Das FPÖ-Wahlprogramm beginnt mit einem etwas verrätselten, aber schwer ideologischen Satz:
Unser gemeinsames freiheitliches Ziel ist es, den Auflösungsprozess unseres Staates zu stoppen und unserer Republik Österreich wieder die volle Verfügungsgewalt über die drei wesentlichen Elemente ‑Regierung, Raum und Volk – zu verschaffen. (S. 4)
Der Staat Österreich im Auflösungsprozess? Haben wir etwas übersehen? Was folgt daraus? Und was soll die Formulierung bedeuten, dass sich die Republik Österreich wieder die volle Verfügungsgewalt über Regierung, Raum und Volk verschaffen müsse?
Aufklärung über den dramatischen Befund der FPÖ gibt es nicht im Programm, wohl aber Hinweise. Von „entglittenen Gebieten“ (S. 25) in den größeren Städten, in denen der Staat die Kontrolle verloren habe, ist da die Rede. Eine „Auflösung der auf Binarität fußenden gesellschaftlichen und rechtlichen Ordnung“ (S. 13) erfolge auch durch „Transgender-Gehirnwäsche“ (ebd.) und „queere Experimente“ (ebd.).
Ganz klar ist das nicht. Die FPÖ, die auf der einen Seite einen immer stärkeren Staat, den „Überwachungsstaat“ (S. 15) kritisiert, der auf „Massenüberwachung“ (S. 9), „beispiellose Indoktrination und Gehirnwäsche“ (S. 10) setze, sieht gleichzeitig den Staat in Auflösung? Das passt nicht zusammen.
Zunächst einmal schwierig ist auch die Interpretation der zweiten Hälfte des Satzes. Unsere Republik, also die Staatsform, in der das Recht vom Volk ausgeht, soll sich wieder die volle Verfügungsgewalt über Regierung, Raum und Volk verschaffen? Wer soll da über wen und was verfügen? Fakt ist, dass die Begriffe „Raum“ und „Volk“ toxisch durch ihre Verwendung in deutsch-völkischen, rechtsextremen und NS- Diskursen schwer belastet sind. Wer sie heute wieder verwendet, will ganz offensichtlich an eine völlig diskreditierte staatspolitische Konzeption anknüpfen, auch wenn sie durch einige Vernebelungen neu interpretiert scheint.
Multiple Verfassungsbrüche im FPÖ-Wahlprogramm
Zum behaupteten Staat in Auflösung passen jedenfalls die Maßnahmen, mit denen die FPÖ gegensteuern will: Notstandsmaßnahmen, Verfassungsbrüche und die Aushebelung unserer parlamentarischen Demokratie. Eine linke Übertreibung? Keineswegs.
Das Asylrecht soll durch Notgesetz ausgesetzt werden, solange Österreich überlastet ist, heißt es auf Seite 47. In der ORF-Konfrontation am 5.9.24 formulierte Herbert Kickl das noch deutlicher und direkter. Auf den Einwand der Moderatorin, dass durch einen totalen Asyl-Stopp Völkerrecht, EU-Recht und Verfassung gebrochen würde, antwortete Kickl: „Wir würden es einfach machen. Ich sage es Ihnen, wie es ist, es einfach machen. Genauso wie es die Ungarn machen, um diese Völkerwanderung zu stoppen.“
Sicher ist hingegen: Die österreichische Verfassung gibt niemandem – weder einer Regierung, dem Parlament oder dem Bundespräsidenten – das Recht, Verfassungsrecht (sowohl die Europäische Menschenrechtskonvention als auch die Genfer Flüchtlingskonvention stehen in Österreich im Verfassungsrang) durch Notgesetzgebung auszuhebeln. Was wenig bekannt ist: Es gibt zwar seit der Verfassungsnovelle von 1929 eine Bestimmung im Bundesverfassungsgesetz, die dem Bundespräsidenten unter eng definierten Voraussetzungen auf Vorschlag der Regierung und Mitwirkung des Parlaments das Recht einräumt, befristet Notverordnungen zu erlassen (Artikel 18, Abs3‑5 B‑VG), aber Verfassungsbestimmungen sind bei dieser Kompetenz, die in der Zweiten Republik bisher totes Recht war, strikt ausgenommen. Allein diese von Kickl bzw. im Wahlprogramm skizzierte Vorgangsweise wäre daher ein multipler Verfassungsbruch – und keineswegs der einzige.
Der Fremden-Schnellgerichtshof als Sondergericht?
Das österreichische Verwaltungsstrafrecht (§ 47 VStG) kennt zwar unter bestimmten Voraussetzungen ein Schnellverfahren, das aber die Möglichkeit, ordentliche bzw. außerordentliche Rechtsmittel zu ergreifen, nicht ausschließt. Der Vorschlag des FPÖ- Wahlprogramms zur Einrichtung eines Fremden-Schnellgerichtshofs würde aber „abschließend“ die Aufenthaltsberechtigung klären wollen, wäre also eine Mischung aus – wegen der Voraussetzungen des § 47 VStG – unzulässiger Schnellgerichts- und Sonder- bzw. Ausnahmegerichtsbarkeit.
Aushebelung der parlamentarischen Demokratie?
Was die FPÖ in ihrem Wahlprogramm unter dem Ausbau direkter Demokratie versteht und vorschlägt, würde wohl auf eine Schwächung bzw. sogar Aushebelung der parlamentarischen Demokratie hinauslaufen.
- Wenn vier Prozent der Stimmberechtigten (also rund 250.000 Menschen) ein vom Nationalrat verworfenes Volksbegehren unterstützen, soll das zu einer „verpflichtenden Volksabstimmung führen“ (S. 6) – „Gesetzgebung unabhängig vom Willen des Nationalrats“, jubelt das FPÖ-Wahlprogramm. Richtig, aber auch eine reine Mehrheitsentscheidung ohne Rücksicht auf Minderheitsinteressen. Und wer schreibt das Gesetz, wenn weder Nationalrat noch Regierung eingebunden sind? Der Heilige Geist oder eine Lobby-Gruppe?
- Mit dem gleichen Quorum, also vier Prozent der Stimmberechtigten, soll eine Volksabstimmung über die Abberufung von einzelnen Regierungsmitgliedern oder der gesamten Bundesregierung, eingeleitet werden können. Das könnte wohl über die Dauer einer Legislaturperiode zur Lähmung jeglicher politischen Arbeit durch Rechtsextreme führen.
Wir sind am Ende, obwohl zu etlichen Punkten, die im Wahlprogramm entweder fehlen (z.B. Korruption) oder überwiegend verächtlich und hetzerisch thematisiert (z.B. Kunst versus „Staatskünstler“, Kultur versus„Kulturschickeria“, Klima versus „Klimakleber“, „Klimastrafen“, „Klimahysterie“) oder abgewürgt werden (Arbeiterkammer und Wirtschaftskammer durch Abschaffung der Pflichtbeiträge), noch einiges zu sagen wäre.
Wer nach der Lektüre des FPÖ-Wahlprogramms bzw. unserer Anmerkungen noch immer daran festhalten will, bei diesem Programm handle es sich um Vorstellungen und Forderungen, die man durch eine Regierungsverantwortung der FPÖ entzaubern könne, der oder dem ist nicht zu helfen.
➡️ FPÖ-Wahlprogramm (I): Homogen durch Ausscheidung des Heterogenen
➡️ FPÖ-Wahlprogramm (II): Canceln, Rollatoren & Freiheit für Hass und Hetze
➡️ Das FPÖ-Wahlprogramm (IV) und der Klimaschutz: Land unter!