Fast 800 Seiten umfasst der Abschlussbericht, der dem neuseeländischen Parlament zum Attentat in Christchurch vorgelegt wurde. Gleich am Beginn wird klar, wie der Hauptstrang der nationalen Erzählung zum Attentat, den Ministerpräsidentin Jacinda Ardern schon ab Tag 1 vorgegeben hatte, gestaltet ist: Er ist explizit den 51 ermordeten und 40 verletzten muslimischen Opfern und deren Community gewidmet. „The Royal Commission wishes to acknowledge the 51 shuhada [Märtyrer, Anmk. SdR]. They have been at the heart of our inquiry. We hope that the stories of the 51 shuhada are kept alive and that their stories inspire us and future generations.”
Nur ein einziges Mal – bei der dem Bericht vorangestellten Zusammenfassung – wird der Name des Täters genannt, dann nie wieder. „He is now serving a sentence of life imprisonment without parole. We generally refer to him in our report as ‘the individual’. His name will not appear again.“
Natürlich untersucht der Bericht die Vorgänge rund um das Attentat und den Täter, fragt, wo bei staatlichen Organen Defizite in der Prävention lagen, aber er geht auch noch einen wesentlichen Schritt weiter: Er problematisiert die gesellschaftlichen Strukturen und die Stimmung im Umgang mit Minderheiten, mit dem Zusammenleben der neuseeländischen Bevölkerung im Allgemeinen. So ist dem Thema „Sozialer Zusammenhalt und Vielfalt“ auch ein eigenes Kapitel mit daran folgenden Empfehlungen gewidmet, denn, so die Kommission:
Social cohesion has many direct benefits to individuals and communities. In contrast, societies that are polarised around political, social, cultural, environmental, economic, ethnic or religious differences will more likely see radicalising ideologies develop and flourish. Efforts to build social cohesion, inclusion and diversity can contribute to preventing or countering extremism. In addition, having a society that is cohesive, inclusive and embraces diversity is a good in itself.
Die zentrale Fragestellung war freilich, ob der Anschlag in Christchurch verhindert werden hätte können. Darauf antwortet die Untersuchungskommission mit einem Nein. Allerdings bemängelt die Kommission Fehler mit der Vergabe von Waffenlizenzen und dass der Fokus der staatlichen Apparate zu sehr auf den islamistischen Terror („the inappropriate concentration of resources on the threat of Islamist extremist terrorism“) und zu wenig auf die Bedrohung durch andere Ideologien wie jene des Rechtsextremismus gelegen habe. „Die Kommission ist nicht zu dem Befund gekommen, dass diese Dinge den Anschlag verhindert hätten, aber sie waren beide trotzdem Versäumnisse, und dafür entschuldige ich mich,“ (1) reagierte Ministerpräsidentin Ardern.
Der Bericht listet, teilweise minutiös, unzählige Details aus dem Leben des Täters auf – angefangen von seinen Familienverhältnissen in Australien bis zu seiner Übersiedlung von Australien nach Neuseeland, über seine Reiseziele, über die gewichtige Rolle diverser Internetkanäle für seine Radikalisierung, die schließlich am 15. März 2019 zum Attentat in Christchurch führte. Der Bericht zeigt auch den Einfluss von Ideologien wie jene des Attentäters von Oslo und Utøya und des identitären Konzepts des „Ethnopluralismus“ – beides war bereits in dem vom Attentäter hinterlassenen Manifest ersichtlich.
Eine Liste legt das Spektrum derer, die der Täter mit Spenden begünstigt hatte, dar: Darunter waren die Identitären in Frankreich und, wie bislang noch nicht bekannt war, auch jene aus Deutschland – dass letztere zwei Spenden just an Hitlers Geburtstag, am 20. April, erhielten, dürfte kein Zufall sein.
Auf der Spendenliste des Massenmörders finden sich aber auch Neonazi-Portale wie „The Daily Stormer“, das kanadische „Rebel News Network“, das „Freedomain Radio“, das vom kanadischen Rassisten Stefan Molyneux betrieben wird, sowie das „National Policy Institute“ des White-Supremacy-Aktivisten Richard B. Spencer. Die zweifelhafte Ehre der höchsten Spendensumme mit 2.308,97 Austral. Dollar (ca. 1.500 Euro) wird jedoch Martin Sellner zuteil, für den der Täter sogar einen Aufruf lanciert hatte: „He also encouraged others to donate to Martin Sellner, a far right Austrian politician.“
Exkurs
Unter diesem Licht zeigt sich auch, wo die FPÖ anzusiedeln ist, wenn sie gerade wieder offen den ideologischen und personellen Anschluss an die Identitären vollzieht, wie auch der Rechtsextremismusexperte aus dem DÖW, Bernhard Weidinger, in einem Standard-Kommentar folgert.
Es mag für die FPÖ zu gewissen Zeiten taktisch opportun erscheinen, sich von postneonazistischen Rechtsextremen à la Identitäre zu distanzieren – inhaltliche Gründe dafür gibt es angesichts ihrer eigenen Verortung nicht. Versuchte man diesen Umstand in der Regierung noch eher zu verschleiern, scheint seither ostentatives Umarmen angesagt. (…) Nun aber scheint die FPÖ, nicht länger dem Pragmatismus eines koalitionären Juniorpartners verpflichtet, wieder bereit, die ihr zugedachte Rolle anzunehmen und in ihre angestammte Funktion zurückzukehren: als parlamentarischer Arm des Rechtsextremismus in Österreich.
Was sind die Lehren?
Obwohl von der muslimischen Community auch Kritik kam, dass der Bericht zu den antismuslimischen Anfeindungen nicht weit genug ginge: Neuseeland hat in der Aufarbeitung des Terroranschlags von Christchurch die Latte durchaus hoch gelegt. Alle 44 Empfehlungen der Kommission, u.a. zu einer Neuausrichtung der Antiterrorpolitik, werde man umsetzen, versprach Jacinda Ardern.
Jene Kommission, die das Attentat vom 2. November in Wien zu untersuchen hat, sollte in den neuseeländischen Bericht schauen und wenigstens Teile der Methodik und der Untersuchungsgegenstände übernehmen. Denn es geht wesentlich um die Frage, in welchem gesellschaftlichen Klima Radikalisierung und Terror begünstigt werden. Das wäre in Hinblick auf den in Österreich geborenen und sozialisierten Täter wohl die bedeutendste Lehre, die aus dem Attentat in Wien zu ziehen wäre. Auf eine – nach dem Kapitalversagen durch österreichische Behörden mehr als angemessene – Entschuldigung bei den Opfern und deren Angehörigen durch Kanzler oder Innenminister werden wir wohl vergeblich warten.
1 “The commission made no findings that these issues would have stopped the attack. But these were both failings and for that I apologise.” (zit. nach reuters.com, 8.12.20)