Viel verschwunden
Bereits die ersten zwei Prozesstage im Dezember brachten Überraschungen: Nachdem der zum Zeitpunkt des Anschlags 15-jährige erstangeklagte Sebastian K. von drei Richter*innen, zwei Verteidigern und einzelnen Geschworenen zum Verlauf des Anschlags befragt worden war und K. auch schilderte, was er wann getan hatte, widerrief er sein Geständnis und erklärte, er sei vom Landesverfassungsschutz dermaßen unter Druck gesetzt worden, dass er die Tat gestanden habe. Zuvor hatte er in den polizeilichen Vernehmungen mindestens sechs unterschiedliche Varianten des Tathergangs aufgetischt, was offenbar nicht dazu geführt hatte, die wesentlichen Linien seines Geständnisses zu hinterfragen. Es blieben jede Menge an Ungereimtheiten offen – schlimmer noch: Ein Audiomitschnitt seines Geständnisses war verschwunden, die verschriftliche Version lieferte kein wortwörtliches Protokoll, sondern nur eine sinngemäße Wiedergabe des Geständnisses, die zu Beanstandungen und Einsprüchen durch die Verteidigung vor Gericht führte.
Nicht mehr auffindbar im Landesverfassungsschutz (LVT) war zudem auch noch eine Reihe weiterer Beweisstücke, was die fallführende Grazer Staatsanwaltschaft nicht daran gehindert hatte, eine wackelige Anklage mit vielen Leerstellen zu formulieren – wofür sie dennoch zwei Jahre gebraucht hatte!
Eine vorliegende DNA-Probe passte zu keinen der drei Angeklagten. Weitere Spurenträger (Hornhaut und Haare) waren erst gar nicht ausgewertet worden. Eine vom Gericht im Dezember angeordnete nachträgliche Auswertung und ein Abgleich mit der DNA der Angeklagten war nicht mehr möglich, da auch diese Spurenträger verschwunden sind.
Das Gericht wollte bis zur Fortsetzung des Prozesses ein Gutachten, das die Angeklagten mit einem Überwachungsvideo aus der dem Geflüchtetenheim gegenüberliegenden Bank abgleichen sollte: Alle Originalbilder und Videos sind nicht mehr auffindbar.
Zwei Augenzeugen sagten am dritten Verhandlungstag in Leoben aus: Einer berichtete davon, dass seine Aussage nach dem Attentat bei der Polizei teilweise nicht mit der Verschriftlichung übereinstimme. Man habe ihm ein Fahndungsfoto aus der „Kronen Zeitung“ vorgehalten, das sich wiederum nicht im Akt befand; danach wurde erst während des dritten Verhandlungstages im Gericht gegoogelt.
Der zweite Zeuge war zwar einvernommen worden, ein Protokoll liegt jedoch nicht vor. Beide Zeugen konnten vor Gericht nach über 13 Jahren keine genauen Angaben mehr über die gesehene(n) Person(en) machen.
Ein Mitschüler von K. war zwar vernommen worden, dessen Name war allerdings nicht mehr auffindbar. Das veranlasste den Staatsanwalt im Schlussplädoyer festzustellen: „Es war nicht besonders geschickt, das muss ich sagen, dass sie [Ermittler] bei einem Mitschüler nachfragen, aber dessen Namen nicht aufschreiben.“
Die Prozessführung
Das Gericht hatte sich ein ambitioniertes Programm für die drei Verhandlungstage vorgenommen. Viele Zeug*innen wurden geladen, bis auf einen früheren Bewohner der Geflüchtetenunterkunft kamen auch alle – einer, der zu den neonazistischen Umtrieben in der Mariazeller Silvanabar und einem angeblichen Hitlergruß des Drittangeklagten Klaus E. aussagen sollte, allerdings verspätet und nur nach Androhung, dass er bei Nichterscheinen mit einer empfindlichen Strafe zu rechnen habe. Aus dem LVT war jedoch nur ein Vertreter geladen, der immer wieder von seinem Kollegen sprach, der bereits 2010 in Graz tätig war und „ein Foto aus der Überwachungskamera behalten“ hatte.
Während viel Zeit dafür verwendet wurde, um herauszufinden, ob und wo es an Grazer Bahnhöfen 2010 Schließfächer mit Schlüssel gegeben hatte (konnte nur teilweise geklärt werden), blieb für die Befragung einzelner Zeug*innen vergleichsweise wenig Raum. Auffallend war auch der teilweise abwertende Befragungsstil – insbesondere gegenüber Sebastian K..
Dass angesichts der Schwere der Vorwürfe – es wurde immerhin nach § 3f des Verbotsgesetzes mit einer Strafandrohung von zehn bis 20 Jahren, bei besonderer Gefährlichkeit des Täters oder der Tat sogar mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht, verhandelt – im Prozess fortwährend von der „rechten Szene“ die Rede war, anstatt die zutreffenden Zuschreibungen „rechtsextrem“ bzw. „neonazistisch“ zu formulieren, ist angesichts aller anderen Verfehlungen nur mehr ein Detail am Rande.
Nicht in der Anklage enthalten war das Tattoo einer „Schwarzen Sonne“ beim Drittangeklagten Klaus E.; darauf stieß der Leobner Staatsanwalt beim Googeln nach dem Namen des Angeklagten vor dem dritten Prozesstag, womit die Anklage um dieses Delikt erweitert wurde. „Stoppt die Rechten“ ist bereits vor Verhandlungsbeginn im Dezember fündig geworden. In der Anklageschrift enthalten war jedoch ein von E. gepostetes Keltenkreuz, das unseres Wissens nach in Deutschland, aber nicht in Österreich strafbar ist.
Bei all den Überraschungen und Nachlässigkeiten war das Urteil der Geschworenen nur mehr logisch: Freisprüche für das Sprengstoffattentat und für fast alle in der Anklage gelisteten Delikte nach dem Verbotsgesetz, nicht rechtskräftige Schuldsprüche für das Tattoo einer Lebens- und Todesrune auf den Fingern des Erstangeklagten (15 Monate bedingt) und die „Schwarze Sonne“ auf dem Arm des Drittangeklagten (24 Monate bedingt). Der Zweitangeklagte Tobias W., Stiefbruder des Hauptbelastungszeugen, kam ohne Verurteilung davon.
Angesichts der nicht nachvollziehbaren Serie an Ungereimtheiten, verschwundenen Beweismitteln und des Prozessausgangs ist eine Presseaussendung des Innenministeriums vom Oktober 2021 nur als Satirebeitrag ohne Unterhaltungswert einzuordnen. Damals verlautbarte das BMI: „Sprengstoffanschlag nach erneuter Sichtung von Videoaufzeichnungen nach über elf Jahren geklärt – Ermittlungen gegen mehrere Tatverdächtige, einer davon geständig.“ Heute wissen wir: Nichts ist geklärt!
P.S.: Kurz im Prozess erwähnt wurde der bestens vernetzte Neonazi D.P., der zum Zeitpunkt des Anschlags in der Nachbarschaft des Heims gewohnt hatte. Ob der während der Ermittlungen auch befragt wurde und falls ja, wann und wie intensiv, ist nicht bekannt. Auch welche Personen aus dem Umkreis der „Skinheads Steiermark“ mit den vorhandenen DNA-Spuren abgeglichen wurden, sorgte für Verwunderung, da ausgerechnet der Hauptbelastungszeuge Hannes P. ausgenommen wurde.
Update 22.2.24: Der Journalist Christoph Mackinger berichtet via X, dass Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung eingelegt wurde. Laut Mackinger wollte der Gerichtssprecher keine Auskunft erteilen, von wem die Rechtsmittel eingelegt wurden. Das Urteil ist daher nicht rechtskräftig. Sollte der Oberste Gerichtshof das Urteil aufheben, müsste der Prozess wiederholt werden.
Wir danken dem Team von prozess.report, dem „Doku Service Steiermark“ und „von Unten“ für drei lange Tage Prozessbeobachtung und die Mitschrift mit 50 dichtbeschriebenen Seiten. Wir betonen: Diese Arbeit erfolgt ehrenamtlich!
➡️ Standard: Sprengstoffanschlag auf Flüchtlingsunterkunft in Graz: Freisprüche und Verurteilungen
➡️ „Stoppt die Rechten“ über die ersten zwei Verhandlungstage: Eine Nazi-Gelegenheitsperson als Hauptbelastungszeuge