Kickls Aussagen sind kein Ausrutscher, der zufällig passiert ist. Die Hinterfragung des rechtsstaatlichen Prinzips und der Menschenrechte ist weder seiner Position als Innenminister geschuldet, noch der aktuellen Diskussion um die Abschiebung von straffällig gewordenen Asylwerbern anlässlich der Morde an Frauen. Die FPÖ betreibt das Ansinnen seit Jahren. Das es de facto öffentlich kaum zur Kenntnis genommen wurde, liegt nicht daran, dass dies im Geheimen passiert wäre. Wer sich jemals dafür interessiert hat, konnte das systematische Kratzen an Menschen- und Grundrechten nachlesen, etwa im Handbuch freiheitlicher Politik (4. Auflage) 2013, in dem es zur Gleichbehandlungspolitik heißt: „Solche Einschränkungen der Privatautonomie auf dem Altar eines weltfremden Gutmenschentums lehnen wir ab.“ (S. 28) Bezüglich der Menschenrechtskonvention tritt man noch etwas zurückhaltend „für eine Aktualisierung dieses seit den 1950er Jahren geltenden Vertrages ein” (S. 27). Zu den Bürgerrechten (wohlgemerkt den nationalen) beklagt die FPÖ, dass sie „ausgehöhlt” würden, „wobei dieser Vorgang auch teilweise sinnverkehrt durch die Menschenrechtskonvention und die EU-Grundrechtscharta verstärkt wird” (S. 83).
Im Programm zur Nationalratswahl 2017 spricht man von einer „Evaluierung der Europäischen Menschenrechtskonvention und gegebenenfalls Ersatz durch eine ‚Österreichische Menschenrechtskonvention’, die auch das Heimatrecht der Österreicher schützt“.
Kickl formuliert also etwas weniger galant die anlassbezogene Auslegung und Konkretisierung dessen, was die FPÖ seit Jahren zu ihrer programmtischen Forderung erhoben hat. Wenn es dann darum geht, wer nun von den Bürgerrechten profitieren soll und wer ausgeschieden wird, dann wird es allerdings brutaler. Dazu weiter unten.
Kickl im Wortlaut zum Thema Rechtsstaat und Europäische Menschenrechtskonvention (Transkript, ORF Report 22.1.19):
Zunächst einmal eines zum Thema ‚Rechtsstaatlichkeit’: Ja, selbstverständlich stehen wir alle auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit. Das ist ja eine Selbstverständlichkeit. Nur eines muss man auch einmal dazu sagen: Was ist denn die größte Gefahr für den Rechtsstaat? Die größte Gefahr für den Rechtsstaat ist, dass er missbraucht wird und quasi gegen sich selbst zur Anwendung gebracht wird. Dass man quasi über die eigenen Gesetze stolpert und handlungsunfähig ist. Und des ist die Situation, vor der wir jetzt stehen. Da brennt das Haus, dort liegt der Schlauch. Wir wissen genau, dass wir den Schlauch nehmen müssen, um das Feuer zu löschen, und dazwischen gibt’s irgendwelche seltsamen rechtlichen Konstruktionen, teilweise viele, viele Jahre alt, aus ganz anderen Situationen heraus entstanden, und die hindern uns daran, das zu tun, was notwendig ist. Und deshalb möchte ich eine Debatte darüber führen und mich auch anlegen mit diesen Regelungen, das hinterfragen. Denn ich glaube immer noch, dass der Grundsatz gilt, dass das Recht der Politik zu folgen hat und net die Politik dem Recht. Und das wird eine spannende Auseinandersetzung, weil ich nämlich glaube, dass es niemand Vernünftigen geben kann in diesem Land, der nicht dafür ist, dass wir bei Straffälligen, bei Straftätern, die Körperverletzungen begehen und andere Dinge – nicht einen Weg finden sollten, dass wir denen dann auch einen Asylstatus aberkennen und sie außer Landes bringen, oder bei denjenigen, die sich überhaupt erst drum bewerben, dafür sorgen, dass des negativ ausgeht. (…)
bezügl. eventueller EU-Vertragsverletzungsverfahren:
Wir tun das ja auch bei Dingen, wo’s ums Finanzielle geht. (…) Und dann, wenn’s Schwierigkeiten gibt, wenn wir hier möglicherweise an Grenzen kommen, dann will ich eine ehrliche Diskussion darüber haben. Sonst hört si ja die Politik auf. Wir können do net nicht mit Dingen aus den Fünfziger-Jahren herumtun, unter völlig anderen Voraussetzungen, da muss ma ja einmal weiterdenken.
Gesamtes Interview ist hier abrufbar: https://www.profil.at/oesterreich/video-kickl-orf-report-10610601 (ab 3’42“)
Reaktionen
Matthias Klatt (Univ-Prof für Rechtsphilosophie Universität Graz): Die Formulierung, die der Innenminister gewählt hat, die klingt ja ganz gewitzt. Aber sachlich ist sie falsch. Recht und Politik, das Verhältnis ist sehr komplex und keine Einbahnstraße. Und diese Einbahnstraße stellt sich der Minister vor. Politik schafft das Recht, fertig. So ist es nicht, sondern das Recht zieht der Politik auch Grenzen. Und diesen zweiten Teil, den unterschlägt der Minister. (ZiB 2, 23.1.19)
Bernd-Christian Funk (Verfassungsjurist): Die Frage der Grundrechte und der Europäischen Menschenrechtskonvention ist etwas, was nicht zur Disposition steht. Es hieße, die Grundlagen des Rechtsstaates und damit auch der Demokratie infrage zu stellen, ja sogar zu gefährden. (ZiB 2, 23.1.19)
Natascha Strobl (Politikwissenschafterin, Rechtsextremismusexpertin) via Twitter
Wenn ihr wissen wollt was Kickl da macht mit seiner Ablehnung d Menschenrechte u d Forderung (Regierungs)Politik über rechtliche Grundsätze zu stellen, dann müsst ihr Carl Schmitt lesen. Er hat das Primat der Politik vor dem Primat des Rechts postuliert, was wichtig für NS war.
Carl Schmitt war einer der führenden Vertreter der (sogenannten) Konservativen Revolution, einem losen Kreis aus antidemokratischen, antikommunistischen, antiliberalen Denkern (sic) in der Weimarer Republik, die Demokratie und Parlamentarismus intellektuell delegitimiert haben. (kommt uns bekannt vor, gell? — siehe Neue Rechte. Wenngleich die Konservative Revolution intellektuell deutlich mehr Substanz hatte. Siehe Spengler, Jung, Jünger, Niekisch, van den Bruck; oder auch Inspirationen wie Evola) Wie auch immer. Schmitt war Rechtswissenschaftler und kein Unwichtiger noch dazu (alle Jus-Studis lernen ihn noch immer). Das war er auch schon vor dem NS und er hat eben auch davor eine klar autoritäre Ordnung vertreten.
Den Kern seiner politischen Theorie kann man zusammenfassen mit „Der Souverän hat immer recht”. Der Souverän ist wer über Krieg u Frieden, über Normalzustand und Ausnahmezustand entscheidet. Dieses Recht obliegt d Souverän allein (und nicht etwa gesell. Diskurs; Gewaltenteilung)
Der Souverän ist direkt durch „das Volk” legitimiert, aber nicht auf demokratische Art und Weise, sondern per Akklamation. Das heißt ein Widerspruch muss offen und gegen die Masse individuell formuliert werden. Alles Andere ist Zustimmung.
Dieser Souverän (oder Führer) hat immer recht. Was der Souverän entscheidet oder tut ist automatisch Recht. So hat Schmitt etwa (im Nachhinein!) juristisch den Röhm-Putsch legitimiert. Der Führer schafft Recht u führt es gleichzeitig aus. Ohne Kontrollinstanz. Das ist Faschismus.
Wenn ihr wissen wollt was Kickl da macht mit seiner Ablehnung d Menschenrechte u d Forderung (Regierungs)Politik über rechtliche Grundsätze zu stellen, dann müsst ihr Carl Schmitt lesen. Er hat das Primat der Politik vor dem Primat des Rechts postuliert, was wichtig für NS war.
— Natascha St (@Rabid_Glow) 23. Januar 2019
Hier zur genaueren Analyse von Carl Schmitts Rezeption durch die FPÖ:
Demokratie durch „Ausscheidung des Heterogenen“ – Zur freiheitlichen Rezeption von Carl Schmitt (Teil 1)
Demokratie durch „Ausscheidung des Heterogenen“ – Zur freiheitlichen Rezeption von Carl Schmitt (Teil 2)
Kommentar mein.klagenfurt.at
Das alles ist kein Spaß und es geht hier nicht um Parteipolitik. Hier geht es ans Eingemachte, um die Frage, ob wir unseren Rechtsstaat verteidigen wollen oder ob wir vor denen, die ihn abschaffen möchten, die Waffen strecken. Als die Nazis an die Macht kamen, war eine ihrer ersten Handlungen, den Rechtsstaat zu pervertieren und durch einen Unrechtsstaat zu ersetzen, in dem eben nicht alle Bürger dieselben Rechte hatten. Ganze Bevölkerungsgruppen wurden vom gleichberechtigten Zugang zum Gesetz ausgeschlossen, was ihre Ermordung vorbereitete. Die Justiz, so schrieben die Nazis 1935 in ihre „Änderung des Strafgesetzbuches“, habe sich in Hinkunft nicht nur am Recht, sondern vor allem am „gesunden Volksempfinden“ zu orientieren. Der schwammige Begriff vom „gesunden Volksempfinden“ sollte, wie mehrere Rechtshistoriker nachwiesen, den Durchgriff der NSDAP auf die Justiz sichern, denn als „gesundes Volksempfinden“ galt natürlich nur, was mit der NS-Ideologie übereinstimmte. Übrigens: Auch in kommunistischen Diktaturen, arabischen Despotien und islamistischen Gottesstaaten gibt es keinen Rechtsstaat.
Die Europäische Menschenrechtskonvention trat 1953 in Kraft und sollte verhindern, dass auf europäischem Boden jemals wieder Menschen so entrechtet würden, wie es im Faschismus geschehen war. Die Menschenrechtskonvention garantiert unter anderem: Das Recht auf Leben, das Verbot der Folter, das Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit, Das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit. Und jetzt stellt sich die Frage, warum ein österreichischer Innenminister diese Rechte schlecht findet und wodurch er sie ersetzen möchte. (https://www.mein-klagenfurt.at/mein-klagenfurt/das-freie-wort/mit-herbert-kickl-in-den-unrechtsstaat/)
Andreas Koller (Journalist, Salzburger Nachrichten, 23.1.19): Innenminister Kickl will nicht den Rechtsstaat abschaffen, zumindest sagte er das Dienstagabend im ORF-„Report“. „Ja selbstverständlich stehen wir alle auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit“, versicherte er gönnerhaft, fügte aber hinzu: Größte Gefahr des Rechtsstaates sei, „dass er missbraucht wird“ und „man quasi über die eigenen Gesetze stolpert.“ Stimmt, Herr Kickl, der Rechtsstaat ist mitunter unbequem für die Regierenden. Und die Gesetze, über die die Regierenden stolpern, sind mitunter lästig. Das ist ihre Aufgabe. Sie dienen nicht der Bequemlichkeit der Regierung, sondern dem Schutz der Demokratie, also der Bürger.
Herr Kickl scheint das nicht so zu sehen, wie er auch vor wenigen Tagen in den „Vorarlberger Nachrichten“ zu Protokoll gab. Auf den Einwand des Interviewers, dass die Menschenrechte „universell“ und „für alle gleich“ seien, sagte er: „Ja, natürlich. Aber man kann nicht von uns verlangen, dass man an diesem Kompendium an abstrakten Regeln nicht irgendetwas ändern darf.“ Auch hier blitzt eine gefährliche Einstellung durch: Die Menschenrechte sind keineswegs, wie der Innenminister unterstellt, „abstrakt“. Sie sind das konkrete Ergebnis mehrerer Hundert Jahre Humanismus und Aufklärung und stehen nicht zur Disposition eines überforderten Innenministers.
Plattform Rechsstaat: Namhafte Juristen sind am Donnerstag bei einer Pressekonferenz der „Plattform Rechtsstaat“ in Wien den jüngsten Äußerungen von Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) zum Rechtsstaat entgegengetreten. „Ich finde es unerträglich, wenn die Grundsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention infrage gestellt werden. Das ist eines Rechtsstaates unwürdig“, meinte der Präsident der Wiener Rechtsanwaltskammer, Michael Enzinger.
Für Friedrich Forsthuber, Obmann der Fachgruppe Strafrecht in der Richtervereinigung, hat Kickl am „Wertegerüst unserer Rechtsordnung“ gerüttelt: „Die Grundprinzipien des demokratischen Rechtsstaates sind klar definiert. Es gibt keine Demokratie light, keine Menschenrechte light.“ Der Innenminister habe offenbar „ausgelotet, was in einem gewachsenen demokratischen Rechtsstaat an Äußerungen der Bevölkerung zumutbar ist“. Das verankerte Verständnis von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaat müsse vor allem auch seitens der Zivilgesellschaft verteidigt werden, gab Forsthuber zu bedenken: „Ich klage an, wenn Äußerungen getätigt werden, wie dass das Recht der Politik zu folgen hat.“
Sowohl Forsthuber als auch Enzinger zeigten sich verwundert, dass die Aussagen Kickls keinen breiteren Aufschrei zur Folge hatten. „Damit wurde eine rote Linie überschritten. Da ist die Politik und die Zivilgesellschaft dazu aufgerufen, das klar zu stellen“, appellierte Forsthuber. Der demokratische Rechtsstaat sei „nicht vom Himmel gefallen“, bekräftigte Enzinger. Insofern hätte er sich nach Kickls Auftritt „erhofft, dass dazu klarere Meldungen von der Politik kommen.“ (APA, via tt.com, 24.1.19)