Jetzt ist er also da, der FPÖ-Historikerbericht. Die parteitreuen Kommissionsmitglieder glaubten bereits im Vorfeld, sie hätten Grund zum Jubeln: Die FPÖ sei „nahezu eine Partei wie jede andere“, keine direkte Nachfolgepartei der NSDAP! Zweiteres ist richtig, wurde aber von ernstzunehmender Seite auch noch nie behauptet. Das wäre gar nicht möglich gewesen, denn seit 1945 gibt es bekanntermaßen ein NS-Verbotsgesetz.
Der Gründungsobmann der FPÖ, Anton Reinthaller, ist ein sehr prominentes Beispiel für die oben angesprochenen Kontinuitäten. Dass mit ihm ausgerechnet ein „Ehemaliger“ an den Anfängen der FPÖ steht, ist weniger überraschend als symptomatisch und macht die FPÖ eben zu keiner „Partei wie jede andere“. Der Gutsbesitzer war in der Ersten Republik Mitglied des deutschnationalen „Landbunds“, bereits ab 1928 Mitglied der NSDAP, ab 1938 NS-Landwirtschaftsminister im „Anschlusskabinett“ von Arthur Seyß-Inquart, dann SS-Brigadeführer und ab 1939 bis zum Kriegsende Unterstaatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft in Berlin.
1950 wurde er zu einer vergleichsweisen milden Haftstrafe von drei Jahren verurteilt, die er jedoch aufgrund der Anrechnung seiner Internierungszeit nicht antreten musste. 1952 wurde die Strafe auf zweieinhalb Jahre herabgesetzt. Zu einer von seinen Anwälten betriebenen Wiederaufnahme des Verfahrens, begleitet von massenhaften Interventionen bei der damaligen politischen Elite des Landes, kam es nicht mehr: Der SPÖ-Bundespräsident Theodor Körner begnadigte Reinthaller und ebnete ihm damit den Weg in politische Ämter. Reinthaller galt als optimale Besetzung für die FPÖ-Parteiführung. Er war übrigens einer, der sich gegen die Bezeichnung „Ehemaliger“ ebenso wehrte wie gegen den Begriff „Nazi“. Das waren für ihn Begriffe für die opportunistischen neuen Parteigänger ab 1938, er war und sei ein „Nationalsozialist“ (S. 32).
Sein Nachfolger und „einer der engsten Gefolgsmänner von Reinthaller“ (S. 198) war Friedrich Peter. Der ehemalige SS-Mann war zumindest in den 1950er- und 1960er-Jahren verantwortlich für eine entsprechend deutschnationale Ausrichtung der Freiheitlichen. Von ihm ist auch ein Ausspruch Reinthallers überliefert: „Ich eigne mich zum Politiker in einer Demokratie wie der Igel zum A… abwischen.“ (S. 217)
Das Buch von Margit Reiter ist ein Rückblick auf die Anfänge der FPÖ und eine beklemmende – weil immer noch aktuelle – historische Milieustudie. Anhand vieler Beispiele wird deutlich, wie sich dieses Milieu organisierte, wie durch familiäre Prägung über Generationen hinweg eine stramm deutschnationale und antidemokratische Haltung weitergegeben wurde. Die Familien Haider, Scheuch, Huber oder Eigruber seien da nur als Beispiele erwähnt. Noch wichtiger für das „Milieu“ und die Ausrichtung der FPÖ war aber wohl die politische Sozialisierung vieler ihrer Protagonisten in den Burschenschaften.
Warum eigentlich „Ehemalige“? Die auch nach 1945 überzeugten Nazis waren eigentlich „noch immer“ Nazis und keine „Ehemaligen“. Da hatte Reinthaller also durchaus recht – auch bei sich selbst, was Reiter durch die erstmalige Aufarbeitung des Reinthaller-Nachlasses herausschält. Sie erteilt damit dem von der FPÖ allzu gern strapazierten Bild des eher harmlosen, vom NS-Apparat nur instrumentalisierten Parteigründers eine herbe Abfuhr. Kontinuität gilt für alle wesentlichen ideologischen Kernelemente wie etwa den Antisemitismus. Der Begriff „ehemalig“ wird von Reiter daher zwar zurecht problematisiert – zumal er von den Unverbesserlichen selbst verwendet worden ist –, durch die Wahl des Buchtitels und das Fehlen von Anführungszeichen aber gleichzeitig weiter einzementiert.
Eine der ideologischen Kontinuitäten des „Dritten Lagers“ ist die programmatische Festlegung auf den Begriff „Volksgemeinschaft“. Er steht schon im ersten Satz in den „Richtlinien“ der Partei bei ihrer Gründung. Das Konzept wurde von den deutschnationalen Parteien in den 1920er-Jahren vertreten und von der NSDAP übernommen. (S. 258f.). Dass es auch heute zum fixen Repertoire rechtsextremer Parteien gehört, versteht sich fast von selbst.
Die FPÖ wurde 1956 gegründet, die Vorläuferorganisation“ VdU (Verband der Unabhängigen“) 1949. Dieser Gründung im Jahre 1949 gingen einige aus heutiger Sicht verblüffende Vorgänge voraus. Unfassbar ist, was Reiter vom Buhlen der beiden Großparteien um die „Nationalen“ berichtet. Die ÖVP war bestrebt, die Gründung einer „nationalen“ Partei möglichst zu verhindern. Die Gedankenspiele gingen dabei so weit, dass ernsthaft überlegt wurde, die „Ehemaligen“ offiziell als vierten Bund in die Partei aufzunehmen und so eine „antimarxistische Einheitsfront“ zu bilden. Das scheiterte übrigens vor allem an den unbotmäßigen Forderungen der „Nationalen“, die – angeführt von dem später zu zweifelhaftem Ruhm gelangten Taras Borodajkewycz – 25% der Mandate in Anspruch nehmen wollten. (S. 74f.)
In der Steiermark kam es kurz vor den Landtagswahlen im Oktober 1949 sogar zu einem Wahlaufruf von „100 ehemaligen Nationalsozialisten“ für die ÖVP, der unter anderem auch vom früheren Putschisten Walter Pfrimer und dem NS-Bauernführer Sepp Hainzl unterschrieben worden war und in den „Salzburger Nachrichten“ veröffentlicht wurde. (S. 99f.)
Die SPÖ ging nicht ganz so weit: Immerhin aber gelang es ihr, viele „Ehemalige“ im „Bund Sozialistischer Akademiker“ zu integrieren. Dadurch gelangten viele frühere NSDAP-Mitglieder in hohe Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft. (S. 101ff.)
Um daher einen, gerade von der FPÖ immer wieder vorgebrachten Einwand vorwegzunehmen: Ja, auch ÖVP und SPÖ haben ihre „braunen Flecken“, ja auch sie haben um die „Ehemaligen“ gebuhlt und ihnen hohe Posten in der Wirtschaft und auch in ihrer Partei beschafft, und ja, auch in ÖVP und SPÖ hat sich widerlicher Antisemitismus gezeigt. Reiter macht aber klar, dass die FPÖ im Gegensatz zu ÖVP und SPÖ nicht nur „braune Flecken“ aufweist, sondern direkt aus dem braunen Nachkriegsmilieu heraus entstanden ist und sich bislang nicht aus diesem Sumpf befreien konnte und sich trotz einiger zaghafter Versuche meist auch nicht daraus befreien wollte.
Was die Partei jedoch seit damals bis heute (meisterhaft?) beherrscht, ist der „Doublespeak“. Man offenbart die eigenen Vorstellungen nur soweit, dass zwar jede/r weiß, was gemeint ist, die gewählte Formulierung aber zumindest auch eine andere Interpretation zulässt. Der Chefideologe der Partei und FPÖ-Klubobmann im Nationalrat, Emil van Tongel, erklärte das „Bekenntnis zur deutschen Volks- und Kulturgemeinschaft“ im Wahlprogramm so: „Es ist niemand im Saal, der nicht weiss, was wir wollen. (…) Es gibt niemanden in Österreich, der nicht weiss, was wir mit diesen Sätzen sagen wollen.“ (S. 219) Aber so richtig gesagt haben es die Herren halt nur im inneren Kreis.
Reiter stellt etliche aktuelle Bezüge im Buch her – etwa die „Liederbuchaffäre“, die vielen „Einzelfälle“ oder die nach wie vor funktionierenden burschenschaftlichen Netzwerke der Partei, die in den 1950er-Jahren innerhalb der „Nationalen“ an Bedeutung gewannen. Antisemitismus oder das Festhalten am Konzept einer künstlich konstruierten „Volksgemeinschaft“ waren als ideologische Kontinuität in der extremen Rechten immer vorhanden und sind in Österreich „jederzeit abrufbar“. „Jeder weiß, was gemeint ist“, wenn entsprechende Anspielungen gemacht wurden und werden, weil sie sich als oftmals knapp am Strafrecht vorbeischrammende Codes verfestigt haben.
Um das Thema der Einleitung noch einmal aufzunehmen: Interessierte tun besser daran, das Buch von Margit Reiter zu lesen, als auf die Aufarbeitung der FPÖ von deren eigenen braunen Wurzeln zu setzen. Reiter erhielt trotz mehrfacher Bemühungen zwar keinen Einblick ins Parteiarchiv der FPÖ, hat aber mit dem notwendigen wissenschaftlichen Blick von außen ein Buch vorgelegt, das bereits mit dem Erscheinen als Standardwerk zur Geschichte der FPÖ zu werten ist.
Margit Reiter: Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ. Göttingen 2019.