Lesezeit: 8 Minuten

(D) Demo-Aufruf: NSU in Zwickau: Kein Gras drüber wachsen lassen!

Demo-Auf­­­ruf: NSU in Zwi­ckau: Kein Gras drü­ber wach­sen las­sen! Gegen Nazi-Ter­ror und den ras­sis­ti­schen Nor­mal­zu­stand. Sams­tag 05.11. » 14.00 Uhr » Zwi­ckau, Bahn­hof Am 04.11.2016 jährt sich die Selbst­ent­tar­nung des Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds (NSU) zum fünf­ten Mal. Nir­gend­wo lässt sich der gesamt­ge­sell­schaft­li­che Ras­sis­mus in Deutsch­land der­art deut­lich auf­zei­gen, wie an den Taten des NSU und deren Auf­ar­bei­tung. Das […]

1. Nov 2016

Am 04.11.2016 jährt sich die Selbst­ent­tar­nung des
Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds (NSU) zum fünf­ten Mal. Nirgendwo
lässt sich der gesamt­ge­sell­schaft­li­che Ras­sis­mus in Deutsch­land derart
deut­lich auf­zei­gen, wie an den Taten des NSU und deren Auf­ar­bei­tung. Das
Kern­trio, das jah­re­lang „unent­deckt“ durch die Bun­des­re­pu­blik ziehen
konn­te, war ver­ant­wort­lich für die neun ras­sis­ti­schen Mor­de an Enver
Şimşek, Abdur­ra­him Özüd­oğru, Süley­man Taş­köprü, Habil Kılıç, Mehmet
Tur­gut, İsm­ail Yaşar, Theo­do­ros Boul­ga­ri­des, Meh­met Kubaşık und Halit
Yoz­gat, sowie für den Mord an Mic­hè­le Kie­se­wet­ter. Bei den drei
Spreng­stoff­an­schlä­gen in Köln und Nürn­berg wur­den vie­le Menschen
ver­letzt, nur durch Glück wur­de nie­mand getötet.

Ermög­licht wur­de die­se Ter­ror­se­rie durch einen Ras­sis­mus, der das
Han­deln der meis­ten Men­schen in die­sem Land, staat­li­cher Behör­den und
der Poli­zei bestimmt. Rund um die Taten des NSU zeigt sich eine
arbeits­tei­li­ge Ver­knüp­fung von schwei­gen­der bis zustim­men­der Bevölkerung
und den mör­de­ri­schen Aktio­nen der Neo­na­zis. Von ihrer völkischen
Ideo­lo­gie ange­trie­ben mor­de­te die Grup­pe um Bea­te Zsch­ä­pe, Uwe Mundlos
und Uwe Böhn­hardt und wur­de dabei von einem bun­des­wei­ten Netz­werk von
Neo­na­zis unter­stützt. In die­sem tum­mel­ten sich, wie wir heu­te wissen,
über 40 Informant*innen von Poli­zei und Ver­fas­sungs­schutz. Vie­le von
ihnen leis­te­ten finan­zi­el­le und struk­tu­rel­le Auf­bau­ar­beit in den
ent­schei­den­den Neo­na­zi-Orga­ni­sa­tio­nen der 90er-Jah­re. Der Thüringer
Hei­mat­schutz, in dem auch das spä­te­re NSU-Kern­trio aktiv war, wurde
bspw. vom V‑Mann Tino Brandt auf­ge­baut. Spä­ter lei­te­te er Gel­der des
Thü­rin­ger Ver­fas­sungs­schut­zes über Mit­tels­män­ner an die inzwischen
Unter­ge­tauch­ten wei­ter und berich­te­te sei­nem V‑Mann Füh­rer, wohin die
Drei „ver­schwun­den“ waren. Die­se Infor­ma­tio­nen führ­ten bekannt­lich zu
kei­ner Fest­nah­me von Böhn­hardt, Zsch­ä­pe und Mundlos.

Damit leis­te­ten auch die staat­li­chen Behör­den ihren Bei­trag bei der
poli­ti­schen Sozia­li­sie­rung und dem Leben der Drei im „Unter­grund“. Zudem
ver­hin­der­ten die ras­sis­tisch struk­tu­rier­ten Ermitt­lun­gen gegen die
Ange­hö­ri­gen der Opfer das Ermit­teln der tat­säch­li­chen Täter*innen.
Bereits an den Namen der in der Mord- und Anschlags­se­rie ermittelnden
Son­der­kom­mis­sio­nen „Halb­mond“ und „Bos­po­rus“ zeigt sich der
insti­tu­tio­nel­le Ras­sis­mus, der die Taten als „Aus­län­der­kri­mi­na­li­tät“
deu­ten woll­te. Das wird ins­be­son­de­re an einem LKA-Gut­ach­ten deutlich:
„Vor dem Hin­ter­grund, dass die Tötung von Men­schen in unserem
Kul­tur­kreis mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzu­lei­ten, dass der
Täter hin­sicht­lich sei­nes Ver­hal­tens­sys­tems weit außer­halb des hiesigen
Nor­men- und Wer­te­sys­tems ver­or­tet ist“. Somit sei davon aus­zu­ge­hen, dass
die Täter*innen „im Aus­land auf­wuch­sen oder immer noch dort leben“.

Auf media­ler Ebe­ne setz­ten sich die­se ras­sis­ti­schen Deu­tun­gen durch. Die
Nürn­ber­ger Zei­tung präg­te für die neun Mor­de den abschät­zi­gen Ausdruck
„Döner-Mor­de“, der von der bun­des­deut­schen Medi­en­land­schaft bereitwillig
über­nom­men wur­de. Auch die radi­ka­le Lin­ke folg­te die­ser Interpretation
inso­fern, als dass ihr ein ras­sis­ti­sches Motiv der Mörder*innen bis zur
Selbst­ent­tar­nung des NSU im Novem­ber 2011 nicht in den Sinn kam. Die
Ver­su­che der Ange­hö­ri­gen, einen mög­li­chen ras­sis­ti­schen Hin­ter­grund in
Inter­views oder auf Demos zu benen­nen, wie z.B. mit der For­de­rung „Kein
10. Opfer“ auf Demons­tra­tio­nen in Dort­mund und Kas­sel im Mai/Juni 2006,
blie­ben ungehört.

Zwi­ckau: ein guter Unter­schlupf für Nazi-Terrorist*innen

Vor fünf Jah­ren, im Novem­ber 2011, schien die Über­ra­schung über die
Selbst­ent­tar­nung des NSU groß. Doch Zwi­ckau als Ort ver­deut­licht, wie
die Mehr­heits­ge­sell­schaft den Auf­bau der NSU-Struk­tu­ren unter­stützt und
geför­dert hat. Ein brei­tes Netz­werk ermög­lich­te dem NSU einen
kom­for­ta­blen Rück­zugs­ort, trotz eines Lebens im „Unter­grund“. Neben
star­ken Neo­na­zi­struk­tu­ren ver­schaff­te gera­de die Mischung aus
nach­bar­schaft­li­cher Igno­ranz und Akzep­tanz dem NSU einen frei­en Rücken.
Frü­he­re Nachbar*innen berich­ten von Bea­te Zsch­ä­pe als net­ter Frau und
„Kat­zen­ma­ma“. Die Hit­ler-Bil­der, die im als Nachbarschaftstreff
genutz­ten Par­ty-Kel­ler eines Nach­barn gefun­den wur­den, zeu­gen von
ideo­lo­gi­scher Zustim­mung und Ver­bun­den­heit in der Zwickauer
Früh­lings­stra­ße. Im Mit­ein­an­der von Neo­na­zis und „nor­ma­len“ Bürger*innen
erscheint die Volks­ge­mein­schaft in ihrer menschenfeindlichen
Aus­drucks­form. Das gilt für Zwi­ckau in der spe­zi­fi­schen sächsischen
Aus­prä­gung einer bun­des­wei­ten Realität.

Nicht nur das direk­te nach­bar­schaft­li­che Umfeld ermög­lich­te ein
ange­neh­mes Leben im Unter­grund, die Hilfs­be­reit­schaft der Zwickauer
Bürger*innen zeig­te sich auch auf ande­ren Ebe­nen: Neo­na­zis in Zwickau
und Chem­nitz betrie­ben neben Klei­dungs­ge­schäf­ten auch Bau­fir­men und
Secu­ri­ty-Unter­neh­men. Sie errich­te­ten seit den 1990er Jah­ren eine
funk­tio­nie­ren­de Infra­struk­tur, die sowohl Geld ein­brach­te, als auch die
Grund­be­din­gun­gen für das Leben des NSU im „Unter­grund“ schuf. Ralf
Marsch­ner, Inha­ber einer Bau­fir­ma, meh­re­rer Shops für Nazi­be­klei­dung und
eines rech­ten Labels, war ver­mut­lich zeit­wei­se Arbeit­ge­ber des
NSU-Tri­os. Zudem konn­ten die­se Betrie­be auch bun­des­weit tätig sein und
somit ohne Auf­se­hen zu erre­gen Autos anmie­ten, die ver­mut­lich bei den
Mor­den genutzt wurden.

Die­ses gesell­schaft­li­che Kli­ma besteht fort. Dem BKA sind seit November
2011 bereits 288 Straf­ta­ten mit Bezug zum NSU gemel­det wor­den. In
Sach­sen und bun­des­weit sind Über­grif­fe und Anschlä­ge auf Geflüch­te­te und
alle ande­ren, die als Frem­de oder Fein­de mar­kiert wer­den, All­tag. Was
bereits im Herbst 2013 an Orten wie Schnee­berg begann, setzt sich hier
fort. Men­schen wer­den ange­grif­fen, Unter­künf­te ange­zün­det. In Heidenau
kommt es im August 2015 sogar zu pogrom­ar­ti­gen Aus­schrei­tun­gen, in
Baut­zen fin­den im Sep­tem­ber 2016 Men­schen­jag­den auf Geflüch­te­te statt.
„Besorg­te Bürger*innen“ het­zen in Form von Demons­tra­tio­nen, Blockaden
von Unter­künf­ten und ande­ren Aktio­nen des so genann­ten „zivi­len
Unge­hor­sams“ gemein­sam mit orga­ni­sier­ten Neo­na­zis gegen Geflüchtete.

Auch in Zwi­ckau pro­tes­tie­ren mehr­fach bis zu 1000 Demonstrant*innen
gegen die Ein­rich­tung von Geflüch­te­ten­un­ter­künf­ten, im Mai gab es einen
Brand­an­schlag auf die Unter­kunft an der Koper­ni­kus­stra­ße. Ohne
nen­nens­wer­ten Wider­spruch durch die Mehr­heits­be­völ­ke­rung for­miert sich
aktu­ell eine völ­ki­sche Bewe­gung. Deut­lich zei­gen sich die Kontinuitäten
zu den ras­sis­ti­schen Pogro­men der 1990er Jahre.

Eben­so lässt sich eine kla­re Linie von Ros­tock-Lich­ten­ha­gen und
Hoyers­wer­da über die Neo­na­zi­sze­ne und den Thü­rin­ger Hei­mat­schutz zum NSU
und sei­nem Umfeld zie­hen: Im Kli­ma der Pogro­me erfuh­ren die Mitglieder
des Thü­rin­ger Hei­mat­schut­zes, aus dem spä­ter der NSU her­vor­ging, ihre
poli­ti­sche Sozia­li­sa­ti­on. Sie konn­ten auf loka­ler und regio­na­ler Ebene
eine ras­sis­ti­sche All­tags­he­ge­mo­nie erle­ben und auf der Stra­ße ohne
nen­nens­wer­ten gesell­schaft­li­chen Wider­stand agie­ren, oft­mals sogar unter
offe­nem Zuspruch. Die Lek­ti­on, die sie dar­aus ler­nen konn­ten, war die,
dass sie mit ihren Auf­fas­sun­gen auf einen brei­ten gesellschaftlichen
Rück­halt zäh­len konn­ten und mili­tan­te Aktio­nen in die­sem Kli­ma politisch
belohnt wurden.

Tot­ge­schwie­gen, her­un­ter­ge­spielt, ver­harm­lost – damals wie heute

Das Schwei­gen und die feh­len­de Aus­ein­an­der­set­zung mit dem NSU und dessen
Umfeld zei­gen, wie eine Auf­ar­bei­tung des NSU-Kom­plex und eine Erinnerung
an die Opfer sys­te­ma­tisch ver­drängt und ver­hin­dert wer­den. Reflexhaft
ver­kün­de­te die Zwi­ckau­er Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te Sabi­ne Zim­mer­mann (Die
LINKE) 2011: „Mit Zwi­ckau hat das Gan­ze nichts zu tun!“ Lokale
Initia­ti­ven, die sich für eine kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung damit
ein­set­zen, dass das Kern-Trio des NSU in Zwi­ckau seinen
Lebens­mit­tel­punkt hat­te, wer­den immer noch von der Stadt und großen
Tei­len der loka­len Bevöl­ke­rung dafür ange­grif­fen. Der Abriss des
Wohn­hau­ses in der Früh­ling­s­tra­ße ist das Sinn­bild einer Lokalpolitik,
die lie­ber dem Gras beim Wach­sen zu schaut, als sich selbst­kri­tisch dem
jah­re­lan­gen Ver­sa­gen zu stellen.

Dass Zwi­ckau für die Neo­na­zi­sze­ne noch immer eine gan­ze Erlebniswelt
bie­tet, mit Beklei­dungs­ge­schäf­ten, rech­ten Kampfsportevents,
Neo­na­zikon­zer­ten, des unge­hemm­ten Aus­le­bens rech­ten Gedan­ken­guts bei
loka­len Fuß­ball­ver­ei­nen und Arbeits­plät­zen bei den natio­nal gesinnten
Kamerad*innen – dar­über wird in Zwi­ckau nicht ger­ne gespro­chen. Nicht
ein­mal die Selbst­ent­tar­nung des NSU hat zu einem Umden­ken geführt. Eine
Gedenk­ta­fel für die Opfer ist nach wie vor uner­wünscht und ein
Schul­pro­jekt zum The­ma wur­de zunächst vom Kul­tur­aus­schuss der Stadt
sabo­tiert. Nach Bewil­li­gung der Gel­der geht nun die AfD gegen das
Pro­jekt vor. Die­ses Des­in­ter­es­se an Auf­klä­rung und Erin­ne­rung verhöhnt
die Opfer des NSU und rech­ter Gewalt in Deutsch­land. In die­sem Zwickau,
mit dem das alles nichts zu tun hat, hängt 2011 im Nazi­la­den Eastwear
über Wochen ein T‑Shirt mit Pink Pan­ther und der Aufschrift
„Staats­feind“. Ver­schie­de­ne Beken­ner­vi­de­os zu den Mor­den des NSU im
For­mat der Pink Pan­ther-Car­toons wur­den in der abge­brann­ten Woh­nung von
Zsch­ä­pe, Böhn­hardt und Mund­los in Zwi­ckau gefun­den. Auch diverse
Sprü­he­rei­en mit Bezug zum NSU zei­gen deut­lich, dass die loka­le Szene
sich dafür fei­ert, dass das Trio in ihrer Stadt gelebt hat.

Grund genug, die Zwi­ckau­er Zustän­de in die Öffent­lich­keit zu zerren

Mit einer Demons­tra­ti­on anläss­lich des fünf­ten Jah­res­ta­ges des
Bekannt­wer­dens des NSU gehen wir am 5. Novem­ber nach Zwi­ckau, wo die
ras­sis­ti­schen Struk­tu­ren und das Umfeld des NSU die Mor­de ermöglicht
haben. Wir gehen gegen den ras­sis­ti­schen All­tag in Zwi­ckau und in
Sach­sen und deutsch­land­weit auf die Straße:

- Wir erin­nern an die Opfer der Mord- und Anschlags­se­rie des NSU und drü­cken unse­re Soli­da­ri­tät mit ihnen und ihren Ange­hö­ri­gen aus.
— Wir wol­len auf die Neo­na­zi­struk­tu­ren und ihre nach­bar­schaft­li­che Kom­fort­zo­ne hin­wei­sen und die­se zurückdrängen.
— Wir for­dern nach wie vor die Abschaf­fung aller Inlands­ge­heim­diens­te, die unter dem Label „Ver­fas­sungs­schutz“ ope­rie­ren und ver­deck­te Auf­bau­ar­beit für neo­na­zis­ti­sche Grup­pie­run­gen betreiben.
— Wir for­dern ins­be­son­de­re eine Aus­ein­an­der­set­zung mit und Auf­ar­bei­tung der ras­sis­ti­schen Mor­de durch einen inter­na­tio­na­len Unter­su­chungs­aus­schuss und unter Ein­be­zie­hung der Ange­hö­ri­gen in die Aufklärungsarbeit.