Gegen die „heutige, amtliche Geschichtsschreibung“
Im Herbst 2019 erschien ein Artikel des NS-Revisionisten Gerd Schultze-Rhonhof in den „Genius-Briefen“. Unter dem Titel „Was vor und beim deutschen Angriff auf Polen vor 80 Jahren tatsächlich geschah“ (1) bestreitet der Autor ausführlich die Alleinschuld von Nazi-Deutschland am Kriegsausbruch.
Der Autor ärgert sich über die Reden von Bundespräsident Steinmeier und Kanzlerin Merkel in Polen anlässlich des Gedenkens zum 80. Jahrestag des Kriegsbeginns: Er spricht von einem „würdelose[n] Bild von schlecht informierten Bußgängern im Namen des deutschen Volkes“. Er zeiht die PolitikerInnen einer „offensichtlich völlige[n] Unkenntnis (…) von der Mitverantwortung Polens am Kriegsausbruch.“ Und er meint etwa auch, „die Polen sollten aufhören, Deutschland mit seinem Teil der Kriegsschuld zu erpressen“.
Den Nazis kommt also ein „Teil der Kriegsschuld“ zu, immerhin. Denn im weiteren Verlauf des Textes, klingt es so, als wären die Nazis eher Opfer gewesen: „Ich glaube, mit dem Dauerstreit um Danzig, mit den nicht enden wollenden Versuchen, Danzig dem polnischen Staate einzuverleiben und den Drohungen, die Energieversorgung Ostpreußens abzuschneiden, hat Polen seinen großen Anteil an der Verantwortung für den Kriegsausbruch zu tragen.“
Nazi-Deutschland als Mobbing-Opfer quasi. Es ist typisch für NS-Revisionisten, die Querelen um Danzig gegen die unbestreitbare kriegstreibende und kriegsausbrechende Politik der Nazis aufzuwiegen. Von Letzterer verliert der Autor natürlich kein Wort. Vielmehr stellt er klar, dass der Staat Polen „der damalige Brandstifter der Region“ gewesen sei. „Die Polen“ seien keine „Opfer dieser Zeit“ gewesen, sondern „Haie im Haifischbecken, die zum Schluss selbst gefressen wurden“, raunt der Nazi-Versteher schadenfroh.
Er versteigt sich sogar dazu, bei seiner Aufzählung von Kriegsgründen – die allesamt Polen schlecht dastehen lassen – darauf hinzuweisen, wie es in Polen um Minderheitenrechte bestellt war: „Es ist bekannt, wie Polen mit seinen (…) Minderheiten an Weißrussen, Ukrainern, Juden und Deutschen umgegangen ist.“ Und dann: „Hitler verlangte von Polen die Einhaltung der in Versailles verbrieften Minderheitenrechte für die deutsche Minderheit in Polen.“
Was soll man zu einem Autor sagen, der auf der Seite der Nazis für Minderheitenrechte argumentiert? Besonders perfide ist, dass er gleich mehrfach auf die Verfolgung von Juden in Polen zu sprechen kommt – was ja, selbst wenn man seiner Umdeutung folgt, mit dem Kriegsausbruch nichts zu tun haben kann –, vom antisemitischen Terror der Nazis hingegen schweigt.
Folgerichtig wettert der Autor gegen die „heutige amtliche deutsche Geschichtsschreibung“, die durch die „Rechtssprechung des Nürnberger Tribunals begründet“ worden sei. Diese Rechtssprechung nennt er „Siegergeschichtsschreibung“.
Zum Schluss geht es dann wieder um Steinmeiers Rede (die ihn offensichtlich wirklich sehr ärgert). Der NS-Revisionist erklärt etwa, Steinmeier sei nicht befugt gewesen „dem deutschen Volk das Kainsmal einer bleibenden Kollektivschuld auf die Stirn zu malen“; er beklagt den „Identitätsknick bei deutschen Schülern, den sie durch ständige Wiederholung deutscher Schuld ab dem 9. Schuljahr verpasst“ bekämen; er redet von „Steinmeiers-Schuld-Exhibitionismus“ und hält zuletzt fest, dass „der deutsche Staatsmythos von der Alleinschuld Deutschlands ein Aberglaube“ sei.
„Zersetzung der Familie“ – Antifeminismus und Antisemitismus Hand in Hand
In einem Artikel vom Jänner 2020 (2) führt Wolfgang Caspart eindrucksvoll vor Augen, wie verzahnt das völkische Idol der heilen Familie mit Antifeminismus, Antisemitismus und Verschwörungsglaube ist. Sein Text trägt den Titel „Ahnenverehrung“ und Caspart fantasiert darin von einer „Zerstörung der Familien“ und einer „Auflösung der familiären Bindungen“, welche „das natürliche Band der Zusammengehörigkeit [zersetzen würde]“.
Der Antifeminismus hat für die extreme Rechte gegenwärtig eine besondere Bedeutung, weil er sich zur Mobilisierung tief in konservative Milieus hinein eignet. Als Hauptfeind wird oftmals das sogenannte Gender Mainstreaming markiert. Der strategische Ansatz zur Förderung für Gleichstellung wird umgedeutet in die gezielte Zerstörung der Kleinfamilie. Caspart schreibt:
Gespeist durch die neurotische Ablehnung der eigenen Erzeuger und Kulturtradition erfährt die ”moderne” Familienfeindlichkeit ihren Höhepunkt in der Absolutsetzung der Milieutheorie, aktuell in der ”Gender Mainstreaming” genannten Perversion der sozialen Geschlechterwahl, des beliebigen Rollentausches und ‑wechsels und des frühzeitigen Abschiebens der Kinder (sofern noch vorhanden) in Betreuungsstätten, um von klein auf eine wurzellose Beliebigkeit zu erlernen (Rosenkranz 2008). Eine künstliche Frühsexualisierung samt Onanieranleitung und oberflächliche Pornographieverblödung soll jedes tiefere Gefühl und alle echte Sensibilität destruieren.
Neben dem aggressiven Antifeminismus und dem Ressentiment gegen sexuelle Aufklärung, bedient Caspart die üblichen völkischen Topoi der „Zersetzung“ und der „Wurzellosigkeit“. Die Begleitmusik dazu bildet die verschwörungsphantastische Ahnung, dass diese Zersetzung geplant und gewollt wird.
Von wem? Caspart liefert eine historische Aufzählung von Familien-Zerstörern bis zur 4. UN-Frauenkonferenz 1995, wo der Begriff Gender-Mainstreaming entwickelt wurde. Er bezieht sich zuerst auf Nahum Goldmann – den langjährigen Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses (WJC) – dem er einen allumfassenden Vernichtungswunsch unterstellt: „Um endlich eine bessere und glücklichere Welt zu errichten, ließ er schon 1915 für die Vernichtung plädieren“.
Als weitere Beispiele folgen auf dem Fuß die Philosophen und Wissenschaftler der Frankfurter Schule, deren kritische Forschung und Theoriebildung nicht nur Meilensteine der Soziologie und Philosophie waren, sondern die mit ihrer Studie zum „autoritären Charakter“ auch das sozial-psychologische Substrat des Faschismus nachgewiesen haben.
Caspart nennt sie beim Namen: Schon kurz nach Goldmann, hätten „Weil, Horkheimer, Reich, Adorno und Marcuse“ in „das selbe Horn“ gestoßen. Die aufgezählten Personen verbindet eines: Es handelt sich bei allen um jüdische Intellektuelle, die noch dazu allesamt vor den Nazis fliehen mussten. Zuletzt bezieht sich Caspart noch auf den marxistischen Intellektuellen Antonio Gramsci. Abgesehen von Letzterem benennt er also ausschließlich jüdische Intellektuelle als Vordenker der „Zerstörung der Familie“. Natürlich spricht er diese Tatsache nicht aus, sondern bleibt bei seinem Name-dropping und verbindet dies mit dem rechtsextremen Code vom „Kulturbolschewismus“:
Der Kulturbolschewismus wurde zum Ersatz für die verloren gegangene Kompetenz in der politischen Ökonomie. Das richtige kulturbolschewistische Bewusstsein gilt es seitdem auszubreiten, worin sich Frankfurter völlig mit dem Gramscisten treffen […]. Am besten merzt man die „bürgerliche“ Gesellschaft in ihren familiären Wurzeln aus. Pietät spielt bei den neuen Barbaren keine Rolle mehr.
Die benannten jüdischen Intellektuellen waren also kulturbolschewistische Barbaren, mit dem Ziel die bürgerliche Gesellschaft auszumerzen. Der Hass gegen Linke und kritische Intellektuelle unter dem Dach einer antisemitischen Verschwörungserzählung war bekanntlich schon ein Dauerbrenner der Nazis-Propaganda. Ganz zu schweigen von der zugrunde liegenden völkischen Zersetzungsphantasie.
In einem früheren Text, der 2018 bei „Genius“ erschienen ist (3), buchstabiert Caspart offen aus, was er meint, wenn er gegen die „Zersetzung“ wettert: „Alles, was europäische Kultur zerstört und krank gemacht hat, muss selbst vernichtet werden. Die Strategie der revolutionären Zersetzung erzwingt jetzt ihren umgekehrten Einsatz gegen die Zersetzer selbst.“
In demselben Text plädiert er erhellend offen dafür, die Demokratie konterrevolutionär zu beseitigen. Wir haben an anderer Stelle bereits ausführlich über den Artikel berichtet, weil er auch in Mölzers „Zur Zeit“ erschienen ist (siehe auch unser aktuelles Dossier „Zur Zeit“)
Naheliegend, dass zu Casparts Hass auf kritische Intellektuelle auch ein gutes Stück Projektion hinzukommt. Immerhin weisen seine Texte stets lange Literaturlisten auf (immer verweist er darin auch auf seine eigenen Erzeugnisse). Zudem mimt der völkische Antidemokrat den Ton wissenschaftlicher Seriosität. Apropos Zitate: Caspart verweist gleich in zwei Artikeln bei „Genius“ (4) auf ein Buch von Walter Marinovic, einem Kaliber des österreichischen Rechtsextremismus an der Schwelle zum Neonazismus. Marinovic trat bei Neonazi-Veranstaltungen als Gastredner auf und schrieb für die NPD-Zeitschrift „Deutsche Stimme“.
Roosevelt als der „weltgrößte Lügner, Heuchler und Kriegsverbrecher“
Im Sommer 2017 erscheint eine Rezension der letzten Publikation von Richard Melisch in den „Genius-Briefen“ (5). Der inzwischen verstorbene Melisch hat sich im Nahbereich des Neonazismus bewegt; er trat jahrelang bei Neonazi-Veranstaltungen in Österreich und Deutschland auf (siehe Lasek 2015, DÖW).
Sein letztes Buch trägt den Titel „Das perfide Albion und seine amerikanischen Erben“. Es handelt sich dabei um eine beinahe 500-seitige Hetzschrift gegen England und die USA, eingebettet in eine antisemitische Verschwörungserzählung. Erschienen ist das Machwerk im antisemitischen und revisionistischen Verlag „Hohe Warte“, der dem braun-esoterischen „Bund für Deutsche Gotterkenntnis“ gehört.
Bernd Stracke, „Genius“-Redaktionsleiter und regelmäßiger Schreiber, hat dazu eine euphorische Rezension geschrieben: „Richard Melisch weist in seinem letzten Werk einen tausendjährigen ‚roten Faden von Niedertracht und Heuchelei‘ […] des ‚perfiden Albion‘ nach.“
Wobei mögliche Missverständnisse schnell von Stracke ausgeräumt werden: „Natürlich beschuldigt der Autor keineswegs ‚die‘ Engländer und ‚die‘ Nordamerikaner als Völker in ihrer Gesamtheit der Perfidie, sondern nur jeweils die – allerdings höchst effizient – im Verborgenen wirkenden kleinen Minderheiten von Verbrechern.“
Nein, der völkische Antisemit beschuldigt natürlich keine Völker, sondern strippen-ziehende Eliten, die im Verborgenen handeln. Stracke formuliert es trotz seiner Faszination nicht ganz so vulgär, wie es Melisch in seinem Buch zweifelsfrei tut. (6)
Besonders entlarvend: Roosevelt war laut „Melischs (aus seinen umgangreichen [sic] historischen Studien gezogener) Konklusion (…) der weltgrößte Lügner, Heuchler und Kriegsverbrecher“. Und Churchill der zweitgrößte. Es ist natürlich schon mehr als NS-relativierend, ausgerechnet die beiden Anführer der westlichen Alliierten, die die mordende deutsch-österreichische Volksgemeinschaft militärisch aufhalten mussten, als die weltgrößten Verbrecher zu bezeichnen.
Fazit
Die „Genius“-Gesellschaft verbreitet – intellektuell verbrämt – rechtes bis rechtsextremes Gedankengut. Das Personal ist einschlägig bekannt, es stammt aus dem FPÖ-nahen und burschenschaftlichen Milieu. Es überrascht eingedenk der rechten inhaltlichen Kohärenz die „Genius“ aufweist nur wenig, dass auch vor offenem Geschichtsrevisionismus nicht halt gemacht wird. Noch unerträglicher wird das durch die Tatsache, dass der Vorsitzende dieses Vereins ein außerordentlicher Professor für Geschichte an Uni Wien ist.
➡️ Teil 1: Rassismus mit Augenzwinkern. Ein Close-Reading
Fußnoten
1 „Was vor und beim deutschen Angriff auf Polen vor 80 Jahren tatsächlich geschah“, Genius-Brief Sept.-Okt. 2019 / Lesestück Nr. 07, erschienen auf der Website der „Genius-Gesellschaft“, zuletzt eingesehen 10.09.2020
2 „Ahnenverehrung“, Genius-Brief Jänner-Februar 2020/Lesestück Nr. 05, erschienen auf der Website der „Genius-Gesellschaft“, zuletzt eingesehen 10.09.2020
3 „Europäische Konterrevolution, oder: Wie Europa noch zu retten ist“, Genius-Brief Nov. — Dez. 2019 / Lesestück Nr. 07, erschienen auf der Website der „Genius-Gesellschaft“, zuletzt eingesehen 11.09.2020
4 vgl. ebd. und: „Der Wahnsinn hat Methode“, Genius-Brief Sept.-Okt. 2018/Lesestück Nr. 07, erschienen auf der Website der „Genius-Gesellschaft“, zuletzt eingesehen 11.09.2020
5 „Schadenfreude ist nicht angebracht“, Genius-Brief Juli-Aug. 2017/Lesestück Nr. 06, erschienen auf der Website der „Genius-Gesellschaft“, zuletzt eingesehen: 11.09.2020
6 Ein Video von Melischs Vorstellung seines eigenen Buches findet man übrigens in dem neonazistischen YouTube-Kanal „NordlandTV“. Dort gibt es auch einen langen Vortrag von ihm, den er 2017 vor entsprechendem Publikum zum Thema „Die europäischen Kulturvölker schaffen sich ab“.