Im Interview mit dem rechtsextremen Online-Medium „Heimatkurier“ gibt der „neurechte“ Wiener Aktivist Martin Semlitsch („Lichtmesz“) eine dreiteilige Losung aus, inwieweit sein Milieu, also die Rechte, vom Nahostkonflikt betroffen sei. Es handelt sich dabei um drei Behauptungen, die an drei verschiedene Artikulationsformen von Antisemitismus anknüpfen, ohne sich freilich die Blöße einer offenen Feindschaft gegen Juden und Jüdinnen zu geben.
Wir stecken aus drei Gründen [im Nahostkonflikt; Anm. SdR] drinnen: Identitätspolitisch, weil der „Schuldkult“, aus dem Israel sein moralisches Kapital bezieht, bei uns herrschende Doktrin ist, einwanderungspolitisch, weil sich in unserem Land eine erhebliche Anzahl unruhiger israelfeindlicher Migranten befindet, die auch uns nicht besonders mögen und auf ihren anti-israelischen Demos auch ihre eigene demographische Macht zur Schau stellen, und geopolitisch, weil Israel im amerikanischen Imperium, unter dessen Herrschaft wir stehen, eine exponierte Rolle spielt. (1)
Dieses Zitat ist erhellend hinsichtlich „neurechts“ codierter antisemitischer Semantiken und verdient eine tiefergehende analytische Einordnung, die im Folgenden entlang von Semlitschs eigener Dreiteilung – „identitätspolitisch“, „einwanderungspolitisch“, „geopolitisch“ – erfolgt (2).
„Neurechte“ Vielfalt: Subformen des Antisemitismus
„Identitätspolitisch“: Bei der Unterstellung, der jüdische Staat würde vom Holocaust profitieren – in Semlitschs Diktion „moralisches Kapital schlagen“ – handelt es sich um eine Israel-bezogene Version von jenem schuldabwehrenden Antisemitismus, der sich nach 1945 „nicht trotz, sondern wegen Auschwitz ausbildete“ (Peham 2022, 174) und von Vertretern der Kritischen Theorie bereits in den 1950ern als „sekundärer“ Antisemitismus bezeichnet wurde. Schuldeinsicht und Erinnerung werden darin abgewehrt, „weil sie die fortgesetzte Identifikation mit dem nationalen Kollektiv“ (ebd.) erschweren.
Die Bezeichnung „Schuldkult“ ist eine bei Identitären und Neonazis beliebte Vokabel, die eine nationale Knechtung Deutschlands (und Österreichs) aufgrund seiner Täter-Vergangenheit unterstellt und zugleich einen stets abrufbaren NS-Geschichtsrevisionismus transportiert. Semlitsch verbindet mit der Vokabel den völkischen Wunsch nach einer Tilgung der deutsch/österreichischen Schuld mit der antisemitischen Vorstellung einer jüdischen Instrumentalisierung der Shoah. Er ist hinsichtlich antisemitisch untermalter NS-Relativierung nicht um Deutlichkeit verlegen und behauptet etwa in demselben Interview:
Natürlich gibt es hier einen Wettkampf um die „Hierarchie der Opfer“. Die Juden stehen in dieser Hinsicht immer noch an der Spitze, aufgrund der Deutung des nationalsozialistischen Völkermords als „singulären Zivilisationsbruch“, dem eine geradezu sakrale Bedeutung zugesprochen wird.
„Einwanderungspolitisch“: Hinter der völkischen Behauptung einer „demographischen Macht“ durch Migrant*innen steht die Verschwörungsideologie vom „Bevölkerungsaustausch“, von der Semlitsch bei jeder Gelegenheit schwadroniert. An zahlreichen anderen Stellen im „Oeuvre“ des Aktivisten wird diese rassistische Untergangsformel auch antisemitisch codiert. Denn der „Bevölkerungsaustausch“ bzw. „Große Austausch“ wird nie lediglich als durch Flucht verursacht verstanden, sondern stets auch als Agenda von weltbeherrschenden Eliten imaginiert, die ein Interesse daran haben, die gewünschte Homogenität vermeintlich organisch gewachsener „Völker“ zu zersetzen und deshalb bewusst „volksfremde“ Migration nach Europa steuern.
„Geopolitisch“: Zuletzt bedient Semlitsch eine Formel, die im israelbezogenen Antisemitismus eine zentrale Rolle spielt und keine Eigenheit der extremen Rechten ist: Israel gehöre zum „amerikanischen Imperium, unter dessen Herrschaft wir stehen“. Hier klingt ein Antiimperialismus an, den es in rechten wie linken Spielarten gibt, der aber stets von einem manichäisch-unterkomplexen Weltbild geprägt ist, das dazu tendiert die Welt nach einem simplen Gut-Böse-Schema einzuteilen: Die USA (manchmal auch uneindeutiger „der Westen“) ist der imperialistische Hegemon, der den Rest der Welt unterwirft.
Insbesondere der globale Süden wird in diesem Weltbild entlang von „ethnisch-kollektiven Homogenitätsvorstellungen“ (Salzborn 2018, S. 84) unabhängig von realen politischen Verhältnissen konzipiert und oftmals als kategorisch widerständig imaginiert. Letzteres betrifft freilich die eher linke Spielart des Antiimperialismus, aber auch diese steht in einer ideologischen Verbindung mit völkischem Denken, das auf einer Vorstellung von kollektiver Homogenität qua Abstammung beruht. Dieser geteilte antiemanzipatorische Bezug auf Gemeinschaft (anstatt pluraler Gesellschaft) führt immer wieder zu Querfront-Bildungen zwischen linken und rechten Akteur*innen (3).
Israel fungiert im Rahmen der antiimperialistischen Ideologie oftmals als „Jude unter den Staaten“, wobei nicht selten klassische Motive des modernen Antisemitismus blank übertragen werden: Der jüdische Staat sei ein Fremdkörper, ein künstliches Gebilde, das der Region und ihrer angestammten („indigenen“) Bevölkerung schade und das als Satellit der weltbeherrschenden US-Supermacht auftrete.
Der Antiamerikanismus, der rechts wie links stets en vogue ist, bedarf allerdings keines direkten Bezugs auf Israel, um antisemitische Codes zu bedienen. Dies lässt sich anhand eines Semlitsch-Textes aus dem Jahr 2015 anschaulich machen, wo er seine Haltung zum Jahr 2001 reflektierend, von den USA als „nahezu allmächtige[m] globalistische[m] Krake[n]“ spricht, dem „heimgezahlt wurde, was er selbst tausendfach gesät hatte, die Türme des WTC die Tempel der Hochfinanz und des imperialkapitalistischen Babylons“ (4) hätten damals endlich zu wanken begonnen.
Sowohl das rechtsextreme Fantasiewort „Globalismus“ als auch der Verweis auf die US-„Hochfinanz“ sind häufig bediente antisemitische Codes. Die Politikwissenschaftlerin Elke Rajal hat noch etliche mehr anhand von Beispielen aus Semlitschs Texten nachgewiesen und analysiert: „Da wären die (jüdischen) ‚Lobbys‘, die ‚Hochfinanz‘, der ‚Mammon‘, die ‚Krake‘ USA usw. Es zeigt sich [bei Semlitsch] ein struktureller Antisemitismus, der als Globalisierungs- oder Kapitalismuskritik oder als Antiamerikanismus daherkommt.“ (Rajal 2017, S. 321)
Grundton: Verschwörungsraunen
Die Semlitschen Anschlüsse an Antisemitismus kommen in jenem verschwörungsideologischen Grundton daher, der bei „Neurechten“ stets vorherrscht und der qua seiner Bildsprache wiederum stets im Kielwasser antisemitischer Ressentiments dümpelt. So raunt Semlitsch in dem zitierten „Heimatkurier“-Interview etwa zur aktuellen Medienberichterstattung hinsichtlich des Nahostkonflikts, dass der „stagnierende ‚Ukraine‘-Chip (…) offenbar langweilig geworden“ sei und nun „ein neues Programm eingeworfen“ wurde. Damit suggeriert er eine gezielte Manipulation durch strippenziehende Mächte in Politik und Medien. Zu solcher Verschwörungsphantastik tritt in diskursiver Folgerichtigkeit die beliebte Opferpose des Milieus: „Wer sich abwägend äußert, wird sofort als Verharmloser oder gar Komplize des Terrors gebrandmarkt, ähnlich wie angesichts des russisch-ukrainischen Krieges.“ Dieser Behauptung wohnt, eingedenk der breiten medialen Skandalisierung und Kritik an der israelischen Rechtsregierung und ihrem militärischen Vorgehen in Gaza, etwas Wahnhaftes inne.
Aber es geht hinsichtlich Verschwörungserzählung freilich noch krasser. In einem Text in Götz Kubitscheks „Sezession“ erklärt Semlitsch es für denkbar, dass
die israelischen Autoritäten den Hamas-Angriff geschehen ließen, um (vor allem vor der Weltöffentlichkeit) einen moralischen Vorwand zu haben, den Dauerbrandherd Gaza endgültig zu löschen und eventuell erneut militärisch zu besetzen, vielleicht sogar eine Flüchtlingswelle auszulösen, die den Landstrich demographisch ‚ausdünnt‘ (5).
Juden und Jüdinnen am antisemitischen Schlachten mitverantwortlich zu machen, indem ihnen ein verschwörerisches Wissen darum und ein Interesse daran unterstellt wird, gehört zum Standard-Repertoire von braunem Antisemitismus.
„Anti-Identität“
Ebenfalls zu diesem braunen Antisemitismus gehört der Zwang, ständig auf die halluzinierte Bedrohung des eigenen „Volkskörpers“ zurückzukommen. So verwendet Semlitsch im „Heimatkurier“-Interview den Slogan vom „Schuldkult“ auch einmal im Nahbereich von NS-Semantik: „Der ‚Schuldkult‘ (…) ist eine ‚Anti-Identität‘, die auf die Auflösung des Deutschen angelegt ist.“
Hier zeigt der sekundäre Antisemitismus eine deutliche Nähe zu der ihn voraussetzenden NS-Version – denn dort wurde in Juden und Jüdinnen eben nicht einfach ein Feind gesehen, sondern ein parasitäres „Gegenprinzip“ zum organischen Volk, das die „Auflösung“ von Innen wie von Außen betreibe. Heute sieht Semlitsch in der Aufarbeitung der Shoah eben das, was die damaligen Täter*innen in den Juden und Jüdinnen sahen: „,Anti-Identität‘, die auf die Auflösung des Deutschen angelegt ist“.
Fußnoten
1 Martin Semlitsch „Lichtmesz“ im Interview mit „Heimatkurier“, 16.10.2023, eingesehen auf der Website des „Heimatkurier“ am 17.11.23.
2 Angemerkt sei, dass Semlitschs Texte einen exemplarischen Charakter für die versuchte Intellektualisierung völkischer Ideologie haben und hier nicht als individuelle Position eines Autors interessieren. Inhaltlich weitgehend deckungsgleiche Argumente bedienen etwa auch Götz Kubitschek oder der österreichische Identitären-Chef Martin Sellner (beide in Kubitscheks Zeitschrift „Sezession“).
3 „Stoppt die Rechten“ wird zeitnah eine mehrteilige Recherche zur sogenannten Querfront veröffentlichen, da dieses Phänomen vor dem Hintergrund aktueller Krisen (Covid-Pandemie, russischer Angriffskrieg und Nahostkonflikt) massiv an Bedeutung und Sichtbarkeit zu gewinnen scheint.
4 Martin Semlitsch „Lichtmesz“: Ich bin nicht Charlie (Teil1), „Sezession“, 10.01.2015, eingesehen auf der Website der „Sezession“ am 17.11.2023.
5 Ders.: Der Krieg in Israel und Palästina hat ein demographisches Fundament, „Sezession“, 12.10.2023, eingesehen auf der Website der „Sezession“ am 17.11.2023.
Literatur
Peham, Andreas (2022): Kritik des Antisemitismus. Stuttgart: Schmetterling Verlag
Rajal, Elke (2017): Offen, codiert, strukturell – Antisemitismus bei der ‚Identitären‘. In: Goetz/Sedlacek/Winkler (Hg.): Untergangster des Abendlandes. Ideologie und Rezeption der rechtsextremen ‚Identitären‘. Hamburg: Marta Press, S. 309–350
Salzborn, Samuel (2018): Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne. Basel: Beltz Juventa