Kickls Brutto-Netto-Schwindelei
Bald einmal nach Beginn des Gesprächs kreist das Gespräch um Arbeitsmarktfreizügigkeit in der EU, und Kickl stellt sich selbst die Frage: „Warum kommen denn die Leute nicht nach Österreich, aus den anderen europäischen Ländern?“ Klar, dass einer wie Kickl sich dann auch gleich die Antwort gibt: weil die Leute „in Österreich viel weniger Netto vom Brutto herausbekommen als in anderen Ländern.“
Kickl bringt auch gleich ein Beispiel:
Ich habe mir das einmal angeschaut. Ich habe mir einen 25-jährigen Ledigen hergenommen, ja, der eine gute Ausbildung hat und ein Gehalt von 5 000 Euro, 4.000 Euro brutto. 4.000 Euro brutto ist es, verdient und wieviel bleibt ihm in den einzelnen Ländern über? Und wenn Sie das vergleichen, dann stehen Ihnen die Haare zu Berge. Dann werden Sie sehen, dass der in Österreich 2.620 Euro herausbekommt, dass der aber in der Schweiz zum Beispiel 3.360 Euro herausbekommt. Dass der in Schweden, in einem Land, das aber hohe Sozialstandards hat, also das kann also nicht an der Finanzierung des Sozialsystems liegen, das gibt es dort auch, ja? Dass der dort 3.100 Euro herausbekommt.
Wir haben uns das auch angeschaut. Was stimmt an Kickls Beispiel: Der 25-jährige Ledige in Österreich, der monatlich 4.000 Euro brutto verdient, erhält tatsächlich 2.620 Euro netto. Seine 4.000 brutto erhält er in Österreich allerdings 14x im Jahr, sodass sein Gesamtjahresverdienst netto auf 37.713,62 Euro kommt. Macht monatlich 3.142,80 Euro (siehe Bruttonettorechner der AK) .
Das Beispiel mit dem „Ledigen“ ist natürlich ziemlich tricky. Warum? Weil auch Kickl weiß, dass das österreichische Steuer- und Sozialsystem Alleinverdiener*innen begünstigt, wenn sie Kinder haben. Umgelegt auf die Angaben Kickls (4.000 Euro brutto monatlich) bedeutet das bei Alleinverdienenden mit zwei Kindern (heruntergerechnet von 14 Gehältern) einen monatlichen Nettoverdienst von 3.534,82 Euro. Selbst ohne 13./14. Gehalt wären es immer noch 3.012,34 Euro monatlich. Dazu kämen dann noch die Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag, die beide zusammen wesentlich höher sind als die entsprechenden Transferleistungen in Schweden. Den Vergleich mit der Schweiz kann sich Kickl sowieso sparen, denn weder sind deren Löhne und Preise mit österreichischen vergleichbar und die Sozialleistungen schon gar nicht. Und: Wie viele 25-jährige Ledige verdienen 4.000 Euro? Wahrscheinlich keiner, der mit abgebrochenem Philosophiestudium in den Arbeitsmarkt wechselt – und die allermeisten anderen ebenfalls nicht!
An der fehlenden Attraktivität Österreichs liegt es also nicht. Merkwürdig ist auch, dass gerade ein Blauer damit argumentiert, zumal es doch die FPÖ ist, die seit Jahrzehnten für die Einschränkung des Zuzugs nach Österreich eintritt – nicht nur aus Drittstaaten, sondern auch aus den EU-Erweiterungsländern. Die volle Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit gibt es daher erst seit 1.1.2014 und hat für Österreich dazu beigetragen, dass die Bestqualifizierten schon früher in andere EU-Länder zugezogen sind. Und diejenigen, die dennoch in Österreich gearbeitet haben, wollte Türkis-Blau mit der Indexierung der Familienbeihilfe schikanieren, was letztlich vom EuGH gekippt wurde.
Kickls Retro-Modell: „Gastarbeiter“
Es ist nicht nur dem Zynismus Kickls zu verdanken, dass er geradezu leuchtende Augen bei dem Wort „Gastarbeiter“ bekommt: „Das ist ein wunderschöner Begriff, das sollten wir wieder einführen!“ Medien, die sich verwundert darüber zeigten, dass sich Kickl in gewisser Weise doch mehr Zuzug vorstellen kann, haben nicht das „Handbuch Freiheitlicher Politik“ oder Anträge der FPÖ dazu gelesen. Abgesehen davon, dass das historische „Gastarbeiter“-Modell der 60er- und 70er-Jahre gescheitert ist, war es auch eines, das Arbeitnehmer*innen zweiter Klasse mit geringeren Sozialleistungen und verschärfter Lohnkonkurrenz inkludiert hatte.
Genau dieses zynische und neoliberale Beschäftigungsmodell der „Gastarbeiter“ streben die Blauen wieder an: Befristete Beschäftigung ermöglicht den Wegfall von Beiträgen für Arbeitslosigkeit und ein eigenes Sozialsystem zweiter Klasse, ist daher nach Vorstellung der Blauen ein Zuckerl für Unternehmen. In Wahrheit würde damit ein ziemlich brutales Apartheid-Sozialsystem mit gravierenden Auswirkungen auch für inländische Beschäftigte geschaffen.
Kickls Pflege‑K.O.
„Milliarden“ würden im Gesundheits- und Pflegebereich „durch Verwaltung und Bürokratie vernichtet“, behauptet Kickl – ohne jeden Beleg. Als ihn seine Interviewerin Susanne Schnabl daran erinnert, dass die FPÖ mit ihrem Versprechen der „Patientenmilliarde“, also einer Kürzung von Verwaltung und Bürokratie zugunsten der Versicherten, schon einmal gescheitert ist, wird Kickl grob: „Moment. Entweder wollen Sie jetzt von mir eine Antwort haben oder wollen Sie jetzt das Thema wechseln?“
Als Susanne Schnabl versichert, nicht das Thema wechseln zu wollen, aber eine Antwort erwarte, weicht Kickl zum blauen Rohrkrepierer „Patientenmilliarde“ aus, indem er betont, seinen Gedanken zu Ende führen zu wollen: „Und das schneiden Sie jetzt aber bitte nicht heraus.“ Seine Angst vorm Herausschneiden äußert er im Interview insgesamt viermal, sie dürfte also wirklich groß oder der Intention, den ORF als Zensureinrichtung vorzuführen, geschuldet sein.
Was ihm dann noch als blaue Antwort zum Pflegethema einfällt, ist alles andere als berauschend. Neben der Allerweltsformel, die Pflege zuhause stärken zu wollen, ist es das Modell einer Pflegelehre. Der FPÖ-Partei- und Klubchef im Nationalrat hat anscheinend nicht mitbekommen, dass der Nationalrat mit den Stimmen auch seiner Fraktion die Pflegelehre bereits beschlossen hat.
Kickls Klarstellung zu den Identitären
Als der FPÖ-Chef zum Verhältnis der Blauen zu den rechtsextremen Identitären gefragt wird, empfiehlt er zunächst einmal dem ORF –„und das schneiden Sie mir jetzt bitte auch nicht raus“ – eine Einladung (!) von Identitären in eines der ORF-Sendeformate, um auf Nachfrage dann zu verdeutlichen:
Wenn die Identitären ein politisches Projekt oder eine Initiative betreiben, die aus unserer Sicht in Ordnung ist, ja, warum soll ich das nicht unterstützen? Das ist genau das gleiche, wie wenn Greenpeace irgendwo politische etwas vorantreibt oder von mir aus Global 2000 den Kampf gegen die Gentechnik in den Lebensmittel, dann halte ich das auch für ein unterstützenswertes Projekt.
Die rechtsextremen Identitären, bestens ideologisch und personell vernetzt mit Neonazis und Rechtsterrorismus, „unterstützenswert“? Eine Gleichstellung mit Greenpeace und Global 2000? Geht’s noch?
Kickls K.O. bei den Politikerbezügen
Die Bezüge von Politiker*innen werden eigentlich jährlich automatisch inflationsangepasst. Für dieses Jahr hat die Bundesregierung angekündigt, nicht nach der Inflationsrate von 9.7 % anpassen zu wollen, sondern für die Spitzenpolitiker (im wesentlichen Bundesregierung, Klubobleute, Nationalratspräsidium) die Anpassung komplett entfallen zu lassen, während Abgeordnete und Landespolitiker*innen mit dem halben Wert angepasst werden sollen.
Kickl war gegen diese Regelung, forderte einen kompletten Verzicht auf eine Wertanpassung, während die FPÖ-Vertreter*innen in den Landesregierungen (NÖ, OÖ, Salzburg) auch nach Ermahnung durch ihn an der Erhöhung um den halben Wert festhielten.
Ein klarer Konflikt, vor allem ein Glaubwürdigkeitsproblem für den Parteichef, der sich nicht bei seinen Parteigranden durchsetzen kann. Im Sommergespräch präsentierte Kickl deshalb einen Vorschlag, durch den er die Zustimmung seiner eigenen Parteifreund*innen in den Bundesländern umgehen könnte. Dazu bräuchte er eine Änderung des Bundesverfassungsgesetzes über die Begrenzung von Bezügen öffentlicher Funktionäre und damit die Zustimmung zumindest von SPÖ und ÖVP.
Zur Lösung seines parteiinternen Konflikts sollen andere Parteien eingespannt werden? Damit der FPÖ-Chef seine mangelnde Führungsqualität von oben her durch Verfassungsgesetz kompensieren kann? Wird nicht funktionieren. Glattes Kickl‑K.O.!
Kickls Kampf gegen Klimarat, nicht gegen Klimakrise
Als Kickl von der ORF-Interviewerin Susanne Schnabl zu seiner Strategie gegen die Klimakrise gefragt wird und auf die Unwetterschäden in Kärnten verweist, geht Kickl auf Angriff, beschimpft den Weltklimarat als „Glaubenskongregation“, „die dann ausgerechnet das Schlechteste, den Worst-Case, das Unwahrscheinlichste gewählt haben und als Marke gesetzt hat“.
Stimmt das? Natürlich nicht. Die Behauptung, der Weltklimarat, der fünf Szenarien vorgestellt hat, nehme ausgerechnet das Worst-Case-Szenario als seine Bezugsgröße her, ist schlicht und einfach eine Unwahrheit. Der Weltklimarat hält das mittlere Szenario, das moderate, für das wahrscheinlichste, wenn auch bei weitem nicht für das beste. Dem Weltklimarat wird deshalb von verschiedenen Forschern eine massive Unterschätzung extremer Szenarien mit einer Erderwärmung um mehr als drei Grad Celsius vorgeworfen.
Was Kickl behauptet, ist unrichtig, eine absolute Verharmlosung der jetzt schon massiven Schäden durch Dürren, Brände und Unwetter. Zu den Unwettern in Kärnten ist ihm übrigens nichts anderes eingefallen, als sich über den Landesfeuerwehrkommandanten, der die massiven Unwetter in Kärnten mit der Klimakrise in Verbindung gebracht hat, lustig zu machen: „Ich glaube nicht, dass der Herr Landesfeuerwehrkommandant … jemand ist, der in der Klimawissenschaft aktiv ist. Das glaube ich nicht, nein.“
Wir könnten durchaus noch fortsetzen, schneiden das jetzt aber raus. Weil‘s reicht!
Eine Stelle, die mir besonders imponiert hat beim #ORFSG23 mit Herbert #Kickl. Hat eine gewisse … ähm… Tiefe pic.twitter.com/TPkcdajs4U
— … Initiative versus Ochlokratie (@ivo815) August 21, 2023