Vorneweg: Die Frage, wie es sein kann, dass jemand nach Eigenaussage 20 Jahre Nazi-Tätowierungen am Unterschenkel spazieren tragen und unbehelligt damit auch zwei Gefängnisaufenthalte übersteht und dann noch als Draufgabe vier Jahre beidseitig einen NS-Reichsadler und SS-Runen im Gesicht zur Schau stellen kann, wurde während der Verhandlung am 18. Oktober im Wiener Landesgericht nur beiläufig gestreift. Seine Tattoos hatte der Angeklagte mittlerweile überstechen lassen. Zwei schwarze Flecken zieren nun sein Gesicht.
„Linke Trottel“
2015 war der heute 64-Jährige in kurzen Hosen bei einer Demonstration aufgetaucht. Seine Bein-Tätowierungen – Reichsadler, SS-Totenkopf und SS-Runen – sind aufgefallen: Bei der Einvernahme durch den Staatschutz habe sich Engelbert V. über „die Linken“ unwirsch gezeigt, weil die ihm nachgelaufen seien. „Diese linken Trotteln solln scheißen gehen“ und weitere Unflätigkeiten habe V. damals von sich gegeben. Das „Nachlaufen” könne er nachvollziehen, merkte Richter Andreas Böhm an. Die Ermittlungen wurden eingestellt, weil ihm kein Tatvorsatz – also den Nationalsozialismus mit den Tattoos verherrlichen zu wollen – nachgewiesen werden konnte. Eine Anzeige nach dem Abzeichengesetz, das den Tatvorsatz nicht verlangt, hat es offenbar nicht gegeben.
Damit konnte der seit zwei Jahren obdachlose Angeklagte, der bereits acht Vorstrafen am Konto hat, die bis ins Jahr 2001 zurückreichen, an die er sich allerdings großteils nicht mehr erinnern konnte, seine Tätowierungen behalten. 2019 musste er für ein Jahr in Haft. Danach habe er sich die Tattoos am Gesicht machen lassen – wie beim ersten Mal sei es eine besoffene Geschichte gewesen. „I hob gsogt: Jo, mochts as.Dummheit, ich weiß nicht warum, ist passiert …“ Wie viel er trinke, wenn er von „betrunken“ spricht, fragte der Richter. „Ein bis zwei Flaschen Schnaps und Bier“, gab V. an, seine Verteidigerin erhöhte dann auf vier Liter Schnaps.
Die NS-Insignien im Gesicht, die, wie die Staatsanwältin in ihrem Schlussplädoyer betonte, nicht anders als im NS-Zusammenhang zu verstehen seien, hätten nie jemanden gestört, „mir is des goar nimma aufgfolln“, meinte V. im Prozess. Erwischt wurde er erst, als er ein von ihm gefundenes Mobiltelefon in einem Handyshop entsperren lassen wollte. Der diesbezügliche Vorwurf der Unterschlagung wurde allerdings ausgeschieden und an ein Bezirksgericht weitergereicht. V. habe sich dort so seltsam benommen, dass die Polizei gerufen wurde. Der einzige Zeuge, der in der Verhandlung aufgerufen wurde, ein Wiener Polizist, gab an, dass ihm im Zuge seiner Amtshandlung die Tattoos im Gesicht aufgefallen seien und er deswegen Anzeige nach dem Verbotsgesetz erstattet habe.
Keine politische Einstellung
V. und seine Verteidigerin unterstrichen immer wieder, dass er mit dem Nationalsozialismus nichts am Hut habe: „I bin ka Nazi, wor nie aner, werd nie ana werden!“ Er verkehre sehr oft im Simmeringer Einkaufszentrum, wo auch Ausländer zu seinen Bekannten und Freunden gehören. „Ich habe keine politische Einstellung, bin seit 20 Jahren nicht wählen gegangen und find den Nationalsozialismus überhaupt net guat“, betonte V.
Nach nur 45 Minuten wurden die Geschworenen in die Beratungen geschickt. Sie sollten über die Frageabstimmen, ob V. schuldig ist, sich
im nationalsozialistischen Sinne betätigt [zu haben], dass die Taten vielen Menschen zugänglich wurden, indem er (…) die in seinem Gesicht befindlichen Tätowierungen zur Schau stellte, und zwar auf dem linken Ohrläppchen die Tätowierung der doppelten SIG-Rune und links und rechts im Gesicht die jeweils vom Unterkiefer zum Ohr hin verlaufende Tätowierung je eines Reichsadlers in der zur Zeit des Dritten Reiches üblichen Darstellung mit unterhalb jeweils der doppelten SIG-Rune, wobei es sich bei der doppelten SIG-Rune um das Zeichen der „SS”, der Schutzstaffel des Dritten Reiches, die unter anderem die Mordmaschinerie in den Konzentrations- und Vernichtungslagern innehatte, handelt?
Der Wahrspruch der Geschworenen fiel recht eindeutig aus: Mit sieben zu eins wurde V. schuldig gesprochenund zu zwei Jahren Haft bedingt auf drei Jahre verurteilt. Er sei knapp an einer unbedingten Strafe vorbeigeschrammt, betonte der Richter, mildernd hätte sich ausgewirkt, dass er die Tätowierungen „wegmachen” habe lassen. Die Verteidigerin akzeptierte, die Staatsanwältin gab keine Erklärung ab. Daher ist das Urteil nicht rechtskräftig.
„Wiederschauen und vorsichtig in Zukunft!“, gab der Richter dem Angeklagten noch mit auf den Weg. Eine Alkoholentwöhnung und eine intensive Beratung zum Verbotsgesetz wären möglicherweise hilfreicher gewesen.