Rattennest
Der größte Nachteil des Buches ist auch sein Vorteil: Es verfügt über kein Schlagwort- und Personenregister, ist frei von Fußnoten, liest sich dafür wie ein Krimi. Ist auch einer. Was Hannes Bahrmann da auf rund 270 Seiten schildert, ist ein kurzer Abriss der stark von Rassismus geprägten Geschichte Argentiniens, das einmal eines der wohlhabendsten Länder der Welt war, von seinen peronistischen Machthabern und ihren jeweiligen (neoliberalen) Kontrahenten aber heruntergewirtschaftet wurde.
Dass die Verbindung Argentiniens mit Deutschland und den Nazis nicht erst über die „Rattenlinie“ hergestellt, sondern schon viel früher und von Seiten der Nazis, aber auch der Wehrmacht systematisch betrieben wurde, das so spannend und kenntnisreich darzustellen, ist ein Verdienst dieses Buches.
Als „Rattenlinien“ wurden die Fluchtrouten von prominenten Nazi-Verbrechern nach Südamerika bezeichnet, während der Terminus „Rattennest“ wohl darauf hinweisen soll, dass Argentinien dabei die wichtigste Anlaufadresse war. Deutsche waren schon im 19. Jahrhundert an der Landnahme, Vertreibung und Vernichtung der indigenen Bevölkerung beteiligt, wurden Teil der argentinischen Elite. Bahrmann zeichnet das immer dichter werdende Netz von Beziehungen, das von der deutschen Einwanderung nach dem Ersten Weltkrieg über germanophile Militärs und Politiker bis hin zur gezielten Einflussnahme der Nazis auf die argentinische Politik reichte.
Da kommt dann auch Juan Perón ins Spiel, der schillernde Diktator, der auch nach seinem (und Evitas Tod) mit seiner peronistischen (Nachfolge-)Bewegung und Ideologie noch immer die argentinische Politik prägt. Perón, der Freund der Nazis, ein Nachahmer Mussolinis und des italienischen Faschismus, Perón, der auf die Kernfusionspläne eines deutschen Wissenschafters hereinfällt.
Ein Österreicher erhält sogar ein eigenes Kapitel: der „Patronenkönig“ Fritz Mandl, der in Österreich weitgehend vergessene Besitzer der Hirtenberger Waffen- und Munitionsfabrik, der schon lange bevor er wegen seiner jüdischen Herkunft flüchten musste, Ländereien und Fabriken in Argentinien aufgekauft hatte. Eine kritische Biographie über Mandl, der den Verantwortlichen für die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Waldemar Pabst, als Berater, Treuhänder und Freund hatte, steht übrigens noch aus.
Bahrmanns Buch über das „Rattennest“ Argentinien glänzt mit solchen Episoden, die zu weiterer Lektüre anregen.
Hannes Bahrmann, Rattennest. Argentinien und die Nazis. Ch. Links Verlag 2021
Die Rattenlinie
Viele der prominenten Nazi- und Ustascha-Verbrecher, die nach der Niederlage des Nazi-Regimes über die von Kirchenmännern wie dem österreichischen Bischof und begeisterten Nazi Alois Hudal organisierte „Rattenlinie“ nach Südamerika geschleust wurden, sind so bekannt wie berüchtigt: Eichmann, Mengele, Roschmann, Stangl, Wagner, Priebke oder der Ustascha-Chef Ante Pavelić. Viele unter ihnen Österreicher. Einer, der es nicht mehr nach Argentinien geschafft hat, war Otto Wächter, SS-Gruppenführer und Gouverneur von Krakau, später Galizien. Wächter war dort hauptverantwortlich für die Errichtung des Krakauer Ghettos und eine halbe Million Holocaust-Opfer in seinem Verwaltungsbereich. Der Terminus „Rattenlinie“ für die Nazi-Fluchtroute leitet sich übrigens nicht von der Gleichsetzung der Nazi-Verbrecher mit Ratten, sondern aus der Matrosensprache ab, in der die „ratline“ eine letzte Fluchtmöglichkeit aus sinkenden Schiffen bildete.
1949 stirbt der gesuchte Massenmörder Otto Wächter in Rom, wo er sich beschützt von Bischof Hudal versteckte, knapp bevor er sich nach Argentinien absetzen kann. Viele Jahre später trifft Philippe Sands Otto Wächters Sohn Horst, der – obwohl noch immer von der Schuldlosigkeit seines Vaters überzeugt oder gerade deswegen – ihm die privaten Tagebücher und Briefe seines Vaters überantwortet. Daraus und aus den akribischen Recherchen des Autors ist dieses spannende Buch entstanden, das zwischen Biographie, Familienporträt, Krimi und der Schilderung der Begegnungen mit Sohn Horst pendelt.
Verheiratet war Otto Wächter mit Charlotte Bleckmann, die aus dem schwer deutschnationalen Bleckmann-Clan stammt. Die elterliche Wohnung, die dann zeitweise von Charlotte und ihrem Otto bewohnt wurde, befand sich in der Belvederegasse 10 im vierten Wiener Gemeindebezirk. Ein Blick ins Impressum von „Stoppt die Rechten“ genügt: Das ist auch unsere Büroadresse! Auf Seite 194 lässt Sands eine empörte Charlotte schildern, wie diese Wohnung 1945 beschlagnahmt und dem „KZ-Verband“ als Geschäftsstelle übergeben wurde, worauf sie dort aufkreuzte und fragte „wieso der KZ Verband dazu käme, sich einfach in eine fremde Wohnung zu setzen & alles ohne Nachfrage zu benützen“. Als Draufgabe kam dann noch von ihr, das sei „ärger als bei Hitler“.
Da haben wir ein besonders dreistes Beispiel von Opfer-Täter-Umkehr: Die überzeugte Nationalsozialistin Charlotte, die über ihren SS-Gatten ab Herbst 1938 die arisierte Villa Mendl bewohnte und später dann in Thumersbach auch noch ein Bauernhaus, das dem ehemaligen Landeshauptmann von Salzburg, Franz Rehrl, abgepresst wurde, „der das Bauernhaus am See gegen eine Holzpritsche im Konzentrationslager Ravensbrück eintauschen musste“ (116), spielt sich gegenüber einem Vertreter des KZ-Verbands als Opfer und Hitler-Kritikerin auf.
1938 war Otto Wächter quasi Staatssekretär in der Regierung Seyß-Inquart und dann beim Reichskommissar Bürckel und in dieser Funktion auch für die Entlassung aller Juden und „Halbjuden“ aus dem Beamtenapparat zuständig. Diese „Säuberungsaktionen“, die für manche auch tödliche Folgen hatten, führte er gnadenlos durch: „Mindestens 16.237 Beamte“ wurden von Wächter gemaßregelt oder entlassen. In der Belvederegasse 10, die Wächter mit seiner Frau Charlotte zumindest bis zum Herbst 1938 noch bewohnt hatte, gab es auch einige jüdische Mieter*innen, die von den Nazis vertrieben wurden. Waren Otto Wächter oder seine schwer antisemitische Charlotte auch daran beteiligt?
Philippe Sands, Die Rattenlinie. Ein Nazi auf der Flucht. Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit. S. Fischer 2020
Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien
Dem Buch kann man höchstens vorwerfen, dass es erst 2020 erschienen ist – mitten in einer Pandemie, in der Verschwörungserzählungen einen Booster der besonderen Art erhalten haben. Der englische Titel des Buches ist gerade, weil der Begriff „Theorie“ für das Verschwörungsgeschwätz doch ziemlich hochgegriffen scheint, eindeutig präziser: „The Hitler Conspiracies. The Third Reich and the Paranoid Imagination“.
Fünf Fragen formuliert der Autor und gibt dazu in fünf Kapiteln die durch Fakten und Indizien unterlegten Antworten:
- Waren die „Protokolle“ eine Vollmacht für Völkermord?
- Erhielt das Deutsche Heer 1918 einen „Dolchstoß in den Rücken“?
- Wer zündete den Reichstag an?
- Warum flog Heß nach England?
- Entkam Hitler dem Bunker?
Möglicherweise hat man dazu schon von anderen dazu etwas gelesen, etwa von Umberto Eco in seinem Roman „Der Friedhof in Prag“. Aber auch ein faktenbasierter Roman kann nicht mithalten mit dem Handwerkszeug und der Autorität eines erfahrenen Historikers, der für einen (in der Konsequenz eher hilflosen) Schlüsselsatz einen anderen Historiker bemüht:
„Man zögert, anzunehmen“, schreibt Gwyer in der Schlussbetrachtung seines Buchs, „dass die durchschnittliche Intelligenz der Menschen wirklich so gering ist, dass sie nicht zwischen reiner Wahrheit und phantastischer Lüge unterscheiden können.“ Doch genau dies scheint bei den Anhängern der Protokolle der Fall zu sein. (62)
Mit den „Protokollen“ sind natürlich die „Protokolle der Weisen von Zion“ gemeint, die nun schon seit weit über 100 Jahre in der Welt und zuletzt in jeder erdenklichen Version auf Telegram herumgeistern. Nein, es ist nicht bloß eine Intelligenzfrage, ob man den Schwachsinn der „Protokolle“ glaubt oder nicht. Manche der Erfinder und Leser der „Protokolle“ waren intelligent genug, um nicht daran zu glauben, aber trotzdem auf ihre Wirkung zu setzen – Goebbels etwa. Evans zitiert ihn dazu aus seinem Tagebuch: „Ich glaube, dass die Protokolle der Weisen von Zion eine Fälschung sind……Also, ich glaube an die innere, aber nicht an die faktische Wahrheit der Protokolle.“ (51)
Die Entblätterung dieses antisemitischen Phantasieprodukts ist sicher das aktuell wichtigste Kapitel, weil die „Protokolle“ in abgewandelter Form in den Corona-Verschwörungserzählungen mit den Varianten Vergiftung bzw. Dezimierung der Menschheit („Verbreitung von Seuchen und sonstigen Ränken der Logen“) gerade während der Pandemie neuerlich auftauchen.
Richard J. Evans ist ein renommierter britischer Historiker, der viel zu deutscher Geschichte und speziell zur NS-Ära geforscht hat.
Richard J. Evans, Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien. Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nutzen – Von den „Protokollen der Weisen von Zion“ bis zu Hitlers Flucht aus dem Bunker. DVA 2020