Die Antifa-Bücherliste (Teil 2)

Lesezeit: 7 Minuten

Wir haben es gera­de noch geschafft, mit dem Lesen so zeit­ge­recht fer­tig zu wer­den, dass Ihr Euch oder ande­re noch für die Fei­er­ta­ge (oder für die Omi­kron-Zeit danach) damit ver­sor­gen könnt. Bleibt gesund und sta­bil und habt ein paar fei­ne Tage!

Rat­ten­nest

Der größ­te Nach­teil des Buches ist auch sein Vor­teil: Es ver­fügt über kein Schlag­wort- und Per­so­nen­re­gis­ter, ist frei von Fuß­no­ten, liest sich dafür wie ein Kri­mi. Ist auch einer. Was Han­nes Bahr­mann da auf rund 270 Sei­ten schil­dert, ist ein kur­zer Abriss der stark von Ras­sis­mus gepräg­ten Geschich­te Argen­ti­ni­ens, das ein­mal eines der wohl­ha­bends­ten Län­der der Welt war, von sei­nen pero­nis­ti­schen Macht­ha­bern und ihren jewei­li­gen (neo­li­be­ra­len) Kon­tra­hen­ten aber her­un­ter­ge­wirt­schaf­tet wurde.

Dass die Ver­bin­dung Argen­ti­ni­ens mit Deutsch­land und den Nazis nicht erst über die „Rat­ten­li­nie“ her­ge­stellt, son­dern schon viel frü­her und von Sei­ten der Nazis, aber auch der Wehr­macht sys­te­ma­tisch betrie­ben wur­de, das so span­nend und kennt­nis­reich dar­zu­stel­len, ist ein Ver­dienst die­ses Buches.

Als „Rat­ten­li­ni­en“ wur­den die Flucht­rou­ten von pro­mi­nen­ten Nazi-Ver­bre­chern nach Süd­ame­ri­ka bezeich­net, wäh­rend der Ter­mi­nus „Rat­ten­nest“ wohl dar­auf hin­wei­sen soll, dass Argen­ti­ni­en dabei die wich­tigs­te Anlauf­adres­se war. Deut­sche waren schon im 19. Jahr­hun­dert an der Land­nah­me, Ver­trei­bung und Ver­nich­tung der indi­ge­nen Bevöl­ke­rung betei­ligt, wur­den Teil der argen­ti­ni­schen Eli­te. Bahr­mann zeich­net das immer dich­ter wer­den­de Netz von Bezie­hun­gen, das von der deut­schen Ein­wan­de­rung nach dem Ers­ten Welt­krieg über ger­ma­no­phi­le Mili­tärs und Poli­ti­ker bis hin zur geziel­ten Ein­fluss­nah­me der Nazis auf die argen­ti­ni­sche Poli­tik reichte.

Da kommt dann auch Juan Perón ins Spiel, der schil­lern­de Dik­ta­tor, der auch nach sei­nem (und Evi­tas Tod) mit sei­ner pero­nis­ti­schen (Nachfolge-)Bewegung und Ideo­lo­gie noch immer die argen­ti­ni­sche Poli­tik prägt. Perón, der Freund der Nazis, ein Nach­ah­mer Mus­so­li­nis und des ita­lie­ni­schen Faschis­mus, Perón, der auf die Kern­fu­si­ons­plä­ne eines deut­schen Wis­sen­schaf­ters hereinfällt.

Ein Öster­rei­cher erhält sogar ein eige­nes Kapi­tel: der „Patro­nen­kö­nig“ Fritz Man­dl, der in Öster­reich weit­ge­hend ver­ges­se­ne Besit­zer der Hir­ten­ber­ger Waf­fen- und Muni­ti­ons­fa­brik, der schon lan­ge bevor er wegen sei­ner jüdi­schen Her­kunft flüch­ten muss­te, Län­de­rei­en und Fabri­ken in Argen­ti­ni­en auf­ge­kauft hat­te. Eine kri­ti­sche Bio­gra­phie über Man­dl, der den Ver­ant­wort­li­chen für die Mor­de an Rosa Luxem­burg und Karl Lieb­knecht, Wal­de­mar Pabst, als Bera­ter, Treu­hän­der und Freund hat­te, steht übri­gens noch aus.

Bahr­manns Buch über das „Rat­ten­nest“ Argen­ti­ni­en glänzt mit sol­chen Epi­so­den, die zu wei­te­rer Lek­tü­re anregen.

Han­nes Bahr­mann, Rat­ten­nest. Argen­ti­ni­en und die Nazis. Ch. Links Ver­lag 2021

Cover Bahrmann Rattennest

Cover Bahr­mann Rattennest

 

Die Rat­ten­li­nie

Vie­le der pro­mi­nen­ten Nazi- und Usta­scha-Ver­bre­cher, die nach der Nie­der­la­ge des Nazi-Regimes über die von Kir­chen­män­nern wie dem öster­rei­chi­schen Bischof und begeis­ter­ten Nazi Alo­is Hudal orga­ni­sier­te „Rat­ten­li­nie“ nach Süd­ame­ri­ka geschleust wur­den, sind so bekannt wie berüch­tigt: Eich­mann, Men­ge­le, Rosch­mann, Stangl, Wag­ner, Prieb­ke oder der Usta­scha-Chef Ante Pave­lić. Vie­le unter ihnen Öster­rei­cher. Einer, der es nicht mehr nach Argen­ti­ni­en geschafft hat, war Otto Wäch­ter, SS-Grup­pen­füh­rer und Gou­ver­neur von Kra­kau, spä­ter Gali­zi­en. Wäch­ter war dort haupt­ver­ant­wort­lich für die Errich­tung des Kra­kau­er Ghet­tos und eine hal­be Mil­li­on Holo­caust-Opfer in sei­nem Ver­wal­tungs­be­reich. Der Ter­mi­nus „Rat­ten­li­nie“ für die Nazi-Flucht­rou­te lei­tet sich übri­gens nicht von der Gleich­set­zung der Nazi-Ver­bre­cher mit Rat­ten, son­dern aus der Matro­sen­spra­che ab, in der die „rat­li­ne“ eine letz­te Flucht­mög­lich­keit aus sin­ken­den Schif­fen bildete.

1949 stirbt der gesuch­te Mas­sen­mör­der Otto Wäch­ter in Rom, wo er sich beschützt von Bischof Hudal ver­steck­te, knapp bevor er sich nach Argen­ti­ni­en abset­zen kann. Vie­le Jah­re spä­ter trifft Phil­ip­pe Sands Otto Wäch­ters Sohn Horst, der – obwohl noch immer von der Schuld­lo­sig­keit sei­nes Vaters über­zeugt oder gera­de des­we­gen – ihm die pri­va­ten Tage­bü­cher und Brie­fe sei­nes Vaters über­ant­wor­tet. Dar­aus und aus den akri­bi­schen Recher­chen des Autors ist die­ses span­nen­de Buch ent­stan­den, das zwi­schen Bio­gra­phie, Fami­li­en­por­trät, Kri­mi und der Schil­de­rung der Begeg­nun­gen mit Sohn Horst pendelt.

Ver­hei­ra­tet war Otto Wäch­ter mit Char­lot­te Bleck­mann, die aus dem schwer deutsch­na­tio­na­len Bleck­mann-Clan stammt. Die elter­li­che Woh­nung, die dann zeit­wei­se von Char­lot­te und ihrem Otto bewohnt wur­de, befand sich in der Bel­ve­de­re­gas­se 10 im vier­ten Wie­ner Gemein­de­be­zirk. Ein Blick ins Impres­sum von „Stoppt die Rech­ten“ genügt: Das ist auch unse­re Büro­adres­se! Auf Sei­te 194 lässt Sands eine empör­te Char­lot­te schil­dern, wie die­se Woh­nung 1945 beschlag­nahmt und dem „KZ-Ver­band“ als Geschäfts­stel­le über­ge­ben wur­de, wor­auf sie dort auf­kreuz­te und frag­te „wie­so der KZ Ver­band dazu käme, sich ein­fach in eine frem­de Woh­nung zu set­zen & alles ohne Nach­fra­ge zu benüt­zen“. Als Drauf­ga­be kam dann noch von ihr, das sei „ärger als bei Hit­ler“.

Da haben wir ein beson­ders dreis­tes Bei­spiel von Opfer-Täter-Umkehr: Die über­zeug­te Natio­nal­so­zia­lis­tin Char­lot­te, die über ihren SS-Gat­ten ab Herbst 1938 die ari­sier­te Vil­la Mendl bewohn­te und spä­ter dann in Thu­mers­bach auch noch ein Bau­ern­haus, das dem ehe­ma­li­gen Lan­des­haupt­mann von Salz­burg, Franz Rehrl, abge­presst wur­de, „der das Bau­ern­haus am See gegen eine Holz­prit­sche im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ravens­brück ein­tau­schen muss­te“ (116), spielt sich gegen­über einem Ver­tre­ter des KZ-Ver­bands als Opfer und Hit­ler-Kri­ti­ke­rin auf.

1938 war Otto Wäch­ter qua­si Staats­se­kre­tär in der Regie­rung Seyß-Inquart und dann beim Reichs­kom­mis­sar Bürckel und in die­ser Funk­ti­on auch für die Ent­las­sung aller Juden und „Halb­ju­den“ aus dem Beam­ten­ap­pa­rat zustän­dig. Die­se „Säu­be­rungs­ak­tio­nen“, die für man­che auch töd­li­che Fol­gen hat­ten, führ­te er gna­den­los durch: „Min­des­tens 16.237 Beam­te“ wur­den von Wäch­ter gemaß­re­gelt oder ent­las­sen. In der Bel­ve­de­re­gas­se 10, die Wäch­ter mit sei­ner Frau Char­lot­te zumin­dest bis zum Herbst 1938 noch bewohnt hat­te, gab es auch eini­ge jüdi­sche Mieter*innen, die von den Nazis ver­trie­ben wur­den. Waren Otto Wäch­ter oder sei­ne schwer anti­se­mi­ti­sche Char­lot­te auch dar­an beteiligt?

Phil­ip­pe Sands, Die Rat­ten­li­nie. Ein Nazi auf der Flucht. Lügen, Lie­be und die Suche nach der Wahr­heit. S. Fischer 2020

Cover Sands Die Rattenlinie

Cover Sands Die Rattenlinie

Das Drit­te Reich und sei­ne Verschwörungstheorien

Dem Buch kann man höchs­tens vor­wer­fen, dass es erst 2020 erschie­nen ist – mit­ten in einer Pan­de­mie, in der Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen einen Boos­ter der beson­de­ren Art erhal­ten haben. Der eng­li­sche Titel des Buches ist gera­de, weil der Begriff „Theo­rie“ für das Ver­schwö­rungs­ge­schwätz doch ziem­lich hoch­ge­grif­fen scheint, ein­deu­tig prä­zi­ser: „The Hit­ler Con­spi­ra­ci­es. The Third Reich and the Para­no­id Imagination“.

Fünf Fra­gen for­mu­liert der Autor und gibt dazu in fünf Kapi­teln die durch Fak­ten und Indi­zi­en unter­leg­ten Antworten:

  • Waren die „Pro­to­kol­le“ eine Voll­macht für Völkermord?
  • Erhielt das Deut­sche Heer 1918 einen „Dolch­stoß in den Rücken“?
  • Wer zün­de­te den Reichs­tag an?
  • War­um flog Heß nach England?
  • Ent­kam Hit­ler dem Bunker?

Mög­li­cher­wei­se hat man dazu schon von ande­ren dazu etwas gele­sen, etwa von Umber­to Eco in sei­nem Roman „Der Fried­hof in Prag“. Aber auch ein fak­ten­ba­sier­ter Roman kann nicht mit­hal­ten mit dem Hand­werks­zeug und der Auto­ri­tät eines erfah­re­nen His­to­ri­kers, der für einen (in der Kon­se­quenz eher hilf­lo­sen) Schlüs­sel­satz einen ande­ren His­to­ri­ker bemüht:

Man zögert, anzu­neh­men“, schreibt Gwy­er in der Schluss­be­trach­tung sei­nes Buchs, „dass die durch­schnitt­li­che Intel­li­genz der Men­schen wirk­lich so gering ist, dass sie nicht zwi­schen rei­ner Wahr­heit und phan­tas­ti­scher Lüge unter­schei­den kön­nen.“ Doch genau dies scheint bei den Anhän­gern der Pro­to­kol­le der Fall zu sein. (62)

Mit den „Pro­to­kol­len“ sind natür­lich die „Pro­to­kol­le der Wei­sen von Zion“ gemeint, die nun schon seit weit über 100 Jah­re in der Welt und zuletzt in jeder erdenk­li­chen Ver­si­on auf Tele­gram her­um­geis­tern. Nein, es ist nicht bloß eine Intel­li­genz­fra­ge, ob man den Schwach­sinn der „Pro­to­kol­le“ glaubt oder nicht. Man­che der Erfin­der und Leser der „Pro­to­kol­le“ waren intel­li­gent genug, um nicht dar­an zu glau­ben, aber trotz­dem auf ihre Wir­kung zu set­zen – Goeb­bels etwa. Evans zitiert ihn dazu aus sei­nem Tage­buch: „Ich glau­be, dass die Pro­to­kol­le der Wei­sen von Zion eine Fäl­schung sind……Also, ich glau­be an die inne­re, aber nicht an die fak­ti­sche Wahr­heit der Pro­to­kol­le.“ (51)

Die Ent­blät­te­rung die­ses anti­se­mi­ti­schen Phan­ta­sie­pro­dukts ist sicher das aktu­ell wich­tigs­te Kapi­tel, weil die „Pro­to­kol­le“ in abge­wan­del­ter Form in den Coro­na-Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen mit den Vari­an­ten Ver­gif­tung bzw. Dezi­mie­rung der Mensch­heit („Ver­brei­tung von Seu­chen und sons­ti­gen Rän­ken der Logen“) gera­de wäh­rend der Pan­de­mie neu­er­lich auftauchen.

Richard J. Evans ist ein renom­mier­ter bri­ti­scher His­to­ri­ker, der viel zu deut­scher Geschich­te und spe­zi­ell zur NS-Ära geforscht hat.

Richard J. Evans, Das Drit­te Reich und sei­ne Ver­schwö­rungs­theo­rien. Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nut­zen – Von den „Pro­to­kol­len der Wei­sen von Zion“ bis zu Hit­lers Flucht aus dem Bun­ker. DVA 2020

Cover Evans Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien

Cover Evans Das Drit­te Reich und sei­ne Verschwörungstheorien