Die aus den mittelalterlichen antisemitischen Ritualmordlegenden gespeiste Grunderzählung, die über QAnon-Kanäle, vor allem über Telegram, verbreitet wird, hört sich dermaßen abstrus an, dass man geneigt wäre, sie als unbedeutend wegzuwischen. Es geht um einen „tiefen Staat“ („Deep State“), geheime weltweit agierende Eliten, die Kinder kidnappen und in unterirdischen Lagern festhalten würden, um aus deren Zirbeldrüsen das Verjüngungsmittel „Adrenochrom“ abzuzapfen. Einmal abgesehen davon, dass Adrenochrom ohne jegliche Verbrechen und unaufwändiger in Chemielabors hergestellt und sogar via Internet bestellt werden kann, müsste eine Verjüngungskur bei den ursprünglich Beschuldigten wie Hillary Clinton oder diversen Hollywood-Promis nach all den Jahren ihres Treibens eigentlich bemerkbar sein – was zumindest optisch nicht zutrifft.
Doch solche durch Logik inspirierten Interventionen vermögen die Anhänger*innen dieses hanebüchenen Unsinns nicht zu stören, die Verschwörungsmythen blühen weiter mit immer neuen Absurditäten und Verdächtigungen – und das besonders gut in den deutschsprachigen Ländern. CeMAS zählt sechs einschlägige deutschsprachige Telegram-Kanäle mit mehr als 100.000 Abonnent*innen und 115 Kanäle mit mehr als 1.000 Abonnent*innen.
Trump, der QAnon-Held
Donald Trump, der laut der ab 2017 lancierten Q‑Erzählung auserkoren war, den Kampf gegen diesen „Deep State“ zu führen, ist als US-Präsident (vorläufig) Geschichte, was dem Zuspruch keinerlei Abbruch getan hat. Die QAnon-Mythen werden unentwegt weitergestrickt und der jeweiligen Situation angepasst: Corona, die Impfung wurden ins Verschwörungsschema eingefügt, und die QAnon-Narrative erleben seither einen veritablen Höhenflug – besonders hierzulande. Die Aktivitäten in deutschsprachigen Telegram-Kanälen und Gruppen sind in den letzten zwei Jahren der Pandemie förmlich explodiert und halten sich auf einem hohen Niveau. So stellt die CeMAS-Studie auch fest: „Die größte Szene außerhalb der USA findet sich wohl im deutschsprachigen Raum.“ (CeMAS, S. 13) Nicht verwunderlich ist, dass sich Rechtsextreme, das Corona-Maßnahmenprotestmilieu und jenes der Reichsbürger*innen der QAnon-Narrative häufig bedienen.
Die digitalen und physischen Auftritte der QAnon-Anhängerschaft sind neben den Narrativen an diversen Codes erkennbar: Die Abkürzung „WWG1WGA“ steht für den gemeinschaftsstiftenden Satz „Where we go one, we go all“.
Bekannte Phrasen von QAnon sind „down the rabbit hole“ (dt.: »rein in den Kaninchenbau») und „follow the white rabbit“ (dt.: „Folge dem weißen Kaninchen“). Sie werden unter anderem als hashtags auf Twitter und als Shirt-Motive mit Kaninchen-Zeichnungen verbreitet. Sie beziehen sich auf die Erzählung „Alice im Wunderland“ und auf den Film „The Matrix“. Sie stehen sinnbildlich dafür, dass Menschen beginnen, kleinen Zweifeln nachzugehen und dabei die verborgene Welt der Verschwörung entdecken. (dasversteckspiel.de)
Die über QAnon-Kreise ventilierten apokalyptischen Bedrohungen sind dabei so schwerwiegend und emotionalisierend, dass damit fast automatisch ein Freischein erteilt wird, selbst zu handeln und dagegen anzugehen – auch gewalttätig, was mit dem Sturm auf das Washingtoner Kapitol mit dem Ziel, „das System“ zu stürzen, einen vorläufigen Höhepunkt fand. QAnon und deren Wellenreiter tragen also nicht nur zur Desinformation bei, sondern sind auch brandgefährlich. Dementsprechend aufrüttelnd sind die Zahlen, die CeMAS bei 1.970 befragten Personen in Deutschland und 1.012 Personen in Österreich anhand der Zustimmung zu folgenden Punkten erhoben hat:
– Verschwörungserzählung eines Deep State
– Verschwörungserzählung eines angeblich weltweit agierenden satanistischen Kinderhandels
– Verschwörungserzählung zur angeblich gestohlenen Wahl
– Verschwörungserzählung eines angeblichen „großen Sturms“, der kommt, um die „rechtmäßigen Führer“ wiederherzustellen
– Idee, dass „wahre Patrioten“ zur Gewalt greifen müssen, um die Ordnung wiederherzustellen
Die Quintessenz der Befragungsergebnisse
In Österreich stimmen satte 16,2 % zentralen QAnon-Narrativen voll oder eher zu, das ist etwa jede sechste Person. Österreich liegt damit deutlich höher als Deutschland, das einen Zustimmungswert von 12,4 % aufweist. Aber nur 6 % der Befragten in Österreich und 9 % in Deutschland geben an, „eher viel oder sehr viel über QAnon gelesen zu haben. (…) Es zeigt sich: Auch wenn QAnon gesamtgesellschaftlich kaum bekannt ist, schaffen es die Verschwörungserzählungen, die in dieser Szene kursieren, ihren Weg in die Gesellschaft zu finden.“ (CeMAS, S. 40)
Der höchste Zustimmungsgrad ist unter den 30–39-Jährigen (21 %) zu vermerken, der niedrigste unter den Ü‑60-Jährigen. Damit gilt: Alter schützt zumindest etwas vor QAnon-Torheiten, was jedoch wohl weniger einer Altersweisheit zu verdanken sein dürfte als dem geringeren Konsum von QAnon-Hauptverbreitungsmedien.
Die QAnon-Fans rekrutieren sich in hohem Maß aus Impfgegner*innen (Zustimmungswert in Österreich unter Umgeimpften 41,1 %), haben eine Affinität zur FPÖ (43,65 %) oder zur MFG (32 %).
Insgesamt 4,3 Prozent der Befragten aus Deutschland und 9,2 Prozent aus Österreich gaben an, sich mindestens einmal an Protesten gegen Coronaschutzmaßnahmen beteiligt zu haben – mehr als die Hälfte der Protestierenden glaubt an QAnon-Verschwörungserzählungen.In Deutschland zeigten sich bei Protestteilnehmer:innen Zustimmungen zu QAnon-Verschwörungserzählungen von 58,1 Prozent (50,5 Prozent in Österreich) im Vergleich zu 10,3 Prozent (ebenfalls 10,3 Prozent in Österreich) bei denen, die nie an den Protesten teilgenommen haben. (CeMAS, S. 7)
Die typischen QAnon-Gläubigen sind also, um es provokant zusammenzufassen, umgeimpft, politisch blau und mittelalterlich – letzteres durchaus im doppeldeutigen Sinn.
➡️ Download CeMAS-Report hier
➡️ Empfehlenswerter Twitter-Space des CeMAS-Teams: „Q vadis? Wie QAnon Kriege, Katastrophen und Krisen instrumentalisiert“ (1h01; bis 6.5.22 online)