Am 04.11.2016 jährt sich die Selbstenttarnung des
Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zum fünften Mal. Nirgendwo
lässt sich der gesamtgesellschaftliche Rassismus in Deutschland derart
deutlich aufzeigen, wie an den Taten des NSU und deren Aufarbeitung. Das
Kerntrio, das jahrelang „unentdeckt“ durch die Bundesrepublik ziehen
konnte, war verantwortlich für die neun rassistischen Morde an Enver
Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet
Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit
Yozgat, sowie für den Mord an Michèle Kiesewetter. Bei den drei
Sprengstoffanschlägen in Köln und Nürnberg wurden viele Menschen
verletzt, nur durch Glück wurde niemand getötet.
Ermöglicht wurde diese Terrorserie durch einen Rassismus, der das
Handeln der meisten Menschen in diesem Land, staatlicher Behörden und
der Polizei bestimmt. Rund um die Taten des NSU zeigt sich eine
arbeitsteilige Verknüpfung von schweigender bis zustimmender Bevölkerung
und den mörderischen Aktionen der Neonazis. Von ihrer völkischen
Ideologie angetrieben mordete die Gruppe um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos
und Uwe Böhnhardt und wurde dabei von einem bundesweiten Netzwerk von
Neonazis unterstützt. In diesem tummelten sich, wie wir heute wissen,
über 40 Informant*innen von Polizei und Verfassungsschutz. Viele von
ihnen leisteten finanzielle und strukturelle Aufbauarbeit in den
entscheidenden Neonazi-Organisationen der 90er-Jahre. Der Thüringer
Heimatschutz, in dem auch das spätere NSU-Kerntrio aktiv war, wurde
bspw. vom V‑Mann Tino Brandt aufgebaut. Später leitete er Gelder des
Thüringer Verfassungsschutzes über Mittelsmänner an die inzwischen
Untergetauchten weiter und berichtete seinem V‑Mann Führer, wohin die
Drei „verschwunden“ waren. Diese Informationen führten bekanntlich zu
keiner Festnahme von Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos.
Damit leisteten auch die staatlichen Behörden ihren Beitrag bei der
politischen Sozialisierung und dem Leben der Drei im „Untergrund“. Zudem
verhinderten die rassistisch strukturierten Ermittlungen gegen die
Angehörigen der Opfer das Ermitteln der tatsächlichen Täter*innen.
Bereits an den Namen der in der Mord- und Anschlagsserie ermittelnden
Sonderkommissionen „Halbmond“ und „Bosporus“ zeigt sich der
institutionelle Rassismus, der die Taten als „Ausländerkriminalität“
deuten wollte. Das wird insbesondere an einem LKA-Gutachten deutlich:
„Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem
Kulturkreis mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der
Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen
Normen- und Wertesystems verortet ist“. Somit sei davon auszugehen, dass
die Täter*innen „im Ausland aufwuchsen oder immer noch dort leben“.
Auf medialer Ebene setzten sich diese rassistischen Deutungen durch. Die
Nürnberger Zeitung prägte für die neun Morde den abschätzigen Ausdruck
„Döner-Morde“, der von der bundesdeutschen Medienlandschaft bereitwillig
übernommen wurde. Auch die radikale Linke folgte dieser Interpretation
insofern, als dass ihr ein rassistisches Motiv der Mörder*innen bis zur
Selbstenttarnung des NSU im November 2011 nicht in den Sinn kam. Die
Versuche der Angehörigen, einen möglichen rassistischen Hintergrund in
Interviews oder auf Demos zu benennen, wie z.B. mit der Forderung „Kein
10. Opfer“ auf Demonstrationen in Dortmund und Kassel im Mai/Juni 2006,
blieben ungehört.
Zwickau: ein guter Unterschlupf für Nazi-Terrorist*innen
Vor fünf Jahren, im November 2011, schien die Überraschung über die
Selbstenttarnung des NSU groß. Doch Zwickau als Ort verdeutlicht, wie
die Mehrheitsgesellschaft den Aufbau der NSU-Strukturen unterstützt und
gefördert hat. Ein breites Netzwerk ermöglichte dem NSU einen
komfortablen Rückzugsort, trotz eines Lebens im „Untergrund“. Neben
starken Neonazistrukturen verschaffte gerade die Mischung aus
nachbarschaftlicher Ignoranz und Akzeptanz dem NSU einen freien Rücken.
Frühere Nachbar*innen berichten von Beate Zschäpe als netter Frau und
„Katzenmama“. Die Hitler-Bilder, die im als Nachbarschaftstreff
genutzten Party-Keller eines Nachbarn gefunden wurden, zeugen von
ideologischer Zustimmung und Verbundenheit in der Zwickauer
Frühlingsstraße. Im Miteinander von Neonazis und „normalen“ Bürger*innen
erscheint die Volksgemeinschaft in ihrer menschenfeindlichen
Ausdrucksform. Das gilt für Zwickau in der spezifischen sächsischen
Ausprägung einer bundesweiten Realität.
Nicht nur das direkte nachbarschaftliche Umfeld ermöglichte ein
angenehmes Leben im Untergrund, die Hilfsbereitschaft der Zwickauer
Bürger*innen zeigte sich auch auf anderen Ebenen: Neonazis in Zwickau
und Chemnitz betrieben neben Kleidungsgeschäften auch Baufirmen und
Security-Unternehmen. Sie errichteten seit den 1990er Jahren eine
funktionierende Infrastruktur, die sowohl Geld einbrachte, als auch die
Grundbedingungen für das Leben des NSU im „Untergrund“ schuf. Ralf
Marschner, Inhaber einer Baufirma, mehrerer Shops für Nazibekleidung und
eines rechten Labels, war vermutlich zeitweise Arbeitgeber des
NSU-Trios. Zudem konnten diese Betriebe auch bundesweit tätig sein und
somit ohne Aufsehen zu erregen Autos anmieten, die vermutlich bei den
Morden genutzt wurden.
Dieses gesellschaftliche Klima besteht fort. Dem BKA sind seit November
2011 bereits 288 Straftaten mit Bezug zum NSU gemeldet worden. In
Sachsen und bundesweit sind Übergriffe und Anschläge auf Geflüchtete und
alle anderen, die als Fremde oder Feinde markiert werden, Alltag. Was
bereits im Herbst 2013 an Orten wie Schneeberg begann, setzt sich hier
fort. Menschen werden angegriffen, Unterkünfte angezündet. In Heidenau
kommt es im August 2015 sogar zu pogromartigen Ausschreitungen, in
Bautzen finden im September 2016 Menschenjagden auf Geflüchtete statt.
„Besorgte Bürger*innen“ hetzen in Form von Demonstrationen, Blockaden
von Unterkünften und anderen Aktionen des so genannten „zivilen
Ungehorsams“ gemeinsam mit organisierten Neonazis gegen Geflüchtete.
Auch in Zwickau protestieren mehrfach bis zu 1000 Demonstrant*innen
gegen die Einrichtung von Geflüchtetenunterkünften, im Mai gab es einen
Brandanschlag auf die Unterkunft an der Kopernikusstraße. Ohne
nennenswerten Widerspruch durch die Mehrheitsbevölkerung formiert sich
aktuell eine völkische Bewegung. Deutlich zeigen sich die Kontinuitäten
zu den rassistischen Pogromen der 1990er Jahre.
Ebenso lässt sich eine klare Linie von Rostock-Lichtenhagen und
Hoyerswerda über die Neonaziszene und den Thüringer Heimatschutz zum NSU
und seinem Umfeld ziehen: Im Klima der Pogrome erfuhren die Mitglieder
des Thüringer Heimatschutzes, aus dem später der NSU hervorging, ihre
politische Sozialisation. Sie konnten auf lokaler und regionaler Ebene
eine rassistische Alltagshegemonie erleben und auf der Straße ohne
nennenswerten gesellschaftlichen Widerstand agieren, oftmals sogar unter
offenem Zuspruch. Die Lektion, die sie daraus lernen konnten, war die,
dass sie mit ihren Auffassungen auf einen breiten gesellschaftlichen
Rückhalt zählen konnten und militante Aktionen in diesem Klima politisch
belohnt wurden.
Totgeschwiegen, heruntergespielt, verharmlost – damals wie heute
Das Schweigen und die fehlende Auseinandersetzung mit dem NSU und dessen
Umfeld zeigen, wie eine Aufarbeitung des NSU-Komplex und eine Erinnerung
an die Opfer systematisch verdrängt und verhindert werden. Reflexhaft
verkündete die Zwickauer Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann (Die
LINKE) 2011: „Mit Zwickau hat das Ganze nichts zu tun!“ Lokale
Initiativen, die sich für eine kritische Auseinandersetzung damit
einsetzen, dass das Kern-Trio des NSU in Zwickau seinen
Lebensmittelpunkt hatte, werden immer noch von der Stadt und großen
Teilen der lokalen Bevölkerung dafür angegriffen. Der Abriss des
Wohnhauses in der Frühlingstraße ist das Sinnbild einer Lokalpolitik,
die lieber dem Gras beim Wachsen zu schaut, als sich selbstkritisch dem
jahrelangen Versagen zu stellen.
Dass Zwickau für die Neonaziszene noch immer eine ganze Erlebniswelt
bietet, mit Bekleidungsgeschäften, rechten Kampfsportevents,
Neonazikonzerten, des ungehemmten Auslebens rechten Gedankenguts bei
lokalen Fußballvereinen und Arbeitsplätzen bei den national gesinnten
Kamerad*innen – darüber wird in Zwickau nicht gerne gesprochen. Nicht
einmal die Selbstenttarnung des NSU hat zu einem Umdenken geführt. Eine
Gedenktafel für die Opfer ist nach wie vor unerwünscht und ein
Schulprojekt zum Thema wurde zunächst vom Kulturausschuss der Stadt
sabotiert. Nach Bewilligung der Gelder geht nun die AfD gegen das
Projekt vor. Dieses Desinteresse an Aufklärung und Erinnerung verhöhnt
die Opfer des NSU und rechter Gewalt in Deutschland. In diesem Zwickau,
mit dem das alles nichts zu tun hat, hängt 2011 im Naziladen Eastwear
über Wochen ein T‑Shirt mit Pink Panther und der Aufschrift
„Staatsfeind“. Verschiedene Bekennervideos zu den Morden des NSU im
Format der Pink Panther-Cartoons wurden in der abgebrannten Wohnung von
Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos in Zwickau gefunden. Auch diverse
Sprühereien mit Bezug zum NSU zeigen deutlich, dass die lokale Szene
sich dafür feiert, dass das Trio in ihrer Stadt gelebt hat.
Grund genug, die Zwickauer Zustände in die Öffentlichkeit zu zerren
Mit einer Demonstration anlässlich des fünften Jahrestages des
Bekanntwerdens des NSU gehen wir am 5. November nach Zwickau, wo die
rassistischen Strukturen und das Umfeld des NSU die Morde ermöglicht
haben. Wir gehen gegen den rassistischen Alltag in Zwickau und in
Sachsen und deutschlandweit auf die Straße:
- Wir erinnern an die Opfer der Mord- und Anschlagsserie des NSU und drücken unsere Solidarität mit ihnen und ihren Angehörigen aus.
— Wir wollen auf die Neonazistrukturen und ihre nachbarschaftliche Komfortzone hinweisen und diese zurückdrängen.
— Wir fordern nach wie vor die Abschaffung aller Inlandsgeheimdienste, die unter dem Label „Verfassungsschutz“ operieren und verdeckte Aufbauarbeit für neonazistische Gruppierungen betreiben.
— Wir fordern insbesondere eine Auseinandersetzung mit und Aufarbeitung der rassistischen Morde durch einen internationalen Untersuchungsausschuss und unter Einbeziehung der Angehörigen in die Aufklärungsarbeit.