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Prozess wegen Sprengstoffanschlag auf Grazer Geflüchtetenunterkunft offenbart behördliches Versagen

Der drei­tä­gi­ge Pro­zess gegen jene Per­so­nen, die 2010 in Graz-Pun­­ti­­gam einen Spreng­stoff­an­schlag auf ein Cari­­tas-Geflüch­­te­­ten­heim ver­übt haben sol­len, offen­bar­te vor allem eines: behörd­li­ches Ver­sa­gen, das zu einem unver­meid­li­chen Frei­spruch in den wesent­li­chen Ankla­ge­punk­ten führ­te. Eine Auf­lis­tung. Viel ver­schwun­den Bereits die ers­ten zwei Pro­zess­ta­ge im Dezem­ber brach­ten Über­ra­schun­gen: Nach­dem der zum Zeit­punkt des Anschlags 15-jäh­ri­­ge erstangeklagte […]

5. Feb 2024

Viel verschwunden

Bereits die ers­ten zwei Pro­zess­ta­ge im Dezem­ber brach­ten Über­ra­schun­gen: Nach­dem der zum Zeit­punkt des Anschlags 15-jäh­ri­ge erst­an­ge­klag­te Sebas­ti­an K. von drei Richter*innen, zwei Ver­tei­di­gern und ein­zel­nen Geschwo­re­nen zum Ver­lauf des Anschlags befragt wor­den war und K. auch schil­der­te, was er wann getan hat­te, wider­rief er sein Geständ­nis und erklär­te, er sei vom Lan­des­ver­fas­sungs­schutz der­ma­ßen unter Druck gesetzt wor­den, dass er die Tat gestan­den habe. Zuvor hat­te er in den poli­zei­li­chen Ver­neh­mun­gen min­des­tens sechs unter­schied­li­che Vari­an­ten des Tat­her­gangs auf­ge­tischt, was offen­bar nicht dazu geführt hat­te, die wesent­li­chen Lini­en sei­nes Geständ­nis­ses zu hin­ter­fra­gen. Es blie­ben jede Men­ge an Unge­reimt­hei­ten offen – schlim­mer noch: Ein Audio­mit­schnitt sei­nes Geständ­nis­ses war ver­schwun­den, die ver­schrift­li­che Ver­si­on lie­fer­te kein wort­wört­li­ches Pro­to­koll, son­dern nur eine sinn­ge­mä­ße Wie­der­ga­be des Geständ­nis­ses, die zu Bean­stan­dun­gen und Ein­sprü­chen durch die Ver­tei­di­gung vor Gericht führte.

Nicht mehr auf­find­bar im Lan­des­ver­fas­sungs­schutz (LVT) war zudem auch noch eine Rei­he wei­te­rer Beweis­stü­cke, was die fall­füh­ren­de Gra­zer Staats­an­walt­schaft nicht dar­an gehin­dert hat­te, eine wacke­li­ge Ankla­ge mit vie­len Leer­stel­len zu for­mu­lie­ren – wofür sie den­noch zwei Jah­re gebraucht hatte!

Eine vor­lie­gen­de DNA-Pro­be pass­te zu kei­nen der drei Ange­klag­ten. Wei­te­re Spu­ren­trä­ger (Horn­haut und Haa­re) waren erst gar nicht aus­ge­wer­tet wor­den. Eine vom Gericht im Dezem­ber ange­ord­ne­te nach­träg­li­che Aus­wer­tung und ein Abgleich mit der DNA der Ange­klag­ten war nicht mehr mög­lich, da auch die­se Spu­ren­trä­ger ver­schwun­den sind.

Das Gericht woll­te bis zur Fort­set­zung des Pro­zes­ses ein Gut­ach­ten, das die Ange­klag­ten mit einem Über­wa­chungs­vi­deo aus der dem Geflüch­te­ten­heim gegen­über­lie­gen­den Bank abglei­chen soll­te: Alle Ori­gi­nal­bil­der und Vide­os sind nicht mehr auffindbar.

Zwei Augen­zeu­gen sag­ten am drit­ten Ver­hand­lungs­tag in Leo­ben aus: Einer berich­te­te davon, dass sei­ne Aus­sa­ge nach dem Atten­tat bei der Poli­zei teil­wei­se nicht mit der Ver­schrift­li­chung über­ein­stim­me. Man habe ihm ein Fahn­dungs­fo­to aus der „Kro­nen Zei­tung“ vor­ge­hal­ten, das sich wie­der­um nicht im Akt befand; danach wur­de erst wäh­rend des drit­ten Ver­hand­lungs­ta­ges im Gericht gegoogelt.

Fahndungsfoto zum Sprengstoffanschlag (Kronen Zeitung, 15.9.10)
Fahn­dungs­fo­to zum Spreng­stoff­an­schlag (Kro­nen Zei­tung, 15.9.10)

Der zwei­te Zeu­ge war zwar ein­ver­nom­men wor­den, ein Pro­to­koll liegt jedoch nicht vor. Bei­de Zeu­gen konn­ten vor Gericht nach über 13 Jah­ren kei­ne genau­en Anga­ben mehr über die gesehene(n) Person(en) machen.

Ein Mit­schü­ler von K. war zwar ver­nom­men wor­den, des­sen Name war aller­dings nicht mehr auf­find­bar. Das ver­an­lass­te den Staats­an­walt im Schluss­plä­doy­er fest­zu­stel­len: „Es war nicht beson­ders geschickt, das muss ich sagen, dass sie [Ermitt­ler] bei einem Mit­schü­ler nach­fra­gen, aber des­sen Namen nicht aufschreiben.“

Die Prozessführung

Das Gericht hat­te sich ein ambi­tio­nier­tes Pro­gramm für die drei Ver­hand­lungs­ta­ge vor­ge­nom­men. Vie­le Zeug*innen wur­den gela­den, bis auf einen frü­he­ren Bewoh­ner der Geflüch­te­ten­un­ter­kunft kamen auch alle – einer, der zu den neo­na­zis­ti­schen Umtrie­ben in der Maria­zel­ler Sil­va­n­ab­ar und einem angeb­li­chen Hit­ler­gruß des Dritt­an­ge­klag­ten Klaus E. aus­sa­gen soll­te, aller­dings ver­spä­tet und nur nach Andro­hung, dass er bei Nicht­er­schei­nen mit einer emp­find­li­chen Stra­fe zu rech­nen habe. Aus dem LVT war jedoch nur ein Ver­tre­ter gela­den, der immer wie­der von sei­nem Kol­le­gen sprach, der bereits 2010 in Graz tätig war und „ein Foto aus der Über­wa­chungs­ka­me­ra behal­ten“ hatte.

Wäh­rend viel Zeit dafür ver­wen­det wur­de, um her­aus­zu­fin­den, ob und wo es an Gra­zer Bahn­hö­fen 2010 Schließ­fä­cher mit Schlüs­sel gege­ben hat­te (konn­te nur teil­wei­se geklärt wer­den), blieb für die Befra­gung ein­zel­ner Zeug*innen ver­gleichs­wei­se wenig Raum. Auf­fal­lend war auch der teil­wei­se abwer­ten­de Befra­gungs­stil – ins­be­son­de­re gegen­über Sebas­ti­an K..

Dass ange­sichts der Schwe­re der Vor­wür­fe – es wur­de immer­hin nach § 3f des Ver­bots­ge­set­zes mit einer Straf­an­dro­hung von zehn bis 20 Jah­ren, bei beson­de­rer Gefähr­lich­keit des Täters oder der Tat sogar mit lebens­lan­ger Frei­heits­stra­fe bedroht, ver­han­delt – im Pro­zess fort­wäh­rend von der „rech­ten Sze­ne“ die Rede war, anstatt die zutref­fen­den Zuschrei­bun­gen „rechts­extrem“ bzw. „neo­na­zis­tisch“ zu for­mu­lie­ren, ist ange­sichts aller ande­ren Ver­feh­lun­gen nur mehr ein Detail am Rande.

Nicht in der Ankla­ge ent­hal­ten war das Tat­too einer „Schwar­zen Son­ne“ beim Dritt­an­ge­klag­ten Klaus E.; dar­auf stieß der Leob­ner Staats­an­walt beim Goo­geln nach dem Namen des Ange­klag­ten vor dem drit­ten Pro­zess­tag, womit die Ankla­ge um die­ses Delikt erwei­tert wur­de. „Stoppt die Rech­ten“ ist bereits vor Ver­hand­lungs­be­ginn im Dezem­ber fün­dig gewor­den. In der Ankla­ge­schrift ent­hal­ten war jedoch ein von E. gepos­te­tes Kel­ten­kreuz, das unse­res Wis­sens nach in Deutsch­land, aber nicht in Öster­reich straf­bar ist.

"Schwarze Sonne" am Ellenbogen des Drittangeklagten Klaus E. (Foto auf einem antifaschistischen Portal im April 2022 veröffentlicht)
„Schwar­ze Son­ne” am Ellen­bo­gen des Dritt­an­ge­klag­ten Klaus E. (Foto auf einem anti­fa­schis­ti­schen Por­tal im April 2022 veröffentlicht)

Bei all den Über­ra­schun­gen und Nach­läs­sig­kei­ten war das Urteil der Geschwo­re­nen nur mehr logisch: Frei­sprü­che für das Spreng­stoff­at­ten­tat und für fast alle in der Ankla­ge gelis­te­ten Delik­te nach dem Ver­bots­ge­setz, nicht rechts­kräf­ti­ge Schuld­sprü­che für das Tat­too einer Lebens- und Todes­ru­ne auf den Fin­gern des Erst­an­ge­klag­ten (15 Mona­te bedingt) und die „Schwar­ze Son­ne“ auf dem Arm des Dritt­an­ge­klag­ten (24 Mona­te bedingt). Der Zweit­an­ge­klag­te Tobi­as W., Stief­bru­der des Haupt­be­las­tungs­zeu­gen, kam ohne Ver­ur­tei­lung davon.

Ange­sichts der nicht nach­voll­zieh­ba­ren Serie an Unge­reimt­hei­ten, ver­schwun­de­nen Beweis­mit­teln und des Pro­zess­aus­gangs ist eine Pres­se­aus­sendung des Innen­mi­nis­te­ri­ums vom Okto­ber 2021 nur als Sati­re­bei­trag ohne Unter­hal­tungs­wert ein­zu­ord­nen. Damals ver­laut­bar­te das BMI: Spreng­stoff­an­schlag nach erneu­ter Sich­tung von Video­auf­zeich­nun­gen nach über elf Jah­ren geklärt – Ermitt­lun­gen gegen meh­re­re Tat­ver­däch­ti­ge, einer davon gestän­dig.“ Heu­te wis­sen wir: Nichts ist geklärt!

P.S.: Kurz im Pro­zess erwähnt wur­de der bes­tens ver­netz­te Neo­na­zi D.P., der zum Zeit­punkt des Anschlags in der Nach­bar­schaft des Heims gewohnt hat­te. Ob der wäh­rend der Ermitt­lun­gen auch befragt wur­de und falls ja, wann und wie inten­siv, ist nicht bekannt. Auch wel­che Per­so­nen aus dem Umkreis der „Skin­heads Stei­er­mark“ mit den vor­han­de­nen DNA-Spu­ren abge­gli­chen wur­den, sorg­te für Ver­wun­de­rung, da aus­ge­rech­net der Haupt­be­las­tungs­zeu­ge Han­nes P. aus­ge­nom­men wurde.

Update 22.2.24: Der Jour­na­list Chris­toph Mack­in­ger berich­tet via X, dass Nich­tig­keits­be­schwer­de und Beru­fung ein­ge­legt wur­de. Laut Mack­in­ger woll­te der Gerichts­spre­cher kei­ne Aus­kunft ertei­len, von wem die Rechts­mit­tel ein­ge­legt wur­den. Das Urteil ist daher nicht rechts­kräf­tig. Soll­te der Obers­te Gerichts­hof das Urteil auf­he­ben, müss­te der Pro­zess wie­der­holt werden.

Wir dan­ken dem Team von prozess.report, dem „Doku Ser­vice Stei­er­mark“ und „von Unten“ für drei lan­ge Tage Pro­zess­be­ob­ach­tung und die Mit­schrift mit 50 dicht­be­schrie­be­nen Sei­ten. Wir beto­nen: Die­se Arbeit erfolgt ehrenamtlich!

➡️ Stan­dard: Spreng­stoff­an­schlag auf Flücht­lings­un­ter­kunft in Graz: Frei­sprü­che und Verurteilungen
➡️ „Stoppt die Rech­ten“ über die ers­ten zwei Ver­hand­lungs­ta­ge: Eine Nazi-Gele­gen­heits­per­son als Hauptbelastungszeuge