Der unbekannte „Kahl“
Rückblende: Im August 2022 veröffentlichte die Polizei Fahndungsfotos von zwei Männern, die in Verdacht stünden, „am 15.05.2022 gegen 00:45 Uhr, in der U3 Station Hütteldorfer Straße nationalsozialistische Parolen gerufen und fremdenfeindliche Aussagen getätigt sowie Fahrgäste angepöbelt zu haben. Sie hoben die Arme zum Hitlergruß, woraufhin eine Zeugin die Polizei verständigte.“ (zit. nach heute.at, 22.8.22) Wie sich nun im Prozess herausstellte, war der Vorfall um einiges heftiger als in der Fahndung dargestellt: Die Männer hätten davon geredet, Juden, Schwule und N* umgebracht zu haben, pöbelten einen jungen Mann wegen seiner pinken FFP-2-Maske an und vollführten „Heil Hitler“ schreiend den Hitlergruß.
Zwei Tage später veröffentlichte die antifaschistische Plattform „Österreich rechtsaußen“ (ÖRA) eine ausführliche Recherche zu einem der gesuchten Männer: Bei dem der Polizei Unbekannten handelte es um einen langjährig in der Szene aktiven Mann, der unter dem Pseudonym „Mario Kahl“ auch in den Sozialen Medien einschlägige Spuren hinterlassen hatte. „Kahl“ hatte nach dem Fahndungsaufruf seine Social Media-Accounts zwar offline gestellt, doch ÖRA hatte seine intensiven braunen Umtriebe bereits gesichert.
„Kahl“ stellte sich der Polizei, blieb jedoch auf freiem Fuß. In einer Hausdurchsuchung wurden Kleider mit NS-Symbolen, Zeitungen mit NS-Inhalten und einschlägige Dateien aufgefunden. Von einem sichergestellten Foto „profitierte“ unfreiwillig auch Roman P., der bereits im April zu einer teilbedingten Haftstrafe verurteilt wurde. Nach Ende des Ermittlungsverfahrens, im Dezember 2023, lieferte „Kahl“ einen Auftritt, der zu seiner Verhaftung führte: In der Disco „Prater Dome“ zeigte er erneut den Hitlergruß.
In Handschellen aus der U‑Haft vorgeführt
Am 17. Juni musste der kahlköpfige Mario F. (40) schließlich vor einem Geschworenengericht antreten. Der in der Administration einer Wiener Universität arbeitende zweifache Akademiker (Politikwissenschaft- und Geschichte-Studium) wurde direkt aus der Untersuchungshaft in Handschellen vorgeführt. Im Gerichtssaal erklärte er schwul zu sein und sich besonders zu Skinheads hingezogen zu fühlen. Er sei nur deshalb Nazi geworden, um diesem Typ Mann, Skinheads, zu gefallen. F.s Homosexualität in Kombination mit seiner Alkoholsucht waren denn auch ein Verteidigungsargument, das sich durch den gesamten Prozess und alle – insgesamt 70 – Vorhaltungen zog.
Sein Verteidiger, Manfred Arbacher-Stöger, erklärte, der Angeklagte habe früh gemerkt, dass er homosexuell sei, sich dies aber nie eingestanden aus Angst, ausgegrenzt und verstoßen zu werden. Um seine versteckte Sexualität zu kompensieren, sei er Nazi geworden. Der Angeklagte selbst gab zu, dass er sich in die Neonazi-Welt geflüchtet habe, weil er dort bewundert wurde. Er fühlte sich zu Skinheads hingezogen und nahm deren Ideologie an, um als Mann respektiert zu werden.
Schnelle Läuterung in der Haft
Arbacher-Stöger, der betonte, dass F. nichts Besseres als die Haft passieren habe können, dass die zum richtigen Zeitpunkt gekommen sei, argumentierte mit dem Läuterungsprozess, der F. in der Zelle zuteilgeworden sei. Er habe erst dort begonnen, sich mit seiner Sexualität auseinanderzusetzen und erkannte, dass die Menschen, die er zuvor verachtet hatte, auch nur Menschen seien. F., der sich in allen Anklagepunkten schuldig bekannte, strich auch noch seinen Alkoholkonsum hervor – er habe „Sachen gemacht, die ich ohne Alkohol nicht gemacht hätte. Mein Neurologe meint, dass meine Alkoholsucht“ zu den Taten geführt hätte. Als der Richter die einzelnen Fakten, vor allem Fotos, auf denen F. in Neonazi-Kontext und oft mit Hitlergruß zu sehen ist, aufzählte, lautete die Standardantwort, er habe anderen gefallen wollen.
Vier Jahre unbedingt
Am Ende des Prozesses standen 42 Hauptfragen an, über die die Geschworenen mit schuldig oder unschuldig zu befinden hatten. F. wurde in jedem einzelnen Fall einstimmig schuldig gesprochen und zu vier Jahren unbedingter Haft verurteilt. Dort wird er nun viel Zeit haben, ein komplett neues Leben, das er sich aufbauen wolle, vorzubereiten. Das Urteil ist bereits rechtskräftig.
Danke an prozess.report für die Prozessbeobachtung!