Kickl und seine seltsamen rechtlichen Konstruktionen

Innen­min­is­ter Her­bert Kickl hat sich sehr weit nach vorne gewagt: Er hat, das sei fest­ge­hal­ten, die Europäis­che Men­schen­recht­skon­ven­tion nicht zum ersten Mal infrage gestellt. Nicht er und schon gar nicht seine Partei, die FPÖ. Aber er hat es zum ersten Mal als Mit­glied der Regierung so unverblümt gesagt und mit einem Sub­text verse­hen, der alle Alar­m­glock­en zum Schrillen brin­gen müsste. Die Reak­tio­nen und Einord­nun­gen waren zahlre­ich. Wir haben einige Ein­wände und Kri­tik, auch die juris­tis­che, zusammengefasst.

Kickls Aus­sagen sind kein Aus­rutsch­er, der zufäl­lig passiert ist. Die Hin­ter­fra­gung des rechtsstaatlichen Prinzips und der Men­schen­rechte ist wed­er sein­er Posi­tion als Innen­min­is­ter geschuldet, noch der aktuellen Diskus­sion um die Abschiebung von straf­fäl­lig gewor­de­nen Asyl­wer­bern anlässlich der Morde an Frauen. Die FPÖ betreibt das Ansin­nen seit Jahren. Das es de fac­to öffentlich kaum zur Ken­nt­nis genom­men wurde, liegt nicht daran, dass dies im Geheimen passiert wäre. Wer sich jemals dafür inter­essiert hat, kon­nte das sys­tem­a­tis­che Kratzen an Men­schen- und Grun­drecht­en nach­le­sen, etwa im Hand­buch frei­heitlich­er Poli­tik (4. Auflage) 2013, in dem es zur Gle­ich­be­hand­lungspoli­tik heißt: „Solche Ein­schränkun­gen der Pri­vatau­tonomie auf dem Altar eines welt­frem­den Gut­men­schen­tums lehnen wir ab.“ (S. 28) Bezüglich der Men­schen­recht­skon­ven­tion tritt man noch etwas zurück­hal­tend „für eine Aktu­al­isierung dieses seit den 1950er Jahren gel­tenden Ver­trages ein” (S. 27). Zu den Bürg­er­recht­en (wohlge­merkt den nationalen) beklagt die FPÖ, dass sie „aus­ge­höhlt” wür­den, „wobei dieser Vor­gang auch teil­weise sin­nverkehrt durch die Men­schen­recht­skon­ven­tion und die EU-Grun­drechtschar­ta ver­stärkt wird” (S. 83).

Handbuch freiheitlicher Politik EMRK (https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/www.fpoe.at/dokumente/2015/Handbuch_freiheitlicher_Politik_WEB.pdf)

Hand­buch frei­heitlich­er Poli­tik EMRK (https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/www.fpoe.at/dokumente/2015/Handbuch_freiheitlicher_Politik_WEB.pdf)

Handbuch freiheitlicher Politik EMRK/Grundrechte (https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/www.fpoe.at/dokumente/2015/Handbuch_freiheitlicher_Politik_WEB.pdf)

Hand­buch frei­heitlich­er Poli­tik EMRK/Grundrechte (https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/www.fpoe.at/dokumente/2015/Handbuch_freiheitlicher_Politik_WEB.pdf)

Im Pro­gramm zur Nation­al­ratswahl 2017 spricht man von ein­er „Evaluierung der Europäis­chen Men­schen­recht­skon­ven­tion und gegebe­nen­falls Ersatz durch eine ‚Öster­re­ichis­che Men­schen­recht­skon­ven­tion’, die auch das Heima­trecht der Öster­re­ich­er schützt“.

FPÖ-Wahlprogramm 2017 EMRK (https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/Wahlprogramm_8_9_low.pdf)

FPÖ-Wahl­pro­gramm 2017 EMRK (https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/Wahlprogramm_8_9_low.pdf)

Kickl for­muliert also etwas weniger galant die anlass­be­zo­gene Ausle­gung und Konkretisierung dessen, was die FPÖ seit Jahren zu ihrer pro­grammtis­chen Forderung erhoben hat. Wenn es dann darum geht, wer nun von den Bürg­er­recht­en prof­i­tieren soll und wer aus­geschieden wird, dann wird es allerd­ings bru­taler. Dazu weit­er unten.

Kickl im Wort­laut zum The­ma Rechtsstaat und Europäis­che Men­schen­recht­skon­ven­tion (Tran­skript, ORF Report 22.1.19):

Zunächst ein­mal eines zum The­ma ‚Rechtsstaatlichkeit’: Ja, selb­stver­ständlich ste­hen wir alle auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit. Das ist ja eine Selb­stver­ständlichkeit. Nur eines muss man auch ein­mal dazu sagen: Was ist denn die größte Gefahr für den Rechtsstaat? Die größte Gefahr für den Rechtsstaat ist, dass er miss­braucht wird und qua­si gegen sich selb­st zur Anwen­dung gebracht wird. Dass man qua­si über die eige­nen Geset­ze stolpert und hand­lung­sun­fähig ist. Und des ist die Sit­u­a­tion, vor der wir jet­zt ste­hen. Da bren­nt das Haus, dort liegt der Schlauch. Wir wis­sen genau, dass wir den Schlauch nehmen müssen, um das Feuer zu löschen, und dazwis­chen gibt’s irgendwelche selt­samen rechtlichen Kon­struk­tio­nen, teil­weise viele, viele Jahre alt, aus ganz anderen Sit­u­a­tio­nen her­aus ent­standen, und die hin­dern uns daran, das zu tun, was notwendig ist. Und deshalb möchte ich eine Debat­te darüber führen und mich auch anle­gen mit diesen Regelun­gen, das hin­ter­fra­gen. Denn ich glaube immer noch, dass der Grund­satz gilt, dass das Recht der Poli­tik zu fol­gen hat und net die Poli­tik dem Recht. Und das wird eine span­nende Auseinan­der­set­zung, weil ich näm­lich glaube, dass es nie­mand Vernün­fti­gen geben kann in diesem Land, der nicht dafür ist, dass wir bei Straf­fäl­li­gen, bei Straftätern, die Kör­per­ver­let­zun­gen bege­hen und andere Dinge – nicht einen Weg find­en soll­ten, dass wir denen dann auch einen Asyl­sta­tus aberken­nen und sie außer Lan­des brin­gen, oder bei den­jeni­gen, die sich über­haupt erst drum bewer­ben, dafür sor­gen, dass des neg­a­tiv ausgeht. (…)

bezügl. eventueller EU-Vertragsverletzungsverfahren:

Wir tun das ja auch bei Din­gen, wo’s ums Finanzielle geht. (…) Und dann, wenn’s Schwierigkeit­en gibt, wenn wir hier möglicher­weise an Gren­zen kom­men, dann will ich eine ehrliche Diskus­sion darüber haben. Son­st hört si ja die Poli­tik auf. Wir kön­nen do net nicht mit Din­gen aus den Fün­fziger-Jahren herum­tun, unter völ­lig anderen Voraus­set­zun­gen, da muss ma ja ein­mal weiterdenken.

Gesamtes Inter­view ist hier abruf­bar: https://www.profil.at/oesterreich/video-kickl-orf-report-10610601 (ab 3’42“)

Reak­tio­nen

Matthias Klatt (Univ-Prof für Recht­sphiloso­phie Uni­ver­sität Graz): Die For­mulierung, die der Innen­min­is­ter gewählt hat, die klingt ja ganz gewitzt. Aber sach­lich ist sie falsch. Recht und Poli­tik, das Ver­hält­nis ist sehr kom­plex und keine Ein­bahn­straße. Und diese Ein­bahn­straße stellt sich der Min­is­ter vor. Poli­tik schafft das Recht, fer­tig. So ist es nicht, son­dern das Recht zieht der Poli­tik auch Gren­zen. Und diesen zweit­en Teil, den unter­schlägt der Min­is­ter. (ZiB 2, 23.1.19)

Matthias Klatt (Screenshot ZiB 2, 23.1.19)

Matthias Klatt (Screen­shot ZiB 2, 23.1.19)

Bernd-Chris­t­ian Funk (Ver­fas­sungsjurist): Die Frage der Grun­drechte und der Europäis­chen Men­schen­recht­skon­ven­tion ist etwas, was nicht zur Dis­po­si­tion ste­ht. Es hieße, die Grund­la­gen des Rechtsstaates und damit auch der Demokratie infrage zu stellen, ja sog­ar zu gefährden. (ZiB 2, 23.1.19)

Funk (Screenshot ZiB 2, 23.1.19)

Funk (Screen­shot ZiB 2, 23.1.19)

Natascha Strobl (Poli­tik­wis­senschaf­terin, Recht­sex­trem­is­mu­s­ex­per­tin) via Twitter

Wenn ihr wis­sen wollt was Kickl da macht mit sein­er Ablehnung d Men­schen­rechte u d Forderung (Regierungs)Politik über rechtliche Grund­sätze zu stellen, dann müsst ihr Carl Schmitt lesen. Er hat das Pri­mat der Poli­tik vor dem Pri­mat des Rechts pos­tuliert, was wichtig für NS war.

Carl Schmitt war ein­er der führen­den Vertreter der (soge­nan­nten) Kon­ser­v­a­tiv­en Rev­o­lu­tion, einem losen Kreis aus anti­demokratis­chen, antikom­mu­nis­tis­chen, antilib­eralen Denkern (sic) in der Weimar­er Repub­lik, die Demokratie und Par­la­men­taris­mus intellek­tuell dele­git­imiert haben. (kommt uns bekan­nt vor, gell? — siehe Neue Rechte. Wen­ngle­ich die Kon­ser­v­a­tive Rev­o­lu­tion intellek­tuell deut­lich mehr Sub­stanz hat­te. Siehe Spen­gler, Jung, Jünger, Niekisch, van den Bruck; oder auch Inspi­ra­tio­nen wie Evola) Wie auch immer. Schmitt war Rechtswis­senschaftler und kein Unwichtiger noch dazu (alle Jus-Stud­is ler­nen ihn noch immer). Das war er auch schon vor dem NS und er hat eben auch davor eine klar autoritäre Ord­nung vertreten.

Den Kern sein­er poli­tis­chen The­o­rie kann man zusam­men­fassen mit „Der Sou­verän hat immer recht”. Der Sou­verän ist wer über Krieg u Frieden, über Nor­malzu­s­tand und Aus­nah­mezu­s­tand entschei­det. Dieses Recht obliegt d Sou­verän allein (und nicht etwa gesell. Diskurs; Gewaltenteilung)

Der Sou­verän ist direkt durch „das Volk” legit­imiert, aber nicht auf demokratis­che Art und Weise, son­dern per Akkla­ma­tion. Das heißt ein Wider­spruch muss offen und gegen die Masse indi­vidu­ell for­muliert wer­den. Alles Andere ist Zustimmung.

Dieser Sou­verän (oder Führer) hat immer recht. Was der Sou­verän entschei­det oder tut ist automa­tisch Recht. So hat Schmitt etwa (im Nach­hinein!) juris­tisch den Röhm-Putsch legit­imiert. Der Führer schafft Recht u führt es gle­ichzeit­ig aus. Ohne Kon­trol­linstanz. Das ist Faschismus.

Hier zur genaueren Analyse von Carl Schmitts Rezep­tion durch die FPÖ:
Demokratie durch „Auss­chei­dung des Het­ero­ge­nen“ – Zur frei­heitlichen Rezep­tion von Carl Schmitt (Teil 1)
Demokratie durch „Auss­chei­dung des Het­ero­ge­nen“ – Zur frei­heitlichen Rezep­tion von Carl Schmitt (Teil 2)

Kom­men­tar mein.klagenfurt.at

Das alles ist kein Spaß und es geht hier nicht um Parteipoli­tik. Hier geht es ans Eingemachte, um die Frage, ob wir unseren Rechtsstaat vertei­di­gen wollen oder ob wir vor denen, die ihn abschaf­fen möcht­en, die Waf­fen streck­en. Als die Nazis an die Macht kamen, war eine ihrer ersten Hand­lun­gen, den Rechtsstaat zu per­vertieren und durch einen Unrechtsstaat zu erset­zen, in dem eben nicht alle Bürg­er diesel­ben Rechte hat­ten. Ganze Bevölkerungs­grup­pen wur­den vom gle­ich­berechtigten Zugang zum Gesetz aus­geschlossen, was ihre Ermor­dung vor­bere­it­ete. Die Jus­tiz, so schrieben die Nazis 1935 in ihre „Änderung des Strafge­set­zbuch­es“, habe sich in Hinkun­ft nicht nur am Recht, son­dern vor allem am „gesun­den Volk­sempfind­en“ zu ori­en­tieren. Der schwammige Begriff vom „gesun­den Volk­sempfind­en“ sollte, wie mehrere Recht­shis­torik­er nach­wiesen, den Durch­griff der NSDAP auf die Jus­tiz sich­ern, denn als „gesun­des Volk­sempfind­en“ galt natür­lich nur, was mit der NS-Ide­olo­gie übere­in­stimmte. Übri­gens: Auch in kom­mu­nis­tis­chen Dik­taturen, ara­bis­chen Despo­tien und islamistis­chen Gottesstaat­en gibt es keinen Rechtsstaat.

Die Europäis­che Men­schen­recht­skon­ven­tion trat 1953 in Kraft und sollte ver­hin­dern, dass auf europäis­chem Boden jemals wieder Men­schen so entrechtet wür­den, wie es im Faschis­mus geschehen war. Die Men­schen­recht­skon­ven­tion garantiert unter anderem: Das Recht auf Leben, das Ver­bot der Folter, das Ver­bot von Sklaverei und Zwangsar­beit, Das Recht auf ein faires Ver­fahren, das Recht auf Frei­heit und Sicher­heit, das Recht auf freie Mei­n­ungsäußerung sowie Gedanken‑, Gewis­sens- und Reli­gions­frei­heit. Und jet­zt stellt sich die Frage, warum ein öster­re­ichis­ch­er Innen­min­is­ter diese Rechte schlecht find­et und wodurch er sie erset­zen möchte. (https://www.mein-klagenfurt.at/mein-klagenfurt/das-freie-wort/mit-herbert-kickl-in-den-unrechtsstaat/)

Andreas Koller (Jour­nal­ist, Salzburg­er Nachricht­en, 23.1.19): Innen­min­is­ter Kickl will nicht den Rechtsstaat abschaf­fen, zumin­d­est sagte er das Dien­stagabend im ORF-„Report“. „Ja selb­stver­ständlich ste­hen wir alle auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit“, ver­sicherte er gön­ner­haft, fügte aber hinzu: Größte Gefahr des Rechtsstaates sei, „dass er miss­braucht wird“ und „man qua­si über die eige­nen Geset­ze stolpert.“ Stimmt, Herr Kickl, der Rechtsstaat ist mitunter unbe­quem für die Regieren­den. Und die Geset­ze, über die die Regieren­den stolpern, sind mitunter lästig. Das ist ihre Auf­gabe. Sie dienen nicht der Bequem­lichkeit der Regierung, son­dern dem Schutz der Demokratie, also der Bürger.
Herr Kickl scheint das nicht so zu sehen, wie er auch vor weni­gen Tagen in den „Vorarl­berg­er Nachricht­en“ zu Pro­tokoll gab. Auf den Ein­wand des Inter­view­ers, dass die Men­schen­rechte „uni­versell“ und „für alle gle­ich“ seien, sagte er: „Ja, natür­lich. Aber man kann nicht von uns ver­lan­gen, dass man an diesem Kom­pendi­um an abstrak­ten Regeln nicht irgen­det­was ändern darf.“ Auch hier blitzt eine gefährliche Ein­stel­lung durch: Die Men­schen­rechte sind keineswegs, wie der Innen­min­is­ter unter­stellt, „abstrakt“. Sie sind das konkrete Ergeb­nis mehrerer Hun­dert Jahre Human­is­mus und Aufk­lärung und ste­hen nicht zur Dis­po­si­tion eines über­forderten Innenministers.

Plat­tform Rechsstaat: Namhafte Juris­ten sind am Don­ner­stag bei ein­er Pressekon­ferenz der „Plat­tform Rechtsstaat“ in Wien den jüng­sten Äußerun­gen von Innen­min­is­ter Her­bert Kickl (FPÖ) zum Rechtsstaat ent­ge­genge­treten. „Ich finde es unerträglich, wenn die Grund­sätze der Europäis­chen Men­schen­recht­skon­ven­tion infrage gestellt wer­den. Das ist eines Rechtsstaates unwürdig“, meinte der Präsi­dent der Wiener Recht­san­walt­skam­mer, Michael Enzinger.
Für Friedrich Forsthu­ber, Obmann der Fach­gruppe Strafrecht in der Richter­vere­ini­gung, hat Kickl am „Werte­gerüst unser­er Recht­sor­d­nung“ gerüt­telt: „Die Grund­prinzip­i­en des demokratis­chen Rechtsstaates sind klar definiert. Es gibt keine Demokratie light, keine Men­schen­rechte light.“ Der Innen­min­is­ter habe offen­bar „aus­gelotet, was in einem gewach­se­nen demokratis­chen Rechtsstaat an Äußerun­gen der Bevölkerung zumut­bar ist“. Das ver­ankerte Ver­ständ­nis von Demokratie, Men­schen­recht­en und Rechtsstaat müsse vor allem auch seit­ens der Zivilge­sellschaft vertei­digt wer­den, gab Forsthu­ber zu bedenken: „Ich klage an, wenn Äußerun­gen getätigt wer­den, wie dass das Recht der Poli­tik zu fol­gen hat.“
Sowohl Forsthu­ber als auch Enzinger zeigten sich ver­wun­dert, dass die Aus­sagen Kickls keinen bre­it­eren Auf­schrei zur Folge hat­ten. „Damit wurde eine rote Lin­ie über­schrit­ten. Da ist die Poli­tik und die Zivilge­sellschaft dazu aufgerufen, das klar zu stellen“, appel­lierte Forsthu­ber. Der demokratis­che Rechtsstaat sei „nicht vom Him­mel gefall­en“, bekräftigte Enzinger. Insofern hätte er sich nach Kickls Auftritt „erhofft, dass dazu klarere Mel­dun­gen von der Poli­tik kom­men.“ (APA, via tt.com, 24.1.19)