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Die Israelfrage im „neurechten“ Antisemitismus

„Neu­rech­te“ Posi­tio­nie­run­gen zum Nah­ost­kon­flikt bespie­len die gesam­te Kla­via­tur des Anti­se­mi­tis­mus in einer intel­lek­tu­ell ver­bräm­ten Rhe­to­rik. Eine Ana­ly­se am Bei­spiel eines Wie­ner Iden­ti­tä­ren-Ideo­lo­gen. Im Inter­view mit dem rechts­extre­men Online-Medi­um „Hei­mat­ku­rier“ gibt der „neu­rech­te“ Wie­ner Akti­vist Mar­tin Sem­lit­sch („Licht­mesz“) eine drei­tei­li­ge Losung aus, inwie­weit sein Milieu, also die Rech­te, vom Nah­ost­kon­flikt betrof­fen sei. Es han­delt sich dabei […]

18. Nov 2023

Im Inter­view mit dem rechts­extre­men Online-Medi­um „Hei­mat­ku­rier“ gibt der „neu­rech­te“ Wie­ner Akti­vist Mar­tin Sem­lit­sch („Licht­mesz“) eine drei­tei­li­ge Losung aus, inwie­weit sein Milieu, also die Rech­te, vom Nah­ost­kon­flikt betrof­fen sei. Es han­delt sich dabei um drei Behaup­tun­gen, die an drei ver­schie­de­ne Arti­ku­la­ti­ons­for­men von Anti­se­mi­tis­mus anknüp­fen, ohne sich frei­lich die Blö­ße einer offe­nen Feind­schaft gegen Juden und Jüdin­nen zu geben.

Wir ste­cken aus drei Grün­den [im Nah­ost­kon­flikt; Anm. SdR] drin­nen: Iden­ti­täts­po­li­tisch, weil der „Schuld­kult“, aus dem Isra­el sein mora­li­sches Kapi­tal bezieht, bei uns herr­schen­de Dok­trin ist, ein­wan­de­rungs­po­li­tisch, weil sich in unse­rem Land eine erheb­li­che Anzahl unru­hi­ger isra­el­feind­li­cher Migran­ten befin­det, die auch uns nicht beson­ders mögen und auf ihren anti-israe­li­schen Demos auch ihre eige­ne demo­gra­phi­sche Macht zur Schau stel­len, und geo­po­li­tisch, weil Isra­el im ame­ri­ka­ni­schen Impe­ri­um, unter des­sen Herr­schaft wir ste­hen, eine expo­nier­te Rol­le spielt. (1)

Die­ses Zitat ist erhel­lend hin­sicht­lich „neu­rechts“ codier­ter anti­se­mi­ti­scher Seman­ti­ken und ver­dient eine tie­fer­ge­hen­de ana­ly­ti­sche Ein­ord­nung, die im Fol­gen­den ent­lang von Sem­lit­schs eige­ner Drei­tei­lung – „iden­ti­täts­po­li­tisch“, „ein­wan­de­rungs­po­li­tisch“, „geo­po­li­tisch“ – erfolgt (2).

„Neurechte“ Vielfalt: Subformen des Antisemitismus

Iden­ti­täts­po­li­tisch“: Bei der Unter­stel­lung, der jüdi­sche Staat wür­de vom Holo­caust pro­fi­tie­ren – in Sem­lit­schs Dik­ti­on „mora­li­sches Kapi­tal schla­gen“ – han­delt es sich um eine Isra­el-bezo­ge­ne Ver­si­on von jenem schuld­ab­weh­ren­den Anti­se­mi­tis­mus, der sich nach 1945 „nicht trotz, son­dern wegen Ausch­witz aus­bil­de­te“ (Peham 2022, 174) und von Ver­tre­tern der Kri­ti­schen Theo­rie bereits in den 1950ern als „sekun­dä­rer“ Anti­se­mi­tis­mus bezeich­net wur­de. Schuld­ein­sicht und Erin­ne­rung wer­den dar­in abge­wehrt, „weil sie die fort­ge­setz­te Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem natio­na­len Kol­lek­tiv“ (ebd.) erschweren.

Die Bezeich­nung „Schuld­kult“ ist eine bei Iden­ti­tä­ren und Neo­na­zis belieb­te Voka­bel, die eine natio­na­le Knech­tung Deutsch­lands (und Öster­reichs) auf­grund sei­ner Täter-Ver­gan­gen­heit unter­stellt und zugleich einen stets abruf­ba­ren NS-Geschichts­re­vi­sio­nis­mus trans­por­tiert. Sem­lit­sch ver­bin­det mit der Voka­bel den völ­ki­schen Wunsch nach einer Til­gung der deutsch/österreichischen Schuld mit der anti­se­mi­ti­schen Vor­stel­lung einer jüdi­schen Instru­men­ta­li­sie­rung der Sho­ah. Er ist hin­sicht­lich anti­se­mi­tisch unter­mal­ter NS-Rela­ti­vie­rung nicht um Deut­lich­keit ver­le­gen und behaup­tet etwa in dem­sel­ben Interview:

Natür­lich gibt es hier einen Wett­kampf um die „Hier­ar­chie der Opfer“. Die Juden ste­hen in die­ser Hin­sicht immer noch an der Spit­ze, auf­grund der Deu­tung des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Völ­ker­mords als „sin­gu­lä­ren Zivi­li­sa­ti­ons­bruch“, dem eine gera­de­zu sakra­le Bedeu­tung zuge­spro­chen wird.

Ein­wan­de­rungs­po­li­tisch“: Hin­ter der völ­ki­schen Behaup­tung einer „demo­gra­phi­schen Macht“ durch Migrant*innen steht die Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gie vom „Bevöl­ke­rungs­aus­tausch“, von der Sem­lit­sch bei jeder Gele­gen­heit schwa­dro­niert. An zahl­rei­chen ande­ren Stel­len im „Oeu­vre“ des Akti­vis­ten wird die­se ras­sis­ti­sche Unter­gangs­for­mel auch anti­se­mi­tisch codiert. Denn der „Bevöl­ke­rungs­aus­tausch“ bzw. „Gro­ße Aus­tausch“ wird nie ledig­lich als durch Flucht ver­ur­sacht ver­stan­den, son­dern stets auch als Agen­da von welt­be­herr­schen­den Eli­ten ima­gi­niert, die ein Inter­es­se dar­an haben, die gewünsch­te Homo­ge­ni­tät ver­meint­lich orga­nisch gewach­se­ner „Völ­ker“ zu zer­set­zen und des­halb bewusst „volks­frem­de“ Migra­ti­on nach Euro­pa steuern.

Geo­po­li­tisch“: Zuletzt bedient Sem­lit­sch eine For­mel, die im israel­be­zo­ge­nen Anti­se­mi­tis­mus eine zen­tra­le Rol­le spielt und kei­ne Eigen­heit der extre­men Rech­ten ist: Isra­el gehö­re zum „ame­ri­ka­ni­schen Impe­ri­um, unter des­sen Herr­schaft wir ste­hen“. Hier klingt ein Anti­im­pe­ria­lis­mus an, den es in rech­ten wie lin­ken Spiel­ar­ten gibt, der aber stets von einem manich­ä­isch-unter­kom­ple­xen Welt­bild geprägt ist, das dazu ten­diert die Welt nach einem simp­len Gut-Böse-Sche­ma ein­zu­tei­len: Die USA (manch­mal auch unein­deu­ti­ger „der Wes­ten“) ist der impe­ria­lis­ti­sche Hege­mon, der den Rest der Welt unterwirft.

Ins­be­son­de­re der glo­ba­le Süden wird in die­sem Welt­bild ent­lang von „eth­nisch-kol­lek­ti­ven Homo­ge­ni­täts­vor­stel­lun­gen“ (Salz­born 2018, S. 84) unab­hän­gig von rea­len poli­ti­schen Ver­hält­nis­sen kon­zi­piert und oft­mals als kate­go­risch wider­stän­dig ima­gi­niert. Letz­te­res betrifft frei­lich die eher lin­ke Spiel­art des Anti­im­pe­ria­lis­mus, aber auch die­se steht in einer ideo­lo­gi­schen Ver­bin­dung mit völ­ki­schem Den­ken, das auf einer Vor­stel­lung von kol­lek­ti­ver Homo­ge­ni­tät qua Abstam­mung beruht. Die­ser geteil­te antieman­zi­pa­to­ri­sche Bezug auf Gemein­schaft (anstatt plu­ra­ler Gesell­schaft) führt immer wie­der zu Quer­front-Bil­dun­gen zwi­schen lin­ken und rech­ten Akteur*innen (3).

Isra­el fun­giert im Rah­men der anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Ideo­lo­gie oft­mals als „Jude unter den Staa­ten“, wobei nicht sel­ten klas­si­sche Moti­ve des moder­nen Anti­se­mi­tis­mus blank über­tra­gen wer­den: Der jüdi­sche Staat sei ein Fremd­kör­per, ein künst­li­ches Gebil­de, das der Regi­on und ihrer ange­stamm­ten („indi­ge­nen“) Bevöl­ke­rung scha­de und das als Satel­lit der welt­be­herr­schen­den US-Super­macht auftrete.

Der Anti­ame­ri­ka­nis­mus, der rechts wie links stets en vogue ist, bedarf aller­dings kei­nes direk­ten Bezugs auf Isra­el, um anti­se­mi­ti­sche Codes zu bedie­nen. Dies lässt sich anhand eines Sem­lit­sch-Tex­tes aus dem Jahr 2015 anschau­lich machen, wo er sei­ne Hal­tung zum Jahr 2001 reflek­tie­rend, von den USA als „nahe­zu allmächtige[m] globalistische[m] Krake[n]“ spricht, dem „heim­ge­zahlt wur­de, was er selbst tau­send­fach gesät hat­te, die Tür­me des WTC die Tem­pel der Hoch­fi­nanz und des impe­ri­al­ka­pi­ta­lis­ti­schen Baby­lons“ (4) hät­ten damals end­lich zu wan­ken begonnen.

Sowohl das rechts­extre­me Fan­ta­sie­wort „Glo­ba­lis­mus“ als auch der Ver­weis auf die US-„Hochfinanz“ sind häu­fig bedien­te anti­se­mi­ti­sche Codes. Die Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Elke Rajal hat noch etli­che mehr anhand von Bei­spie­len aus Sem­lit­schs Tex­ten nach­ge­wie­sen und ana­ly­siert: „Da wären die (jüdi­schen) ‚Lob­bys‘, die ‚Hoch­fi­nanz‘, der ‚Mam­mon‘, die ‚Kra­ke‘ USA usw. Es zeigt sich [bei Sem­lit­sch] ein struk­tu­rel­ler Anti­se­mi­tis­mus, der als Glo­ba­li­sie­rungs- oder Kapi­ta­lis­mus­kri­tik oder als Anti­ame­ri­ka­nis­mus daher­kommt.“ (Rajal 2017, S. 321)

Martin Semlitsch "Lichtmesz" im Interview mit dem identitären Online-Medium "Heimatkurier" (Screenshot, 16.10.23)
Mar­tin Sem­lit­sch „Licht­mesz” im Inter­view mit dem iden­ti­tä­ren Online-Medi­um „Hei­mat­ku­rier” (Screen­shot, 16.10.23)

Grundton: Verschwörungsraunen

Die Sem­lit­schen Anschlüs­se an Anti­se­mi­tis­mus kom­men in jenem ver­schwö­rungs­ideo­lo­gi­schen Grund­ton daher, der bei „Neu­rech­ten“ stets vor­herrscht und der qua sei­ner Bild­spra­che wie­der­um stets im Kiel­was­ser anti­se­mi­ti­scher Res­sen­ti­ments düm­pelt. So raunt Sem­lit­sch in dem zitier­ten „Heimatkurier“-Interview etwa zur aktu­el­len Medi­en­be­richt­erstat­tung hin­sicht­lich des Nah­ost­kon­flikts, dass der „sta­gnie­ren­de ‚Ukraine‘-Chip (…) offen­bar lang­wei­lig gewor­den“ sei und nun „ein neu­es Pro­gramm ein­ge­wor­fen“ wur­de. Damit sug­ge­riert er eine geziel­te Mani­pu­la­ti­on durch strip­pen­zie­hen­de Mäch­te in Poli­tik und Medi­en. Zu sol­cher Ver­schwö­rungs­phan­tas­tik tritt in dis­kur­si­ver Fol­ge­rich­tig­keit die belieb­te Opfer­po­se des Milieus: „Wer sich abwä­gend äußert, wird sofort als Ver­harm­lo­ser oder gar Kom­pli­ze des Ter­rors gebrand­markt, ähn­lich wie ange­sichts des rus­sisch-ukrai­ni­schen Krie­ges.“ Die­ser Behaup­tung wohnt, ein­ge­denk der brei­ten media­len Skan­da­li­sie­rung und Kri­tik an der israe­li­schen Rechts­re­gie­rung und ihrem mili­tä­ri­schen Vor­ge­hen in Gaza, etwas Wahn­haf­tes inne.

Aber es geht hin­sicht­lich Ver­schwö­rungs­er­zäh­lung frei­lich noch kras­ser. In einem Text in Götz Kubit­scheks „Sezes­si­on“ erklärt Sem­lit­sch es für denk­bar, dass

die israe­li­schen Auto­ri­tä­ten den Hamas-Angriff gesche­hen lie­ßen, um (vor allem vor der Welt­öf­fent­lich­keit) einen mora­li­schen Vor­wand zu haben, den Dau­er­brand­herd Gaza end­gül­tig zu löschen und even­tu­ell erneut mili­tä­risch zu beset­zen, viel­leicht sogar eine Flücht­lings­wel­le aus­zu­lö­sen, die den Land­strich demo­gra­phisch ‚aus­dünnt‘ (5).

Juden und Jüdin­nen am anti­se­mi­ti­schen Schlach­ten mit­ver­ant­wort­lich zu machen, indem ihnen ein ver­schwö­re­ri­sches Wis­sen dar­um und ein Inter­es­se dar­an unter­stellt wird, gehört zum Stan­dard-Reper­toire von brau­nem Antisemitismus.

Anti-Identität“

Eben­falls zu die­sem brau­nen Anti­se­mi­tis­mus gehört der Zwang, stän­dig auf die hal­lu­zi­nier­te Bedro­hung des eige­nen „Volks­kör­pers“ zurück­zu­kom­men. So ver­wen­det Sem­lit­sch im „Heimatkurier“-Interview den Slo­gan vom „Schuld­kult“ auch ein­mal im Nah­be­reich von NS-Seman­tik: „Der ‚Schuld­kult‘ (…) ist eine ‚Anti-Iden­ti­tät‘, die auf die Auf­lö­sung des Deut­schen ange­legt ist.

Hier zeigt der sekun­dä­re Anti­se­mi­tis­mus eine deut­li­che Nähe zu der ihn vor­aus­set­zen­den NS-Ver­si­on – denn dort wur­de in Juden und Jüdin­nen eben nicht ein­fach ein Feind gese­hen, son­dern ein para­si­tä­res „Gegen­prin­zip“ zum orga­ni­schen Volk, das die „Auf­lö­sung“ von Innen wie von Außen betrei­be. Heu­te sieht Sem­lit­sch in der Auf­ar­bei­tung der Sho­ah eben das, was die dama­li­gen Täter*innen in den Juden und Jüdin­nen sahen: „,Anti-Iden­ti­tät‘, die auf die Auf­lö­sung des Deut­schen ange­legt ist“.

Fußnoten

1 Mar­tin Sem­lit­sch „Licht­mesz“ im Inter­view mit „Hei­mat­ku­rier“, 16.10.2023, ein­ge­se­hen auf der Web­site des „Hei­mat­ku­rier“ am 17.11.23.
2 Ange­merkt sei, dass Sem­lit­schs Tex­te einen exem­pla­ri­schen Cha­rak­ter für die ver­such­te Intel­lek­tua­li­sie­rung völ­ki­scher Ideo­lo­gie haben und hier nicht als indi­vi­du­el­le Posi­ti­on eines Autors inter­es­sie­ren. Inhalt­lich weit­ge­hend deckungs­glei­che Argu­men­te bedie­nen etwa auch Götz Kubit­schek oder der öster­rei­chi­sche Iden­ti­tä­ren-Chef Mar­tin Sell­ner (bei­de in Kubit­scheks Zeit­schrift „Sezes­si­on“).
3 „Stoppt die Rech­ten“ wird zeit­nah eine mehr­tei­li­ge Recher­che zur soge­nann­ten Quer­front ver­öf­fent­li­chen, da die­ses Phä­no­men vor dem Hin­ter­grund aktu­el­ler Kri­sen (Covid-Pan­de­mie, rus­si­scher Angriffs­krieg und Nah­ost­kon­flikt) mas­siv an Bedeu­tung und Sicht­bar­keit zu gewin­nen scheint.
4 Mar­tin Sem­lit­sch „Licht­mesz“: Ich bin nicht Char­lie (Teil1), „Sezes­si­on“, 10.01.2015, ein­ge­se­hen auf der Web­site der „Sezes­si­on“ am 17.11.2023.
5 Ders.: Der Krieg in Isra­el und Paläs­ti­na hat ein demo­gra­phi­sches Fun­da­ment, „Sezes­si­on“, 12.10.2023, ein­ge­se­hen auf der Web­site der „Sezes­si­on“ am 17.11.2023.

Literatur

Peham, Andre­as (2022): Kri­tik des Anti­se­mi­tis­mus. Stutt­gart: Schmet­ter­ling Verlag
Rajal, Elke (2017): Offen, codiert, struk­tu­rell – Anti­se­mi­tis­mus bei der ‚Iden­ti­tä­ren‘. In: Goetz/Sedlacek/Winkler (Hg.): Unter­gangs­ter des Abend­lan­des. Ideo­lo­gie und Rezep­ti­on der rechts­extre­men ‚Iden­ti­tä­ren‘. Ham­burg: Mar­ta Press, S. 309–350
Salz­born, Samu­el (2018): Glo­ba­ler Anti­se­mi­tis­mus. Eine Spu­ren­su­che in den Abgrün­den der Moder­ne. Basel: Beltz Juventa

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