Vor allem im letzten Jahr gründeten sich in Deutschland (aber auch in Österreich) eine Reihe neonazistische Gruppen, die vorwiegend aus sehr jungen Menschen bestehen: „Jung & Stark“, „Deutsche Jugend voran“, „Der Störtrupp“ oder auch regionale Gruppen wie „Unitas Germanica“, in Österreich etwa „Defend Austria“ und „Division Wien“. In den Anfängen waren Feindbilder wie die LGBTQ-Communities und Linke dominierend, mittlerweile hat sich das Themenspektrum auf Hetze gegen Ausländer, Islam und den Kampf gegen die vermeintliche Auflösung des deutschen „Volkes“ erweitert. Daraus leitet sich der Name „Letzte Verteidigungswelle“(L.V.W.) ab.
Der Soziologe und Rechtsextremismus-Experte Matthias Quent sprach am Mittwoch von einer „militanten Massenbewegung“ mit Bezugnahme zum Nationalsozialismus: „In den sozialen Netzwerken haben sich terroraffine Strukturen und Gruppen herausgebildet, die Gewalt gutheißen und vorbereiten.“ Quent attestierte den Gruppen auch ideologische Gemeinsamkeiten mit der AfD, etwa ein „völkischer Kulturpessimismus und die paranoide Vorstellung, man müsse Deutschland vor dem vermeintlichen Untergang retten“. (taz.de, 21.5.25)
Versuchter Mord, schwere Brandstiftung und Sachbeschädigung
Die am 21. Mai festgenommenen Verdächtigen der L.V.W. (aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Hessen) sind im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, drei weitere Jugendliche aus den Bundesländern Sachsen und Thüringen befanden sich bereits in U‑Haft. Die beiden Verdächtigen aus Thüringen
sollen am 5. Januar versucht haben, eine Asylbewerberunterkunft in Schmölln in Brand zu setzen. Sie sollen Pyrotechnik durch ein eingeschlagenes Fenster in die Unterkunft geworfen haben. Ein Feuer entstand nicht. Die beiden Beschuldigten sollen zudem 2024 und 2025 Parolen wie „Ausländer raus” oder „NS-Gebiet” sowie Hakenkreuze an die Unterkunft und weitere Gebäude in Schmölln gesprüht haben. (mdr.de, 21.5.25).
Zwei Verdächtige aus Brandenburg (zum Tatzeitpunkt 15 Jahre alt) werden für den Brandanschlag auf ein Kulturhaus in Altdöbern im Oktober 2024 verantwortlich gemacht, bei dem das Haus niederbrannte und ein Sachschaden von mehreren Hunderttausend Euro entstand. Weitere Anschläge befanden sich in Planung.
Die L.V.W. wurde vermutlich schon vor drei Jahren gegründet, trat aber erst im Vorjahr öffentlich auf. Journalist*innen von RTL und „stern“ gelang es, die Gruppe über ein halbes Jahr zu infiltrieren und den Verfassungsschutz von den Aktivitäten zu informieren, was zur Festnahme der ersten drei führte. RTL und „stern“ (3.5.25) hatten bereits vor drei Wochen ausführlich über die „Nazi-Kinder“ und ihre Anschlagpläne berichtet. Die Mitgliederzahl der Gruppe wird im mittleren zweistelligen Bereich gesehen. Jetzt wird zunächst einmal wegen versuchtem Mord, schwerer Brandstiftung und Sachbeschädigung ermittelt. Vermutlich werden sich der Kreis der Verdächtigen und die Zahl der Delikte noch erweitern.
Café von „Zecken“ niedergebrannt
Einige Zeit nach dem Brand schreiben mehrere Mitglieder der LVW Nachrichten in den Chat oder an Kameraden, die diesen Verdacht erhärten.
Ein Café in Brandenburg, schreibt einer.
Ein anderer mutmaßt, dass Plätzsch abgetaucht sei.
Schließlich schreibt Plätzsch selbst, „1.24 hab ichs angezündet”. Er meint wahrscheinlich um 1.24 Uhr. Die Sirene sei erst später losgegangen, da sei er schon wieder zu Hause gewesen.
Außerdem legt die weitere Unterhaltung nahe, dass der Club vielleicht kein zufälliges Ziel war. Einer schickt eine Sprachnachricht, Plätzsch habe ein altes Café niedergebrannt, das „Zecken” gekauft hätten. Zecke ist in der rechten Szene ein Schimpfwort für Linksautonome, manchmal auch für Leute, die anders denken als sie.
Als Justin Schmidt unterwegs ist nach Tschechien, spricht er mit der Frau auf dem Beifahrersitz über den Brand in Altdöbern. Er sagt, dass Plätzsch einen Brandbeschleuniger benutzt habe. Und dass sie zusammen noch etwas geplant hätten.
Etwas Schlimmeres als diesen Brand. An diesem Samstag hätten sie zusammen dafür einkaufen wollen, an der Grenze.
Heute, gut ein halbes Jahr später, wertet die Staatsanwaltschaft Cottbus den Brand von Altdöbern als schwere Brandstiftung. Sie ermittelt gegen zwei Jungen, beide 15 Jahre alt. Sie lehnt es ab, über den Fall und die Ermittlungen zu sprechen. Allerdings gibt sie zu, dass auch eine Anfrage von stern und RTL die Ermittler auf die Spur der beiden geführt hat.
Sicherheitsbehörden bisher kaum aufgefallen waren. Eine Chatgruppe, in der sie einander mit Gewaltfantasien anstacheln.
Macht endlich was und bewegt was, sonst ändert sich nie etwas.
Außerdem sollt ihr aufrüsten. Mit Messern, Schlagstöcken, Schlagringen, Böllern, Schreckschuss. Damit wir radikaler werden können.
Es muss wenigstens einen Toten geben.
Die Einblicke in Schmidts Gruppe zeigen beispielhaft, warum Experten des Bundeskriminalamts, Verfassungsschützer und Staatsschützer die neuen rechten Gruppen für so gefährlich halten. Sie beobachten mit Sorge, dass Kinder und Jugendliche kaum mehr als ein Smartphone und eine App brauchen, um in den Sog von Leuten zu geraten, die die deutsche Demokratie mit allen Mitteln bekämpfen wollen. Der Verfassungsschutz spricht von einer Turboradikalisierung im Internet, schnell und kaum zu kontrollieren.
Manchmal beginnt es mit einem Like auf Tiktok oder Instagram. Nach und nach locken Gleichaltrige sie in Chats von Gruppen, die sich geben wie eine terroristische Vereinigung. Die Mitglieder dieser Gruppen posten und teilen Propaganda, sie planen und feiern Schlägereien und Angriffe, die sie „Aktionen” nennen.
Diese Jugendlichen agieren nicht aus dem Untergrund wie früher die Rote Armee Fraktion oder der Nationalsozialistische Untergrund, kurz NSU. Sie sitzen in ihren Kinderzimmern.
Justin Schmidt hatte sich früh am Morgen in sein Auto gesetzt, um am Hauptbahnhof in Dresden die neue Kameradin aus Berlin abzuholen, pünktlich um neun. Seine Gartenlaube liegt gut eine Dreiviertelstunde entfernt, gerahmt von einem Waldstück und einem See. Sein Zimmer ist fast ohne Möbel, eine Matratze auf dem Boden, an der Wand eine Reichskriegsflagge, vor den Fenstern Lamellenrollos. Ein Feldweg führt dorthin, am Rand liegen glatt geschnittene Baumstämme, zu großen Stapeln aufgetürmt.
Schmidts Leben, wie er es erzählt, handelt von einer Kindheit mit Wirren und einer Jugend im Freundeskreis älterer Männer. Sein Vater sei spurlos verschwunden, als er drei war. Irgendwann habe seine Mutter einen anderen Mann kennengelernt, der ihm ein Stiefvater wurde und in seinem Leben wichtig geblieben sei, nachdem die Mutter und er sich getrennt hätten. Schmidt sagt, er habe viele Abende mit dem Stiefvater und seinen Freunden verbracht. Einige seien Glatzen. (stern.de, 3.5.25)
➡️ taz.de (21.5.25): Nazis im Kinderzimmer
➡️ stern.de (20.5.25): Undercover bei jungen Neonazis – die Doku in voller Länge (Paywall)