Der einzige Überlebende der syrischen Familie Kurdi, die in der Vorwoche vergeblich versucht hatte, mit einem Boot von Bodrum in der Türkei die griechische Insel Kos zu erreichen, ist Abdullah Kurdi (40), der Vater. Unmittelbar nachdem die Tragödie der Kurdis öffentliches Thema geworden war, begann auch schon die Kakophonie der Hetzer, die sich mit voller Kraft gegen den Vater richtete.
2012 hat die Flucht der Kurdis begonnen, die zunächst innerhalb Syriens von Damaskus nach Aleppo und dann nach Kobane flohen, von wo sie dann über die Grenze in die Türkei wechselten. In Istanbul arbeitete Abdullah als Bauarbeiter, verdiente am Tag 17 US Dollar, von denen die Familie kaum leben konnte. Vom Beginn der etappenweisen Flucht gab es daher den Plan, in Kanada, wo die Schwester von Abdullah Kurdi seit 20 Jahren lebt, Asyl zu erhalten. Wegen läppischer bürokratischer Schikanen der türkischen Behörden scheiterte der Antrag. Der Vater von Abdullah, der in Syrien lebte, empfahl daraufhin seinem Sohn, alleine nach Europa zu gehen, sich seine kaputten Zähne richten zu lassen und einen Weg zu finden, dass die Familie nachkommen könne.
Eigentlich der klassische, von den rechten Hetzern heftig kritisierte Fluchtmodus: Der Mann zieht allein voraus und lässt die Familie nachfolgen, wenn er Arbeit, Asyl bzw. einen sicheren Fluchtweg gefunden hat. Für die rechten Hetzer sind das die Männer, die ihre Familien bzw. ihr Land im Stich lassen.
Abdullah Kurdi wollte und konnte seine Frau und die Kinder nicht in der Türkei zurücklassen. Seiner Schwester, die während des Istanbul-Aufenthaltes der Familie Kurdi für die Miete aufkam und ihm auch Geld für die Flucht überwies, erklärte er: „If we go, we go all of us.“ („Wenn wir weggehen, dann alle miteinander.“) Frau und Kinder ohne Geld und ohne Arbeit zurücklassen, das kam für Abdullah Kurdi nicht in Frage, weil er wusste, dass die Familie so nicht überleben konnte.
Warum die Familie Kurdi nicht in der Türkei bleiben wollte, wird aus einem Statement der Schwester auf Facebook klar: Die syrischen (vor allem die kurdischen) Flüchtlinge fürchten, von der türkischen Regierung nach Syrien zurückgeschoben zu werden.
Rechte Hetzer
Aus den Schilderungen von Abdullah Kurdi und seiner Schwester Tima machen die rechten Hetzer das glatte Gegenteil, die Geschichte eines Vaters, der „aus Gier gratis neue Zähne ohne zu zahlen haben wollte“ und so seine Familie in den Tod führte. Die Erzählung der Hetzer ist grotesk und absurd – warum sollte jemand, der nur seine Zähne reparieren will, seine Familie mit sich führen?
Rechte Hetzer
Luley, der Leichenfledderer
Ein besonders widerliches Beispiel dieser Hetze, mit der Aylan nach seinem Tod noch gegen seinen Vater in Stellung gebracht wird, liefert der Mannheimer Rechtsextreme Wolfgang Luley, der sich mit einem leichenfledderischen „offenen Brief an den dreijährigen Aylan, dem offene Grenzen einen Tod im Mittelmeer bescherten“.
Angesichts einer tödlichen und gescheiterten Schlauchbootfahrt mit Schleppern von offenen Grenzen zu sprechen, ist schon eine zynische Lüge. Für Luley noch nicht genug: Er spricht dem toten Aylan ab, ein „Flüchtling“ gewesen zu sein, polemisiert gegen Medien, die „Scheinasylanten“ zu Kriegsflüchtlingen „stilisieren“ und „erklärt“ dem toten Aylan, der sich nicht mehr gegen diese Vereinnahmung wehren kann, dann, dass ihn sein Vater wegen neuer Zähne auf dem Gewissen habe:
Die Geschichte, wie es zu dem Unglück im Mittelmeer kam, klingt absurd und abenteuerlich zugleich: Dein Vater hatte nach Europa illegal einreisen wollen, weil er neue Zähne gebraucht haben soll. Du starbst, weil Dein Vater sich als falscher Asylant in Europa neue Zähne machen lassen wollte. Ich lasse das so stehen und werde es nicht weiter kommentieren.
Mit einem „offenen Brief“ soll in der Regel eine Antwort des Adressierten provoziert werden. Aber Aylan kann auf die Vorwürfe von Luley nicht antworten: Er war drei Jahre alt und tot, ertrunken nicht wegen der „offenen Grenzen“ , sondern beim Versuch der Familie, die beinharten Grenzen zu umschiffen.
Luley, der Leichenfledderer, hat einen langen Weg hinter sich: 2012 lief der Gedichteschreiber von der Partei „Die Linke“ in Mannheim zunächst zur rechten, antiislamischen Partei „Die Freiheit“ über. Mittlerweile hat er einige weitere Stationen des rechtsextremen Spektrums absolviert und nähert sich über Identitäre und Pegida dem rechten Abgrund.
Der „offene Brief“ von Luley, der sich eines toten Kindes bemächtigt, bräuchte uns nicht länger zu irritieren, aber er wird derzeit fleißig geteilt und weiterverbreitet – auch und gerade in Österreich. Die Hetzgeschichte von dem Mann, der angeblich für neue Zähne seine Familie in den Tod getrieben hat, wandert auch noch in anderen Varianten durch das Netz.
Aylan Kurdi ist in der Türkei geboren – nicht in Syrien. Auch das nehmen einige Hetzer zum Anlass, die Flucht in Zweifel zu ziehen. Die „Huffington Post“ (4.9.15) schreibt, dass von Kurdis Familie insgesamt elf Mitglieder durch den Islamischen Staat im Juni getötet wurden. Für die Hetzer ist vermutlich auch das kein Grund, um zu flüchten.