Am Beispiel dieser Nachricht und des Umgangs mit ihr kann so manches abgehandelt werden, etwa das komplette Versagen des Qualitätsjournalismus. Einzige bekannte Ausnahme: der britische Guardian, der eine Woche später die Nachricht gegencheckte und breit über die wirklichen Fakten berichtete.
stopFGM — Mitglieder: NAbg. Petra Bayr, Care Ega – Frauen im Zentrum, Kinderfreunde, Renner-Institut, Rote Falken, SPÖ-Bundesfrauenorganisation, SWI – Österreichische Stiftung für Weltbevölkerung und internationale Zusammenarbeit, Arbeitersamariterbund (ASBÖ, Die Grünen – Güne Alternative Wien, Ekando Kumer, FGM-Hilfe – Der Verein zur Bekämpfung weiblicher Genitalverstümmelung, Frauen ohne Grenzen, Frauensolidarität, Gesellschaft für bedrohte Völker Österreich, Grüne Frauen Wien, Grüner Klub im Rathaus Wien, Junge Generation in der SPÖ, Kinderfreunde Ortsgruppe Wörgl, LEEZA (vormals WADI Österreich) – Liga für emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit, Menschen für Menschen – Karlheinz Böhms Äthiopienhilfe, ÖAAB Frauen Bundesorganisation, ÖAAB Frauen Wien, ÖGF – Österreichische Gesellschaft für Familienplanung, ÖGJ Jugendzentrum Enns, Orient Express – Beratungs‑, Bildungs- und Kulturinitiative für Frauen, Österreichisches Nationalkommitee für UNIFEM, proFRAU, Selbstbewusst – Verein für Sexualpädagogik und Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch, Sonne International, Sozialistische Jugend Linz-Süd, Sozialistische Jugend Österreich, UNICEF Österreich
Schon ein bisschen Nachdenken reicht aus, um die Meldung in Frage zu stellen. Schweden ist das Land in Europa, das als erstes 1982 explizit die weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation – FGM) unter Strafandrohung gestellt hat, in Österreich geschah das 2001. Seit 1999 ist in Schweden FGM auch strafbar, wenn sie im Herkunftsland ausgeführt wurde (in Österreich erst seit 2012). Aufklärung über FGM wird in Schweden sehr ernsthaft betrieben, dennoch gab es seit der Einführung der Strafbestimmungen bis heute zwei Verurteilungen.
Was also geschah tatsächlich in Norrköping? Die Stadt, die einen hohen Anteil an MigrantInnen vor allem aus afrikanischen Ländern hat, führt ein Pilotprojekt durch, in dessen Rahmen alle jungen Mädchen von schulischen Gesundheitsarbeiterinnen routinemäßig zu FGM befragt werden.
Im konkreten Fall waren die Mädchen Teil einer großen Gruppe von kürzlich aus Afrika eingewanderten Personen. Bei ihrer Befragung stellte sich heraus, dass 30 Mädchen im Alter von 13 bis 18 in ihren Herkunftsländern genitalverstümmelt worden waren, davon 28 in der besonders brutalen Variante der Beschneidung. Diese 30 Mädchen wurden in einer Gruppe zusammengefasst, um mit ihnen über ihre traumatischen Erlebnisse zu arbeiten.
Aus der Gruppe wurde im ersten Bericht des „Norrköpings Tidningar” eine Schulklasse und in späteren Berichten dann sogar die ganze Schulklasse, die in Norrköping genitalverstümmelt wurde.
Auch in Österreich haben faktisch alle Medien den irreführenden und falschen Agenturtext zu Norrköping übernommen. Die Webseite INHR, die wir hier schon kritisch beleuchtet haben, berichtete am 21.6.2014 über Norrköping. Der Text wich im Kern nicht von den anderen Falschmeldungen ab („Schweden: Ganze Mädchenklasse genitalverstümmelt“), übernahm den redaktionellen Text der „Kronen Zeitung” (20.6.14), in dem Außenminister Kurz zitiert wurd, der erklärt hatte, dass die Praxis von FGM „in keiner Religion begründet [sei] und (…) als Tradition abgelehnt werden [müsse]“.
Die Zahl von betroffenen Frauen und Mädchen in Österreich, die INHR nannte, wurde allerdings nach oben geschraubt: Es sind nicht bis zu 18.000 Frauen in Österreich von FGM betroffen, sondern nach Schätzungen, die aus den Quellen für andere Länder abgeleitet sind, bis zu 8.000 Frauen. Auch diese Zahl stützt sich nicht auf verlässliche Quellen aus Österreich.
Im Jänner 2015 griff der Rechtsextremist und Islamhasser Karl Michael Merkle, der unter dem Fakenamen‚ „Michael Mannheimer” einen Hetzblog betreibt, den Beitrag von INHR auf und gab ihm eine neue Richtung: Mit einem furchtbaren Foto, das Kleinstkinder zeigt, deren Genitalien blutverschmiert sind, illustrierte er am 23.1. 2015, also mehr ein halbes Jahr nach dem Erstbericht, seinen eigenen Bericht. Das Foto, das die Bildunterschrift trägt „Das alltägliche Genitalmassaker des Islam kostet laut UN-Berichten 2.000 so ‚beschnittenen’ muslimischen Mädchen das Leben. Tag für Tag“, hat mit Norrköping nichts zu tun. Die Bildquelle konnte nicht festgestellt werden, und damit ist auch unklar, ob es sich um ein bearbeitetes Foto handelt, bei dem das Blut nachträglich appliziert wurde (worauf einiges hindeutet).
Der Titel von Merkles Blog-Eintrags lautete: „Zur ‚Es-gibt-keine-Islamisierung’s‑Lüge: Ganze Mädchenklasse in Schweden genitalverstümmelt“. Titel und Bildunterschrift zu dem Foto machen also schon klar, wohin die Reise gehen soll: Der Islam soll für die Praxis von FGM verantwortlich gemacht werden. Und die Linken und Grünen Europas, deren „verlogene und heuchlerische Seite“ Merkle-Mannheimer auch bei FGM erkannt haben will: „[G]egenüber den 100.000 jährlichen ‚Ehren’ morden sowie den 700.000 Kollaterlopfern [sic!] der weiblichen Sexualverstümmelungen haben sie ihre Stimme (von wenigen Ausnahmen Einzelner einmal abgesehen) bislang nie ernsthaft erhoben.“
Mannheimers Lügen
Exakt das Gegenteil ist der Fall: Auf parlamentarischer Ebene haben SPÖ und Grüne schon in den 1990er-Jahren FGM zum Thema einer Enquete gemacht. Eine Plattform mit der Webseite „StopFGM“ kümmert sich seit 2003 um Aufklärung und Unterstützung von Anti-FGM-Projekten. Unterstützt wird die Plattform von SPÖ‑, ÖVP- und Grünen Frauen-Organisationen. Auch fünf weitere Einrichtungen kümmern sich um FGM, keine einzige darunter, die Rechten zugeschrieben werden könnte. Auch die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich beteiligt sich an der Aufklärung zu FGM. Rechte und rechtsextreme Organisationen und Personen haben keinerlei Initiative gegen FGM gesetzt.
Was Definition,Verbreitung und Praktiken von FGM betrifft, so liefert dazu Wikipedia einen umfassenden Eintrag, auch was die wichtigsten Gründe für die genitale Verstümmelung der Frauen betrifft: in erster Linie traditionelle Praktiken, die älter sind als Christentum und Islam sowie auch Kontrolle der weiblichen Sexualität. Die Zuordnung von FGM zu einer einzigen Religion, dem Islam, ist nicht möglich.
Mannheimer und nach ihm die vielen Islamhasser und Hetzer in den sozialen Netzwerken (wie etwa der FPÖ-Gemeinderat von Maria Lanzendorf, Erhard Brunner) verwenden einen irreführenden und in den Fakten falschen Bericht zu Norrköping, um ihm einen besonderen Spin zugeben: Hetze gegen den Islam und Hetze gegen Linke, Grüne und Frauen, denen Erhard Brunner als „Therapie“ eine FGM wünscht.
FB-Posting Brunners vom Jänner