erlan­ger Dop­pel­mord und die WSG, son­dern auch die Vor- und die Nach­ge­schich­te des Rechts­ter­ro­ris­mus von 1980. 1980 war „das Jahr der west­deut­schen Rechts­ter­ro­ris­ten; umso befremd­li­cher ist es, dass vie­le die­ser Taten nahe­zu in Ver­ges­sen­heit gerie­ten. Kaum etwas wur­de in der Bun­des­re­pu­blik so aggres­siv und so kon­se­quent beschwie­gen und ver­drängt wie Gewalt von rechts“, ist das Resü­mee von Jen­sen in sei­ner Einleitung.

Ähn­li­ches könn­te übri­gens auch für Öster­reich fest­ge­stellt wer­den – und damit ist nicht der Brief­bom­ben­ter­ror des Franz Fuchs gemeint, der sich über meh­re­re Jah­re hin­zog, son­dern das Jahr 1982, in dem durch eine Serie von anti­se­mi­ti­schen Bom­ben­at­ten­ta­ten (gegen Simon Wie­sen­thal, den dama­li­gen Ober­rab­bi­ner Aki­ba Eisen­berg, den Jour­na­lis­ten Alex­an­der Gie­se und Filia­len der Beklei­dungs­ket­te Schöps) der Rechts­ter­ro­ris­mus in Öster­reich einen vor­läu­fi­gen Höhe­punkt erleb­te. Wer erin­nert (sich) heu­te noch daran?

Uffa Jen­sen, Ein anti­se­mi­ti­scher Dop­pel­mord. Die ver­ges­se­ne Geschich­te des Rechts­ter­ro­ris­mus in der Bun­des­re­pu­blik. Suhr­kamp Ver­lag, Frankfurt/Main 2022

Rechtsextreme im Staat

2020 haben wir das Buch „Extre­me Sicher­heit. Rechts­ra­di­ka­le in Poli­zei, Ver­fas­sungs­schutz, Bun­des­wehr und Jus­tiz“ vor­ge­stellt. Eini­ges ist seit­her pas­siert – und doch wie­der auch nicht. In zwei Lage­be­rich­ten des Ver­fas­sungs­schut­zes wird das The­ma Rechts­extre­mis­mus und Reichs­bür­ger in den Sicher­heits­be­hör­den doku­men­tiert. Ein drit­ter Lage­be­richt ist für 2024 geplant. Das alles gilt für Deutsch­land, nicht aber für Öster­reich, wo es kei­ne Lage­be­rich­te zu die­sem The­ma gibt, nicht ein­mal Anmer­kun­gen oder Fuß­no­ten in den Ver­fas­sungs­schutz­be­rich­ten der letz­ten Jah­re. Dabei wäre hier genug zu recher­chie­ren und zu doku­men­tie­ren. Von den Exe­ku­tiv­be­am­ten, die mit rechts­extre­men Corona-Maßnahmengegner*innen fra­ter­ni­siert haben über die bei den öster­rei­chi­schen Staats­ver­wei­ge­rer akti­ven Poli­zis­ten bis hin zu Sym­pa­thi­san­ten der Identitären.

Weil sich aber deut­sche Antifaschist*innen nicht mit Pflicht­übun­gen des Ver­fas­sungs­schut­zes zufrie­den geben wol­len, ist das The­ma Rechts­extre­mis­mus in den Sicher­heits­be­hör­den nach wie vor eines, das Zivil­ge­sell­schaft, Medi­en und auch Poli­tik beschäf­tigt. – und die Herausgeber*innen des oben zitier­ten Buches „Extre­me Sicher­heit“, die jetzt den Nach­fol­ge­band „Staats­ge­walt. Wie rechts­ra­di­ka­le Netz­wer­ke die Sicher­heits­be­hör­den unter­wan­dern“ im Her­der-Ver­lag ver­öf­fent­licht haben.

Wobei „Sicher­heits­be­hör­den“ eine etwas unge­naue und unzu­rei­chen­de Bezeich­nung ist für jene Insti­tu­tio­nen, Ereig­nis­se und Per­so­nen ist, die in dem Sam­mel­band vor­ge­stellt wer­den. Da geht es nicht bloß um die Ein­rich­tun­gen, die in Deutsch­land unter dem Über­be­griff „Sicher­heits­be­hör­den” zusam­men­ge­fasst wer­den, son­dern auch um die Jus­tiz, wo zuletzt der rechts­extre­me Rich­ter Jens Mai­er, ein ehe­ma­li­ger AfD-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter, der im Kapi­tel „Rech­te in Roben“ abge­han­delt wird, eine tota­le Nie­der­la­ge vor dem Bun­des­ge­richts­hof erlit­ten hat: Er darf nicht in den Rich­ter­dienst zurückkehren.

Zum Zeit­punkt der Druck­le­gung des Buches war die­se letzt­in­stanz­li­che Ent­schei­dung noch aus­stän­dig. War­um sie not­wen­dig war, wird aber durch die geschil­der­ten Ent­schei­dun­gen des Rich­ters, der sich selbst als „klei­ner Höcke“ bezeich­ne­te, klar. So hat­te er zum Bei­spiel als des­sen Vor­red­ner bei einer AfD-Ver­an­stal­tung gegen Migrant*innen und die Auf­ar­bei­tung von Ver­bre­chen des Natio­nal­so­zia­lis­mus gehetzt.

Natür­lich wird auch Bir­git Mal­sack-Win­ke­mann, eine wei­te­re Ex-AfD-Abge­ord­ne­te und Rich­te­rin vor­ge­stellt, die eine der Haupt­an­ge­klag­ten im Pro­zess gegen die Reichs­bür­ger­grup­pe um Hein­rich Reuß wer­den dürf­te. Aber in die­ser mut­maß­lich rechts­ter­ro­ris­ti­schen Grup­pe war auch der Kri­mi­nal­haupt­kom­mis­sar Micha­el F. aus dem Land­kreis Hil­des­heim aktiv, der 2019 vom nie­der­säch­si­schen Innen­mi­nis­te­ri­um damit beauf­tragt wur­de, die Sicher­heit jüdi­scher Ein­rich­tun­gen zu begut­ach­ten – was er gegen­über der Jüdi­schen Gemein­de Han­no­ver prompt ver­wei­ger­te: der brau­ne Bock als Gärt­ner. Allein die­ses Bei­spiel erklärt, was die Herausgeber*innen in ihrer Ein­lei­tung ankla­gen: „Die­ses Buch ver­misst auch die Reak­tio­nen des Rechts­staats auf eine Rei­he bekann­ter Sach­ver­hal­te. (…) Wie ein roter Faden zie­hen sich die Gren­zen der straf- und dis­zi­pli­nar­recht­li­chen Auf­ar­bei­tun­gen durch vie­le Bei­trä­ge.“ (S. 21)

Was in dem Bei­trag „Hes­si­sche Zustän­de. Poli­tik, Ver­wal­tung, Jus­tiz – ein Bun­des­land im Tief­schlaf“ über die brau­nen Umtrie­be des NSU 2.0 in der Frank­fur­ter Poli­zei zusam­men­ge­fasst wird, bleibt zwar nach wie vor weit­ge­hend ohne Auf­klä­rung und Kon­se­quen­zen, wird aber in der öffent­li­chen Debat­te etwa durch die Bei­trä­ge im ZDF-Maga­zin Roya­le von Jan Böh­mer­mann weitergetragen.

Hei­ke Kleff­ner, Mat­thi­as Meis­ner (Hg.), Staats­ge­walt. Wie rechts­ra­di­ka­le Netz­wer­ke die Sicher­heits­be­hör­den unter­wan­dern. Ver­lag Her­der, Frei­burg im Breis­gau. 2023

➡️ ZDF-Maga­zin Roya­le vom 29.9.23: „Was deut­sche Poli­zis­ten lus­tig finden“
➡️ ZDF-Maga­zin Roya­le vom 6.10.23: „Was die Poli­zei mit dem NSU 2.0 zu tun hat“
➡️ Lage­be­richt Rechts­extre­mis­ten in Sicher­heits­be­hör­den. 2020
➡️ Lage­be­richt Rechts­extre­mis­ten, „Reichs­bür­ger“ und „Selbst­ver­wal­ter“ in Sicher­heits­bör­den. 2022
➡️ Klei­ne Anfra­ge Mar­ti­na Ren­ner zum Lage­bild Rechts­extre­mis­ten in Sicher­heits­be­hör­den. 2022

Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators

Kei­ne Fra­ge, das Buch von Bri­git­te Hamann, Hit­lers Wien, ist mitt­ler­wei­le ein Klas­si­ker, der die unzäh­li­gen Ver­su­che, den Dik­ta­tor aus sei­ner Bio­gra­fie her­aus zu erklä­ren, über­strahlt, indem es eine wesent­li­che Peri­ode, näm­lich die „Lehr­jah­re eines Dik­ta­tors“ in Wien, durch­leuch­tet. Die gebun­de­ne Aus­ga­be von 1996 ist nicht mehr erhält­lich, aber wohl noch das Taschen­buch (bei Piper). Wozu jetzt also eine kom­plet­te Neu­be­ar­bei­tung, erwei­tert von den bei­den His­to­ri­kern Johan­nes Sachsleh­ner und Oli­ver Rathkolb?

Eine Ant­wort ver­sucht Oli­ver Rath­kolb in sei­nem Vor­wort zu geben. Die Bewer­tung wich­ti­ger Quel­len wie der Auf­zeich­nun­gen des Hit­ler-Freun­des August Kubi­zek oder auch des Hit­ler-Geg­ners Franz Jet­zin­ger habe sich mitt­ler­wei­le geän­dert. Im Kern geht es aber um die bei Hamann noch unent­schie­de­ne Ein­schät­zung, ob Hit­ler schon in sei­ner Wie­ner Zeit ein Anti­se­mit war oder – was etwa der His­to­ri­ker Ralf Georg Reuth in sei­ner Hit­ler-Bio­gra­fie aus 2002 und spä­ter dann noch ein­deu­ti­ger in sei­nem Buch über Hit­lers Juden­hass tat­säch­lich ver­sucht hat – ein Freund der Juden.

Die­se nicht unwich­ti­ge Fra­ge ist mitt­ler­wei­le durch neue­re Quel­len und die Arbeit von Han­nes Lei­din­ger und Chris­ti­an Rapp über „Hit­ler – Prä­gen­de Jah­re“ aus 2020 weit­ge­hend geklärt: Hit­ler war schon in sei­nen Wie­ner Jah­ren Anti­se­mit.

Es gibt aber auch noch einen ande­ren Grund, der für die Neu­be­ar­bei­tung spricht: ein gegen­über dem Ori­gi­nal deut­lich ver­bes­ser­tes Lay­out, das durch lese­freund­li­che Schrift­ty­pen, aber vor allem durch eine üppi­ge Bild­aus­stat­tung glänzt.

Bri­git­te Hamann, Johan­nes Sachsleh­ner, Oli­ver Rath­kolb, Hit­lers Wien. Lehr­jah­re eines Dik­ta­tors. Mol­den Ver­lag Wien. 2022

Fast gelesen

Wenn das neue Buch des slo­we­ni­schen Schrift­stel­lers Dra­go Jančar („Als die Welt ent­stand“) auch nur annä­hernd so gut ist wie sein 2017 ins Deut­sche über­setz­ter Roman „Wenn die Lie­be ruht“, dann soll­te man auch das lesen. Aber wir müs­sen geste­hen: Das neue ken­nen wir nicht, das älte­re emp­feh­len wir drin­gend! Ein wirk­lich bril­lant geschrie­be­ner Roman über den Zwei­ten Welt­krieg in Slo­we­ni­en, über Maribor/Marburg, über Par­ti­sa­nen und die Gesta­po – und über die Lie­be, die in die­sen Kriegs- und Nazi­zei­ten kei­ne Chan­ce hatte.

Dra­go Jančar, Wenn die Lie­be ruht. Paul Zsol­nay Ver­lag, Wien. 2017