Die Wahrnehmung ist ein Hund – weil sie so unterschiedlich sein kann. Im Fall des Deniz C. (30) begannen die Wahrnehmungsprobleme in seiner Wohnung, wo es wegen der in der Bettlade versteckten Nichte zu einem heftigen Konflikt mit der Polizei kam. Sie setzten sich fort im Prozess gegen C., der im April am Wiener Landesgericht wegen Wahrnehmungsproblemen unterbrochen werden musste. Und sie endeten vorläufig in sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen von Angeklagtem und Zeugen, einem unverständlichen Urteil und wahrgenommenen Drohungen des Angeklagten gegen das Publikum.
Beginnen wir bei den Ereignissen, die sich am 19.1.25 vor und in der Wohnung von Deniz C. zugetragen haben und in der Folge zu einer umfangreichen Anklage wegen schwerer Körperverletzung, schwerer Sachbeschädigung, Kindesentziehung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und schließlich auch noch NS-Wiederbetätigung geführt haben.
„Kommt’s rein“ versus „Ihr Hurenkinder, ich bring Euch um.“
In C.s Wohnung hielten sich zum Tatzeitpunkt der Angeklagte und seine Nichte (11) auf, die bereits 14 Tage aus der betreuten Wohngemeinschaft, in der sie lebte, abgängig war. Nach ihr war schon überall gesucht worden, bis sie in einer SMS an eine Freundin ihren Aufenthaltsort beschrieb. Die Polizei rückte an, und schon gingen die Wahrnehmungen extrem auseinander.
Der Angeklagte will die Polizisten freundlich begrüßt und in die Wohnung eingeladen haben („Kommt’s rein“), damit sie sich überzeugen, dass da niemand außer ihm aufhältig war („Schaut’s selber“). Seine fast schon vorbildliche Selbstbeschreibung als hilfsbereiter Staatsbürger kollidiert aber mit den Wahrnehmungen der Polizisten, die auch als Zeugen befragt wurden. Aus der freundlichen Einladung wurde in deren Wahrnehmung „Kommt’s her, Ihr Hurenkinder“und dann in der Wohnung, als die Polizisten das Mädchen in der Bettlade entdecken: „Ihr Hurenkinder, ich bring Euch um.“
Beschimpfungen gibt der Angeklagte auch in der Verhandlung zu. Sie seien erfolgt, weil die Polizisten das Mädchen gewaltsam aus der Bettlade herausgezerrt hätten und das Mädchen „Aua, Aua“ geschrien hätte. Die amtshandelnden Polzisten beschrieben das Verhalten des Mädchens als ruhig. Man habe ihr geholfen, aus der Bettlade rauszukommen, während der Angeklagte parallel dazu geschimpft und gedroht habe: „Wenn Ihr mich angreift, dann bring ich Euch um.“
Daraufhin erfolgte seine Festnahme, die mit massiver Gegenwehr und Tritten des Angeklagten gegen einen Beamten verbunden war, was sich in der Anklage im Vorwurf des Widerstands gegen die Staatsgewalt und der schweren Körperverletzung abbildete. In der Arrestzelle zerlegte er die karge Inneneinrichtung (schwere Sachbeschädigung) und bei der Einvernahme durch den Polizeijuristen am nächsten Tag fiel dem dann auch noch das frisch tätowierte Hakenkreuz am Hals auf.
Zum Hakenkreuz-Tattoo am Hals wurde der Angeklagte in der Verhandlung am 18.6. mehrmals befragt. Alt oder neu, selber gestochen oder vom Freund, im benebelten oder bewussten Zustand? Da gingen sogar die Eigenwahrnehmungen des Angeklagten mehrmals auseinander. Aber einer der Polizisten sagt aus, C. sei ihm im Grätzel bisher nicht als Rechtsradikaler aufgefallen. Im Verhandlungssaal saß er dann mit einem überstochenen Tattoo.

Gestörte Wahrnehmungen wegen Baulärm
Der erste Verhandlungstag gegen Deniz C. am 7.4. musste wegen Baulärms abgebrochen werden. Die Richterin entschied, dass bei diesem Lärm die Geschworenen nicht alles verstehen könnten – ein Wahrnehmungsproblem, das auch unsere Prozessbeobachtung betroffen hat. Vieles von dem, was am 7.4. im Lärm unterging, wurde am 18.6. aber nicht wiederholt.
C. hat nicht nur ein massives Suchtproblem, sondern auch einige Vorstrafen. Köperverletzung ist auch dabei – der Rest ist im Baustellenlärm eingepackt. Am Tag seiner Taten im Jänner hatte er neben Alkohol auch schon ein Flascherl Psychopax inhaliert, was in der Kombination einem friedlichen unaufgeregten Verhalten nicht zuträglich ist.
Ausraster in der Verhandlungspause
Was er am zweiten Verhandlungstag intus hatte, wurde nicht erörtert. In der Verhandlungspause, in der die Geschworenen über die ihnen vorgelegten fünf Fragen berieten. rastete C. neuerlich aus. Neben einigen Journalist*innen waren im Wartebereich vor dem Verhandlungssaal auch der Angeklagte, seine Mutter, seine Verteidigerin und zwölf Schüler*innen, die der Verhandlung als Publikum gefolgt waren. Unsere Prozessbeobachtung schilderte die Szenen so:
Der Angeklagte zeigte zunächst auffälliges Verhalten, indem er die anwesenden Frauen und insbesondere die minderjährigen Mädchen mit einem intensiven Blick fixierte und anstarrte. Kurz darauf wurde er verbal aggressiv. Da es ihn sichtbar störte, dass wir Zuschauer*innen anwesend sind, wiesen ihn die Mutter und seine Anwältin darauf hin, dass dies ein öffentlicher Prozess ist und das daher Publikum erlaubt ist. Daraufhin begann er, die Anwesenden zu bedrohen, indem er wiederholt laut und deutlich äußerte: „Wenn ihr in meinen Verhandlungssaal reingeht, dann bringe ich euch alle um und ficke euch alle.
Die Mutter des Angeklagten versuchte daraufhin, deeskalierend auf ihn einzuwirken und verließ mit ihm den Wartebereich. Während beide auf den Aufzug warteten, führte der Angeklagte mit seiner rechten Hand eine bedrohliche Geste aus, indem er sich mit der Hand über den Hals strich – eine Enthauptungsgeste. Die Verteidigerin des Angeklagten reagierte nicht auf diesen Vorfall, sondern verhielt sich passiv und schwieg, als sei nichts geschehen. (Sie schaute aufs Handy.)
Das alles wurde auch der vorsitzenden Richterin gemeldet. Die angerückte Polizei nahm die Daten der Zeuginnen auf.
Hakenkreuz-Tattoo keine Wiederbetätigung
Dann die Urteilsverkündung: Die Geschworenen, die zu den zwischenzeitlichen Vorfällen keine Wahrnehmung hatten, entschieden nur bei der Frage nach der Kindesentziehung und dem Widerstand gegen die Staatsgewalt auf Schuld, verneinten sie aber bei der schweren Körperverletzung, der schweren Sachbeschädigung und der NS-Wiederbetätigung. 22 Monate Haft kassierte er dafür – nicht rechtskräftig. Wegen seiner Drohungen im Wartebereich ordnete die Richterin noch im Verhandlungssaal die Festnahme von Deniz C. an.
Danke an prozess.report für die Prozessbeobachtung!