Ungarns Staatspräsidentin Katalin Novák ist am Samstag, 10.2., zurückgetreten. Die Orbán-Gefolgsfrau übernahm damit die Verantwortung für die skandalöse Begnadigung eines Täters, der sexuellen Missbrauch von Kindern durch die Erpressung der Opfer ermöglichte und vertuschte. Es handelt sich dabei um den stellvertretenden Direktor des Kossuth Zsuzsa Kinderheims in Bicske, der die Opfer des Direktors János Vásárhelyi dazu erpresste, ihre Aussagen zugunsten des Täters zu ändern. Im Jahr 2016 war der Fall öffentlich bekannt geworden. Die Missbrauchshandlungen gingen damals schon über 15 Jahre vor sich, wobei erste Berichte bei der Polizei bereits 2011 erfolgt waren, ohne dass etwas passiert wäre. Laut András Gál, dem Anwalt der Opfer, war der Gerichtsprozess von einer ungeheuren Nachsicht gegenüber den Tätern geprägt:
Dieser Fall stank bereits vor Gericht zum Himmel. Der Erzieher, der der Komplize des Direktors war und 5.000 Forint an die ihm anvertrauten, schwer benachteiligten und teilweise geistig behinderten minderjährigen Jungen für den Sex mit dem Direktor zahlte, wurde zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt. Ich hätte kotzen können, als das Urteil verkündet wurde. (Gál zit. nach telex.hu, 3.2.24; Übersetzung SdR)
Schließlich wurde der Heimleiter zu acht Jahren, sein Stellvertreter zu drei Jahren und vier Monaten Haft wegen Nötigung verurteilt. Die nun skandalisierte Begnadigung des Stellvertreters erfolgte im April 2023 anlässlich eines Besuchs des Papstes in Ungarn, und sie implizierte auch ein Ende des mit der Haftstrafe verbundenen Berufsverbots. Die Begnadigung war anonym erfolgt und wurde erst Anfang Februar 2024 von dem unabhängigen Nachrichtenportal 444.hu öffentlich gemacht. Seither gehen in der ungarischen Zivilgesellschaft die Wogen hoch.
„Wahlautokratie“ Ungarn
Ministerpräsident Orbán, Vorsitzender der rechtsautoritären Fidesz-Partei, ist der Regierungschef des einzigen Mitgliedstaates der EU, der keine Demokratie ist: Das EU-Parlament stuft das ungarische Regime seit September 2022 offiziell als „Wahlautokratie“ ein. Der rechte Diktator Orbán betreibt seit Jahren rassistische und antisemitische Hetze sowie nationalistische Polemik gegen die EU, von der er Milliarden empfängt, die mutmaßlich zu guten Teilen in den Taschen seiner Freunde verschwinden.
Der ungarische Rechtsstaat ist längst zu einer formalen Hülle geworden; Gewaltenteilung und freie Presse – zwei Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie – existieren in Ungarn de facto nicht mehr. Wie alle rechten Demagogen betont auch Orbán gerne konservative Familienwerte bzw. inszeniert die Kernfamilie als bedroht, was wiederum mit Hetzte gegen all jene einhergeht, die als Abweicher*innen gelten – insbesondere LGBTIQ+-Personen. Für all das wird Orbán von der hiesigen Rechten offen und unisono gefeiert.
Orbán schweigt, zwei Frauen danken ab
Zu dem Rücktritt seiner Gefolgsfrau Novák schweigt Orbán seither. Inzwischen musste auch eine zweite Frau den Hut nehmen: Judit Varga, die Ex-Justizministerin, die die Begnadigung gegengezeichnet hatte. Diese Rücktritte sind Versuche einer Schadensbegrenzung, deren Gelingen aber fraglich ist. Denn mittlerweile übt auch ein Fidesz-Insider scharfe Kritik am Regime: Péter Magyars, der Ex-Mann von Varga und Ex-Diplomat, der bis dato auf Regierungslinie war, erklärte im Interview mit dem „Partisan“, dass Orbán alles im Staat, von den Medien bis zum Geheimdienst kontrolliere. Und zu dem Begnadigungsskandal sagte er:
Das Orbán-Regime verstecke sich hinter Frauenröcken und schütze die Drahtzieher der Begnadigung, anstatt sich selbst der Verantwortung zu stellen. Der Zuckerguss dieses politischen Systems diene nur der Verkleidung der nackten Machtausübung und der Tatsache, dass ein paar Familien die Hälfte des Landes besitzen. (derstandard.at, 12.2.24, Kolumne von Paul Lendvai)
Die autoritäre Wahrheit hinter der Propaganda
Rechte Heuchelei, wenn es um Sexualstraftäter geht, ist auch in Österreich gut bekannt: Die FPÖ und ihr blau-braunes Medienumfeld hetzten gegen „Kinderschänder“, wenn man sich dadurch Mobilisierung der eigenen Klientel verspricht, schweigt aber über Pädokriminalität, sobald es die eigenen Leute betrifft. Beides – sowohl die Hetze als auch das Schweigen – gehört zum Wesen von rechten Bewegungen. Die Hetze entspricht der völkischen Abwertung von Normabweicher*innen und ihrem Hang zu permanenter moralisierender Emotionalisierung; das Schweigen entspricht ihrer autoritären und gegenaufklärerischen Haltung, wo die eigene Gruppe (und insbesondere deren Führer) nie zum Gegenstand von Kritik werden kann, sondern alle Krisen und Verfehlungen auf Sündenböcke projiziert werden müssen.
Um eines geht es Rechten nie: um die Rechte des*der Einzelnen, auch nicht um jene von Kindern. Der Skandal in Ungarn zeigt einmal mehr, was passiert, wenn rechte Bewegungen, die sich als „Stimme des Volkes“ inszenieren, tatsächlich an die Macht kommen: autoritäre und korrupte Klientelpolitik.