Zum Prozess gegen Josef Fritzl 2009 in St. Pölten marschierte die neonazistische Nationale Volkspartei (NVP) mit ihren Parteitransparenten und dem Slogan „Schützt unsere Kinder“ auf. Die Verantwortung liege bei unserem familienfeindlichen System, erklärte die NVP und ignorierte damit den Umstand, dass sexueller Missbrauch und Vergewaltigung in diesem Fall (wie meistens) innerhalb der eigenen Familie verübt wurden. Die Misshandlungen und der Mord an dem dreijährigen Cain aus Bregenz durch seinen Stiefvater Milosav D. waren nicht nur Anlass für rassistische Hetze, sondern auch für eine beispiellose Kampagne der Freiheitlichen gegen Invaliditätspensionen.
Natascha Kampusch fällt insofern aus dem Rahmen, weil sie nicht als gebrochene junge Frau die jahrelange Einkerkerung überlebt hat, sondern als durchaus selbstbewusste und reflektierte Person, Gerade deswegen wird sie in einer klassischen Opfer-Täter-Umkehr zur Komplizin ihres Entführers gemacht und als Objekt von Verschwörungstheorien zum zweiten Mal, diesmal politisch, missbraucht. Möglicherweise hat auch ihre Beschreibung des Täters Priklopil als Verehrer von Hitler und Haider diese Entwicklung befördert.
Die Ermordung eines elfjährigen Mädchens in Emden (D) ist nicht nur wie der Fall Priklopil von erheblichen Polizeipannen überschattet, sondern auch von einer beispiellosen öffentlichen Hetzjagd auf einen ursprünglich als Täter vorgeführten 17-jährigen Jugendlichen. Die Parolen der Neonazis nach Todesstrafe für Kinderschänder haben in Emden zu lynchartigen Situationen gegen den falsch Verdächtigten geführt. Nach der Verhaftung des mutmaßlichen Täters wurde eine neue Hetzjagd der Neonazis inszeniert: Jetzt wurde der Name des neuen 18-jährigen Verdächtigen veröffentlicht und als erster „Schritt in Richtung zivilcouragierten Protests“ bezeichnet. Apropos: Als die NVP zum Fritzl-Prozess in St. Pölten aufmarschierte, wurde sie von der Tageszeitung „Österreich“ als „Menschenrechtsinitiative“ vorgestellt!
➡️ Lesenswerte Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung: „Was sie über sexuellen Missbrauch wissen sollten“