Seit einigen Jahren ist eine Verbreitung von Verhaltensweisen und Aktivitäten bis in die Mitte der Gesellschaft festzustellen, die zwar im Berichtsjahr nicht selten rechtsextremistische Verdachtslagen nahe legten, aber kaum „strafrechtstaugliche“ Ereignisse im Sinne der Rechtslage darstellten. Darunter fallen einzelne Ideologieelemente des Rechtsextremismus bzw. Phänomene wie Fremdenfeindlichkeit, Alltagsrassismus, NS-Bezüge in diversen Subkulturen usw. (S. 13)
Was da im Kapitel „Allgemeines Lagebild“ des Verfassungsschutzberichts in relativierenden Bezügen („nicht selten rechtsextremistisch“, “kaum ‚strafrechtstauglich‘“, „einzelne Ideologieelemente“) beschrieben wird, hat es in sich: Der Verfassungsschutz konstatiert, dass die rechtsextreme Ideologie in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.
Eine Behörde, die sich der Beobachtung der „extremen“ Ränder verschrieben hat (was ein Bild von Gesellschaft nahelegt, in dem die breite Mitte für politischen Ausgleich und Demokratie steht), ist damit eigentlich mehrfach gefordert. Zum einen könnte sie Beispiele dafür nennen, zum anderen sollte sie eigentlich die politischen Instanzen der Republik darauf aufmerksam machen, dass sich in der Mitte der Gesellschaft etwas Extremes tut. An beidem hindern sie nicht zuletzt die politischen Instanzen der Republik, die kein Interesse daran haben, sich ihre Mitte näher anzuschauen.
Der „Extremismus der Mitte“ ist in der Sozialwissenschaft seit Seymour M. Lipsets Analysen über den Mittelstand als tragendes Element nationalsozialistischer Herrschaft ein mittlerweile ausdifferenzierter Ansatz in der Extremismusforschung.
Der Bericht der Verfassungsschützer hält sich – abgesehen von dem schneidigen Satz – nicht mit dem Extremismus in der Mitte der Gesellschaft auf, sondern beklagt stattdessen, dass ihm für seine Arbeit eine Legaldefinition des Begriffes Rechtsextremismus fehle:„Das Fehlen rechtlicher Klarheit zur Begrifflichkeit bzw. Abgrenzung des rechtlich sanktionierten Rechtsextremismus von Begriffen wie etwa Fremdenfeindlichkeit und Rassismus führte auch im Jahr 2011 wieder dazu, dass die Sicherheitsbehörden bei ihrer Aufgabenerfüllung hohen politischen und medialen Erwartungshaltungen ausgesetzt waren, denen sie trotz Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten nicht immer gerecht werden konnten. (S. 14)
Der Verfassungsschutz wünscht sich von den politischen Instanzen, die seine Arbeit dirigieren und zumindest teilweise verantwortlich sind für den Extremismus der Mitte, eine Beschreibung des Rechtsextremismus per Gesetz, also eine sichere, eingegrenzte Arbeitsgrundlage. Dass das einer Quadratur des Kreises gleichkommen würde, ahnen die Verfassungsschützer aber selbst: „Beim Rechtsextremismus handelt es sich um einen politisch-ideologisch umkämpften Begriff, dessen konkrete inhaltliche Auslegung von den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen abhängt.“ (S. 13)
Wenn Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in der Mitte der Gesellschaft verortet werden und damit auch Bestandteil der Agenda von politischen Parteien und Instanzen geworden sind, die nicht unter dem Begriff rechtsextrem zu fassen sind, dann hilft auch eine Legaldefinition des Rechtsextremismus nur wenig weiter. Teile der ‚politischen Mitte‘ haben kaum ein Interesse daran, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus oder allgemeiner, den Durchmarsch rechtsextremer Ideologieelemente in die Mitte der Gesellschaft und damit die Verschiebung des politischen Koordinatensystems, zum strafrechtlich relevanten Gegenstand werden zu lassen.
Quelle: bmi.gv.at — Verfassungsschutzbericht 2012
➡️ Verfassungsschutzbericht 2012 (II): Deutlicher Rechtsruck oder Entspannung?