Florian Wenninger, Forschungsbeauftragter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, war der offizielle, von der Oberstaatsanwaltschaft Graz bestellte Gutachter. Wenninger war zur Verhandlung geladen, konnte daran jedoch nicht teilnehmen, weil es mit der Zustellung der Ladung an ihn nicht geklappt hat. Wenninger war also nicht anwesend, konnte weder sein Gutachten erläutern noch auf die Angriffe des Scheuch-Verteidigers und früheren FPÖ-Mandatars Christian Leyroutz antworten, der ihm Parteilichkeit vorwarf und als Sachverständigen abgelöst wissen wollte.
Der Verteidiger und „Alte Herr“ der deutschen Burschenschaft Suevia in Innsbruck hatte deshalb einen „anerkannten Runologen“ zur Hand, dessen privates „Gutachten“ er dem Gericht auch zur Verfügung stellen wollte. Die Vorsitzende Richterin war von der Vorstellung, einem Streit zwischen zwei Gutachtern ausweichen zu können, offensichtlich sehr angetan und stellte die Frage, ob es nicht ausreichen würde, beide Gutachten den Geschworenen zu präsentieren. Der Verteidiger fand diesen Vorschlag ausgezeichnet, während der Staatsanwalt zunächst noch anmerkte, dass es sich bei dem einen Gutachten um das offizielle, von einem seriösen Wissenschafter, erstellte handle, während das andere die Stellungnahme eines dubiosen Runenforschers sei. Das hinderte ihn aber nicht, dem Vorschlag der Richterin zuzustimmen – beide Gutachten wurden den Geschworenen für ihre Beratungen mitgegeben. Das war – mit Verlaub! – nicht nur ein grober Fehler, sondern inakzeptabel. Warum?
Punkt eins: die Runologie
Die gibt es wirklich. Sie beschäftigt sich mit Runenschrift und Runendenkmälern „mit philologischen Mitteln, um Erkenntnisse über Kultur und Sprachgeschichte zur Zeit der Völkerwanderung und der Wikinger zu gewinnen“ (wikipedia). Für die Einschätzung der Runensymbolik der NS-Ära und des Rechtsextremismus danach ist die Runologie weder zuständig noch kompetent.
Punkt zwei: der Runologe
Bei dem in der Verhandlung als „Weißmann“ vorgestellten Privatgutachter der Verteidigung handelt es sich um niemand anderen als um den in Deutschlands rechtsextremer Szene wohlbekannten Karlheinz Weißmann, einen pensionierten Gymnasiallehrer, der gerne als einer der Vordenker der „Neuen Rechten“ in Deutschland bezeichnet wird. Eine schmeichelhafte Titulierung, denn die „Neue Rechte“ schaut oft ziemlich alt aus – vor allem, wenn sie sich mit der Nazi-Ära beschäftigt.
Das gilt auch und im Besonderen für Weißmann, der schon vor Jahrzehnten einen veritablen Skandal verursachte, als er den Band 9 der Propyläen-Reihe über die Geschichte Deutschlands verfasste, in dem er – ausgerechnet! – die Zeit des Nationalsozialismus abhandeln sollte. Als der Band 1995 unter merkwürdigen Begleitumständen erschien, sorgte er für einen veritablen Skandal. Die Fülle an Beispielen für historischen Revisionismus in dem Werk war so erdrückend, dass sich der Verlag dazu entschloss, das bereits im Verkauf befindliche Machwerk wieder vom Markt zu nehmen und den ursprünglich vorgesehenen Historiker Hans Mommsen mit der Neufassung zu beauftragen.
Weißmann aber machte weiter. 1998 erschien dann ein wieder Werk von ihm: „Der Nationale Sozialismus. Ideologie und Bewegung 1890–1933“, über das die liberalkonservative „Neue Zürcher Zeitung“ (2.6.1999) in einer Rezension so urteilte:
Weissmanns Abhandlung versucht eine „Ehrenrettung” des Nationalsozialismus mittels ideologischer Aufwertung, unter Ausblendung des totalen Rassenkampfes. Er erwähnt zwar die „Schatten”, räumt Fehler und Mängel ein, aber behauptet noch zuallerletzt, stärkster Impuls der NS-Ideologie sei die Verteidigung der Nation und die umfassende soziale Integration ihrer Glieder zum Zwecke „einer wie auch immer definierten Selbstbehauptung” gewesen.
Auch weitere Publikationen von Weißmann sind einschlägig, etwa „Das Hakenkreuz. Symbol eines Jahrhunderts“ (2006) oder „Die Besiegten. Die Deutschen in der Stunde des Zusammenbruchs“.
Bevor wir das Kapitel zum Runologen Weißmann schließen, noch eine scharfsinnige Charakteristik, die der evangelische Theologe Johann Hinrich Claussen vor zwei Jahren im „Tagesspiegel“ (5.3.21) vorgenommen hat, in der auch die Liebe Weißmanns für die Runen erwähnt wird:
Geschmeidig passt sich Weißmann dem „Zeitgeist“ einer entnazifizierten Bundesrepublik an, in der ausdrückliche Judenfeindlichkeit geächtet ist. Doch man muss nur an der Fassade seiner Texte kratzen, schon stößt man auf dieses giftige Erbe.
Befremdlich, aber auch passend ist, wie intensiv Weißmann sich der Erforschung „germanischer“ Mythen und Symbole widmet. Ihnen hat er einen Großteil seiner Lebensarbeitszeit geopfert, ohne jedoch zu erklären, was er damit bezweckt. Er muss eigentlich wissen, dass es sich bei Runen, Hakenkreuz oder Irminsul selten um authentisch-germanische Zeichen, sondern um Erfindungen einer völkischen Retro-Utopie aus den 20er Jahren handelt.
Punkt drei: Das Versagen der Berufsrichter*innen
Wir unterstellen hier einmal, dass weder Berufsrichter*innen noch Geschworene wussten, wer denn dieser Runologe wirklich ist. Woher auch. Vielleicht der Staatsanwalt, der aber nur eine kurze abschätzige Bemerkung über ihn machte. Während der Verteidiger und mutmaßliche Gesinnungsfreund Weißmanns den offiziellen Sachverständigen und dessen Gutachten schlechtredete, gab es niemanden, der kritische Fragen zum Runologen und dessen Privatgutachten stellen konnte. Die Entscheidung, beide Schriftstücke, das Gutachten des Wissenschafters und das Geraune eines rechten Runologen, gleichberechtigt den Geschworenen für ihre Entscheidungsfindung mitzugeben, ist nicht nur eine Fehlentscheidung. Sie ist eigentlich ein Skandal. Dass sich die Geschworenen weder für, noch gegen den Angeklagten entscheiden wollten bzw. konnten, ist vor diesem Hintergrund wenig überraschend.
Anhang: Kleine Runenkunde von der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung
Runen im Nationalsozialismus
Im Nationalsozialismus gewann die völkisch-esoterische Interpretation der Runen die Oberhand über eine streng wissenschaftliche Beschäftigung mit jenen. Zwar hatte der junge Helmut Arntz (1912–2007) 1935 ein wissenschaftliches Handbuch der Runenkunde [19] veröffentlicht – die erste umfassende Darstellung seit Die Runenschrift des Dänen Ludvig Wimmer (1839–1920) aus dem Jahr 1874 –, aber er wurde aufgrund seiner wissenschaftlichen Ausrichtung, die sich zwar nicht gegen die NS-„Rassenlehre”, wohl aber gegen die mythische Runenlehre richtete, mit Sanktionen von den unterschiedlichen NS-Organisationen belegt und dadurch in seiner Lehre behindert, trotz seiner Mitgliedschaft in der NSDAP. Dagegen kamen esoterisch-völkische Nationalsozialisten wie der österreichische Veteran Karl Maria Wiligut, bekannt als Weisthor (1866–1946), der schon als Jugendlicher völkische Ideen in Buchform in Umlauf brachte, durch Himmlers Gnaden zu Ehren: Wiligut war bereits 1924 in Österreich wegen sogenannter Schizophrenie und Megalomanie entmündigt worden; bis 1927 befand er sich in der Psychiatrie; 1934 bekam er eine Stelle am „Rasse- und Siedlungshauptamt” (dessen Symbol die von List veränderte Odal-Rune war, s. unten) und wurde schließlich als Mitglied der SS Leiter des dort angesiedelten „Instituts für Vor- und Frühgeschichte”. Wiligut beförderte den Asenglauben – den Glauben an die Germanengötter – und beriet Himmler in Fragen des Okkultismus; daneben war er ein heftiger Verfechter eines germanischen Ursprungs der Runen und unterstützte die Zeitschrift der Edda-Gesellschaft namens „Hagal” (nach der H‑Rune), die allerdings mehrmals durch die SS vor dem Eingehen bewahrt werden musste. Von Himmlers Institut „Ahnenerbe” der SS, unter dessen Dach u.a. Kunst geraubt und systematisch KZ-Häftlinge im Zuge von Menschenversuchen getötet wurden, ließ sich auch der bis dahin durchaus seriöse Runenforscher Wolfgang Krause (1895–1970) vereinnahmen, dessen Tendenz zur symbolischen Deutung der Runen den Interessen der völkischen Esoteriker entgegenkam. [20]
Die bekannteste und verbreitetste Verwendung einer Rune ist die der doppelten S‑Rune als Abzeichen der Waffen-SS in den Jahren 1933–1945: ss. Diese wurde nach der Neudeutung der Runen durch Guido von List, die er als Traumvision erhalten haben wollte, als „Siegrune” bezeichnet, obwohl im Älteren wie im Jüngeren Futhark der Name der Rune mit dem Lautwert /s/ das Wort für „Sonne” (*sōwilō bzw. sól) wiedergab. Der Begriff „Siegrune” taucht zwar im Eddalied Sigrdrífumál in Strophe 6 auf, dürfte sich hier aber auf die T‑Rune beziehen. So hat schon Snorri Sturluson im 13. Jahrhundert offenbar die Strophe verstanden (Edda. Gylfaginning Kap.13), [23] obwohl er den nur in der Sigrdrífumál vorkommenden Begriff „Siegrune” selbst gar nicht nennt. Die Doppelschreibung der S‑Rune ist heute in Deutschland gemäß § 86a StGB verboten, in Österreich ist auch die Einfachschreibung der S‑Rune als Zeichen des „Deutschen Jungvolks” sowie der verbotenen „Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationaler Aktivisten” (ANS/NA) strafbar. | ![]() |
Eine weitere Rune als Zeichen nationalsozialistischer Organisationen ist die O‑Rune O, die vom Nationalsozialismus bis in die Gegenwart weit verbreitet ist. Die Rune mit dem Lautwert /o/ ist die letzte Rune im Älteren Futhark (im Jüngeren Futhark kommt sie nicht mehr vor) und wird dort mit dem erschlossenen Runennamen *ōþilan „Land, Erbbesitz” bezeichnet. Da sie in der jüngeren Runenreihe gar nicht vorkommt, ist eine Deutung, nach der sie in der Wikingerzeit Odin oder den Glauben an ihn symbolisiert haben soll, völlig abwegig. Im Nationalsozialismus findet sie sich in zwei abgewandelten Formen: Als Abteilungszeichen der erst im Februar 1945 etablierten 23. SS-Freiwilligen Panzergrenadier-Division „Nederland” hat die Rune an den unteren Enden Pfeile angesetzt; als Zeichen der schon seit 1941 existierenden 7. SS-Freiwilligen-Gebirgs-Division „Prinz Eugen” trug die Rune unten links und rechts aufwärts gerichtete Ansätze, ebenso als Symbol des „Rasse- und Siedlungshauptamtes” (RuSHA, 1931–1945) der SS. In dieser zweiten Form wird die Rune meist auch heute verwendet, abweichend von der ursprünglichen Runenform. In dieser neuen Form gehört die jetzt unter dem Namen Odal-Rune geläufige Rune auch zu den verbotenen Zeichen gemäß § 86a StGB, sobald sie in Verbindung mit der „Wiking-Jugend” oder dem „Bund Nationaler Studenten” (BNS) gebraucht wird. Diese Rune geht übrigens als eine der wenigen nicht auf die Armanen-Runen Guido von Lists zurück, der seine Runen an der verkürzten jüngeren Runenreihe orientierte. „Odal” heißt immer noch eine 1999 gegründete rechtsextreme Band, die dem Pagan-Black-Metal zuzuordnen ist. Welche Bedeutung die Gruppe der namengebenden Rune zuordnet, wird auch auf der Homepage nicht erklärt, wo die Rune selbst übrigens keineswegs dominant auftritt. [25] | ![]() |
Das bekannteste nationalsozialistische Zeichen pseudo-runischer Art ist die Wolfsangel (ein mittelalterliches Instrument zum Fangen von Wölfen mittels Köder), die zwar zweifellos ein altes Wappen-Symbol ist, niemals aber Teil einer Runenreihe war. Die Bezeichnung „Gibor-Rune” stammt nur von Guido von List und ist eine reine Erfindung. (In der jüngeren Runenreihe gibt es keine G‑Rune mehr, im Älteren Futhark findet sich eine *gebō-Rune G zwar in der Bedeutung „Gabe”, aber niemals in Form der Wolfsangel). Sie wurde als Abzeichen nationalistischer Jungmannschaften schon in den 1930er Jahren ebenso wie bei der HJ verwendet, aber auch nach dem Krieg etwa bei der seit 1982 als verfassungsfeindlich verbotenen Jungen Front. Heute ist die Wolfsangel in Deutschland in Zusammenhang mit rechtsextremer Propaganda verboten. [28] Die Wolfsangel ist in keiner Form als Rune überliefert und kann daher auch nicht als solche bezeichnet werden. | ![]() |
➡️ Der „Reißwolf“ vor Gericht: Kurt Scheuch und die NS-Runen