Kaum war bekannt, dass der langjährige ÖVP-Politiker Gerhard Karner zum Nachfolger von Karl Nehammer als Innenminister aufsteigen würde, rauschten schon die ersten Meldungen zum Texingtaler Dollfuß-Museum durch die Sozialen Medien. Und wie sich recht schnell herausstellte, zurecht! Das „Dr. Engelbert Dollfuß Museum“ wurde 1998 in dessen Geburtshaus errichtet – samt geschichtsvergessener Huldigungstafel.

Die Historikerin und Dollfuß-Expertin Lucile Dreidemy zum Museum: „Es ist als museale Gedenkstätte über den Umweg eines Museums gedacht gewesen. Bei der Gründung führte der damalige Bürgermeister an, es gehe um die Überwindung des bisher mangelnden Mutes, sich zu Dollfuß zu bekennen.“ (zit. nach derstandard.at, 6.12.21) Den Mut hat Karner als Bürgermeister und damit auch als Betreiber des Museums offenbar aufgebracht, wiewohl ihn der jetzt etwas verlassen hat.
Bereits 2018 war in den Niederösterreichischen Nachrichten (NÖN) zu lesen, die Gemeinde Texingtal wolle das Republiksjubiläums- und Anschluss-Gedenkjahr 2018 nützen, um sich „auch kritisch mit dem Erbe von Engelbert Dollfuß auseinander[zu]setzen. (…) Das 20. Jubiläum der Eröffnung [des Museums] will VP-Bürgermeister Gerhard Karner auch als Anlass nehmen, sich mit der umstrittenen Person Dollfuß auseinanderzusetzen und sein Wirken abermals zu beleuchten.“ Wie die Beleuchtung ausgesehen hat, kann erahnt werden. Im Dollfuß-Museum, lässt Karner ausrichten, werde „das Historische gut erarbeitet und kritisch behandelt“. Das sieht nicht nur die Historikerin Dreidemy deutlich anders, sondern auch der Schriftsteller Ludwig Laher, der sich bei seinem Besuch 2018 in einer „originale[n] Weihestätte aus den 30ern, die der Nazizeit getrotzt“ (derstandard.at, 7.12.21) habe, wähnte. Nun, just als dem neuen Innenminister Museum und Aussagen dazu um die Ohren geflogen sind, hören wir, dass eine Überarbeitung bereits seit Mai 2021 geplant sei.
Überarbeitungsbedarf haben jedoch auch jede Menge Ortschaften, aus denen nicht gerade ein Innenminister kommt – sehr oft im kirchlich-katholischen Zusammenhang. Da wäre etwa in Wien die Christkönigskirche, auch als „Seipel-Dollfuß-Gedächtniskirche“ bezeichnet. Das Bundesland mit den meisten Dollfuß-Verehrungen ist zweifellos Niederösterreich. In Pressbaum steht die „Dollfuß-Gedächtniskirche hl. Theresia vom Kinde Jesu“. In einer Google-Rezension ist zu lesen, dass es dort eine Dönerbude mit einem „Kebab in der Dolfußedition“ zu erwerben gäbe – „ein Gaumenschmaus“, findet der Rezensent. Ob das nur eine zarte Form der Widerrede ist oder Realität, ist uns nicht bekannt.

In der Gemeinde Stollhof ist die „Engelbertkirche Hohe Wand“ samt Dollfuß-Gedächtnisstätte zu bestaunen. „Auch an der Kapelle in Nodendorf, gleich neben dem Eingang, ist eine entsprechende Ehrentafel angebracht. Initiiert wurde das damals vom Nodendorfer Gemeinderat: ‚Dem Führer und Heldenkanzler, gewidmet in Treue‘, steht auf der Tafel. (noen.at, 14.12.21) Diskussion gäbe es keine, weiß der Bürgermeister den NÖN zu berichten: „Das ist ein Relikt aus vergangener Zeit, das keine Aktualität mehr hat. (…) An der Ortskapelle von Geitzendorf (Bezirk Korneuburg) wurden vom damaligen Bürgermeister über dem Eingangstor die angeblich letzten Worte Dollfuß‘ ‚Ich wollte ja nur den Frieden. Den anderen möge der Herrgott vergeben. † am 25. Juli 1934 mein Oesterreich‘ angebracht.“ (noen.at)
Nicht ganz so friedlich wie in Nodendorf ist die Diskussion in Heinrichs bei Weitra (Gemeinde Unserfrau Altweitra) verlaufen, wo eine beim Eingangstor zur Kirche angebrachte Tafel Dollfuß, dem „Erneuerer Österreichs“ samt Porträt und Kruckenkreuz gewidmet ist. Allerdings kam die Aufregung von außen, nämlich durch den „Standard“, der sich 2014 erfrecht hatte, über die unsägliche Geschichtserinnerung zu berichten.
Bürgermeister Otmar Kowar [war] entsprechend aufgebracht: „Wenn in Wien eine Straße umbenannt wird, mischen wir uns auch nicht ein”, sagt er. (…) Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird hier Dollfuß’ gedacht, hinterfragt hat die Gedenktafel bisher niemand. „Sie war so lange dort und hat nie jemanden gestört”, sagt Kowar, der nun seine Bürger über den Grund für diese Heldenverehrung informieren will. Schließlich sei ja „das Wissen über diese Zeit marginal”. (derstandard.at, 9.4.14)
Mit der Diözese habe man sich schließlich geeinigt, „[d]as Kreuz kommt weg, die Inschrift wird durch den Satz ‚Opfer für die Souveränität Österreichs gegen den Nationalsozialismus‘ ersetzt“ (derstandard.at, 9.4.14). Nun sind zwar mehr als sieben Jahre ins Land gezogen sind, und der damalige Bürgermeister amtiert noch immer, aber auch die Tafel ist in unverändertem Zustand geblieben. Es habe trotz vielfacher Bemühungen, so hören wir, auch nicht die damals angekündigte Information über bzw. Auseinandersetzung über Dollfuß gegeben.
Auch Tirol hat mit zahlreichen Dollfuß-Gedächtnisstätten aufzuwarten, einige zählt die Website „Innsbruck News“ in dem Artikel „Totenkult für einen Diktator“ auf.
Über dem Dorf Nösslach ragt ein drei Meter hohes Holzkreuz.
„Zu Ehren der beiden großen Kanzler Ignaz Seipl – Engelbert Dollfuß” ist auf der Tafel eingraviert, ebenso wie das Krukenkreuz, Symbol des Austrofaschismus. (…) Ortsansässigen ist der Weg 45 von Steinach (Talstation Bergeralmbahn) zum Kreuz noch als “Dollfuß-Weg” bekannt. (…) Auch an anderen Orten in Tirol stehen Gedenkstätten, die an Dollfuß erinnern sollen, wie etwa das Wegkreuz bei der Walderalm oberhalb von Gnadenwald oder die Marienkapelle [auch Dollfuß-Kapelle genannt,; Anmk. SdR] in Pettnau. In der Pfarrkirche von St. Jakob in Defereggen (Osttirol) ist Dollfuß im Deckenfresko verewigt. (Innsbruck News)
Einen schweren Schicksalsschlag musste die Sportunion Karrösten im Bezirk Imst hinnehmen. Im Jahr 2017 wagte es jemand, eine erst 1984 angebrachte Dollfuß-Gedenktafel (für den „Heldenkanzler“) von einem auf fast 2.400 Meter Höhe stehenden Holzkreuz zu entfernen. Flugs kündigte die das Kreuz betreuende Sportunion an, eine Infotafel anbringen zu wollen. Der damalige Vereinsobmann „betont, dass man unpolitisch sei. ‚Es soll eine Art Museum werden‘, faktenorientiert, ‚jeder soll sich seine eigene Meinung bilden‘.“ (tt.com, 28.9.2017) Der Anspruch, Dollfuß „unpolitisch“ aufarbeiten zu wollen, zeigt ohnehin schon viel von dem, wie es um die dortige Erinnerungskultur bestellt ist: offenbar nicht gut.
Die Aufregung um Innenminister Karner hat sich inzwischen gelegt, und vermutlich wird auch das Dollfuß-Gedenken in guter österreichischer Manier weiterbestehen. Was ist auch schon schlimm an einem, der Österreich „erneuert” hat, indem er die Demokratie beseitigt und auf Arbeiter schießen hat lassen?
Der künftige Innenminister in seinen eigenen Worten: Ein Thread mit „Herren aus Amerika und Israel”, „Nestbeschmutzer”, „landesfeindlich” und „Polizisten-Hassern”
— Fabian Schmid (@fabian_schmid) December 5, 2021
Update 7.4.24: Die Gemeinde Pettnau hat uns folgende Mitteilung geschickt: „lt. Beschluss des Gemeinderates Pettnau vom 29.01.2024 wurde die damals genannte „Dollfuß-Kapelle“ auf Marienkapelle umbenannt.”
➡️ Rücktrittsaufforderung an Innenminister Karner wegen antisemitischer Rhetorik
➡️ Antisemitismusvorwürfe: Innenminister Karner bittet für Aussagen um Entschuldigung