Im ORF-Sommergespräch am 21.8.23 präzisierte Kickl, er wolle „Kanzler aus dem Volk für das Volk“ und nicht einer „aus dem System für das System“ werden. Die Kritik an seiner Bierzelt-Parole beschränkte sich zumeist darauf, dass vor Kickl die Nazis Hitler als „Volkskanzler“ inszeniert haben. Das ist nicht falsch, trifft aber den Kern aber nur bedingt.
Wer wäre ein „Volkskanzler“?
Als „Volkskanzler“ könnte sich wohl nur eine Person bezeichnen, die direkt vom Volk gewählt wird, eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung bei Wahlen hinter sich hat (zwischen 80–100 Prozent, was wohl nur in autoritären Systemen mit Manipulation oder mit Zwang möglich ist) und weitgehend allein und ohne Parlament, ohne Bundespräsident, ohne unsere Verfassung und deren checks and balances oder wie Kickl sagt, ohne unser System – regieren kann.
„Volkskanzler“ kann in Österreich nur werden, wer so ziemlich alle Institutionen der Republik bekämpft bzw. missachtet.
Missachtung der Verfassung
Der Bundespräsident bestellt üblicherweise eine Person seines Vertrauens (einzige Voraussetzung: Wählbarkeit zum Nationalrat) mit der Bildung einer Regierung, die eine Mehrheit im Nationalrat benötigt. Die österreichische Bundesverfassung sieht eine Kanzlerwahl und dementsprechend einen „Volkskanzler“ nicht vor. Im Gegenteil: Sie schließt ihn aus!
Kickls Lösung: „Ich glaube, dass das Recht der Politik zu folgen hat, und nicht die Politik dem Recht.“ (Kickl im ORF-Report am 23.1.19)

Abwertung des Bundespräsidenten
Die österreichische Verfassung kennt keinen direkt vom Volk gewählten „Volkskanzler“, wohl aber einen direkt durch das Wahlvolk gewählten Bundespräsidenten. „Volkspräsident“ würde trotzdem niemand sagen – auch weil er trotz Direktwahl nicht mit jener Macht ausgestattet ist, die sich Kickl und die FPÖ für ihren „Volkskanzler“ wünschen.
Bei der Bildung einer Regierung und der Auswahl ihrer Mitglieder kann der Bundespräsident aber eine wichtige Rolle spielen. Das stört Kickl massiv. Deshalb versucht er, den Bundespräsidenten abzuwerten, bezeichnet ihn als „Mumie in der Hofburg“ (zit. nach derstandard.at, 22.2.23), als „senil“ (ebd.) oder will ihm gar „den Schädel gerade richten“ (zit. nach kurier.at, 6.2.23).
Verachtung für die anderen Parteien und die Medien
Mit 30 oder 40 Prozent der Stimmen kann niemand „Volkskanzler“ werden. Auch mit über 50 Prozent der Wähler*innenstimmen kennt die österreichische Verfassung keinen „Volkskanzler“, sondern nur einen Kanzler, der nicht einmal (so wie der deutschen Bundeskanzler) vom Parlament direkt gewählt wird und daher auch kein Vorgesetzter oder Chef der anderen Regierungsmitglieder ist.
Für andere Parteien hat Kickl nur Verachtung übrig: Sie sind für ihn „Systemparteien“ und Teil eines Systems, das er grundlegend – so wie die „Systemmedien“ und ihre „linkslinken Auftragsschreiber“ ablehnt.
Wer nicht für Kickl ist, hat im System Kickl nichts zu sagen: So kann man sich auch mit 30 Prozent als „Volkskanzler“ aufspielen. Demokratisch ist es nicht!
Verachtung für die Europäische Union
Aus seiner Verachtung für die Europäische Union macht Kickl kein Geheimnis. Er sieht eine „unglaubliche EU-Unterwürfigkeit Österreichs“ (zit. nach ots.at, 25.10.23 https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20231025_OTS0174/breites-bekenntnis-zur-neutralitaet-bei-sondersitzung-des-nationalrats), will deshalb für seine „Festung Österreich“ auch Verfassungsänderungen, um das Land vor angeblichen Übergriffen der EU und anderer internationaler Organisationen zu schützen. Dahinter steckt die in der FPÖ weit verbreitete Ablehnung der EU bzw. die Forderung nach einem Austritt.
Der wichtige Unterschied
Findige Freiheitliche haben entdeckt, dass auch Figl und Kreisky als „Volkskanzler“ bezeichnet wurden. Alfred Gusenbauer hat sich kurzfristig sogar selbst zum „Volkskanzler“ ernannt. Wo ist also das Problem, fragen sie scheinheilig.
Die Antwort ist einfach: Keiner der Genannten hat die demokratischen Institutionen schlechtgeredet, abgewertet oder gar missachtet. Adolf Hitler bekanntermaßen schon. Vor seiner Machtergreifung 1933 (übrigens hatte er zunächst auch keine absolute Mehrheit) wurde er von den Nazis als „Volkskanzler“ gefeiert. Danach nicht mehr. Mit der gewaltsamen Ausschaltung jeder Opposition und seiner „Wahl“ zum Reichspräsidenten war der Ausbau der Nazi-Diktatur 1934, also innerhalb von weniger als zwei Jahren, abgeschlossen.
Kickl ist nicht Hitler. Es ist aber wichtig, daran zu erinnern, wie und durch welche Methoden eine Demokratie in ein autoritäres und antidemokratisches System umgewandelt werden kann.