Der Prozess, der am Dienstag mit dem Freispruch des Angeklagten endete, war vor fast einem Jahr, am 5.6.2013 vertagt worden. Damals war dem Antrag der Verteidigung stattgegeben worden, ein Gutachten aus dem Bereich Politikwissenschaft und Parteienforschung einzuholen – zum Beweis dafür, dass das NVP-Parteiprogramm nicht gegen das NS-Verbotsgesetz verstoße.
Diesen gutachterlichen Beweis lieferte am Dienstag der deutsche Politikwissenschafter Eckhard Jesse tatsächlich ab: „Der deutsche Gutachter Eckhard Jesse sah zum NSDAP-Programm keine Parallelen und auch keine rassistischen Äußerungen.“
SS-Schulungsprogramm (links), NVP-Programm (rechts)
Die NVP hatte, wie vor Jahren auch in Gerichtsverfahren festgestellt wurde, ganze Passagen ihres Parteiprogramms von einem „Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung in der SS und Polizei” übernommen – in langen Passagen wortident, manchmal nur mit geringfügigen Veränderungen: als „Blutsträgern“ wurden „Erbträger“ usw.
Im Prozess gegen die zwei NVP-Funktionäre Faller und Ruprechtsberger im März 2012 hatte Christian Hayer, der jetzt in Wiener Neustadt vor Gericht stand, die Verantwortung für die Erstellung des Parteiprogramms auf sich genommen und die einschlägigen Passagen als Versehen bezeichnet: Er habe nicht gewusst, dass diese Passagen von der SS stammten. Die beiden NVP-Funktionäre wurden jedenfalls – auch wegen ihrer Verantwortung für das Parteiprogramm – zu bedingten Haftstrafen (20 Monate) verurteilt. Hayer, der schon im September 2011 wegen NS-Wiederbetätigung verurteilt worden war, erhielt eine neue Anklage wegen seiner Verantwortung für das NVP-Programm. Schon zuvor war die Beschwerde der NVP gegen ihre Nichtzulassung zu den Landtagswahlen in Oberösterreich vom Verfassungsgerichtshof abgewiesen worden. Die Wahlbehörde hatte seine Entscheidung mit dem NS-Verbotsgesetz begründet und sich dabei auf das Gutachten des Linzer Universitätsprofessors Andreas Janko gestützt. in dem Prozess gegen Faller und Ruprechtsberger waren auch noch andere Gutachter wie etwa der Historiker Gerhard Botz beigezogen worden, die die Anklage stützten: „Der Aufbau des Papiers entspreche darüber hinaus dem Programm der NSDAP aus dem Jahr 1920“, erklärte der Gutachter des Landesarchivs OÖ laut „Standard“.
Eigentlich waren damit auch alle Fakten für den Prozess gegen Hayer auf dem Tisch – schließlich lagen ja schon entsprechende Urteile und Gutachten vor. Was letztendlich dazu geführt hat, dass das Gericht dem Antrag der Verteidigung entsprach, ein Gutachten zum Beweis zuzulassen, dass das NVP-Parteiprogramm nicht nationalsozialistisch ist„ wissen wir nicht. Jedenfalls wurde mit Eckhard Jesse als Gutachter einer der ganz wenigen im deutschsprachigen Raum gefunden, die diesem Auftrag entsprachen.
Faller bastelt sich seinen eigenen Nachruf
Nationalistisch und rechtsextrem, aber nicht rassistisch sei das NVP-Programm, so der Gutachter. Nur zum Kern der Anklage, den Passagen aus dem SS-Schulungsprogramm, hatte Jesse keine überzeugende Erklärung: „Der ‚wunde Punkt’ sei allerdings, dass jene zwei Seiten, die sich als Plagiat aus dem SS-Bildungspapier herausstellten, nach Bekanntwerden dieser Tatsache nicht herausgenommen wurden.“ So kann das Abschreiben vom SS-Schulungsprogramm auch verharmlost werden: als „wunden Punkt“, den man nicht weiter bewerten muss. Über Eckhard Jesse, den Gutachter, schreibt Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“:
Eckhard Jesse ist durch Verharmlosung rechtsextremer Umtriebe aufgefallen. 1990 schoss er sich in einem Aufsatz auf Heinz Galinski, den früheren Vorsitzenden des Zentralrates der Juden ein und meinte: „Auf Dauer dürfte Judenfeindlichkeit nicht zuletzt gerade wegen mancher Verhaltensweisen von Repräsentanten des Judentums an Bedeutung gewinnen.
Kritik an groben Antisemitismen beklagte er als „hysterische Reaktion”. Der genannte Aufsatz Jesses erschien in dem von ihm gemeinsam mit Uwe Backes und Rainer Zitelmann herausgegebenen Sammelband „Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus”, das als Standardwerk des gemäßigten Geschichtsrevisionismus gilt.
In diesem Buch werden „moralisierende Gesinnungsstatements” der Historiker ebenso gegeißelt wie deren „Pose des Anklägers” gegenüber den Akteuren des Dritten Reiches. In einem Artikel, den Jesse am Montag auf Seite 3 der „Welt” publiziert hat, behauptet er, das die Gefahr von rechts hochgespielt, die von links verharmlost würde: „Die Erosion der Abgrenzung zwischen demokratisch und extremistisch geschieht am linken, nicht am rechten Rand.”
Prantl hat seinen Beitrag im Jahr 2010 übertitelt mit „Bundesverfassungsgericht macht Bock zum Gärtner“. Das Landesgericht Wiener Neustadt hat mit dem Gutachter Jesse einen kapitalen Bock geschossen.
➡️ derstandard.at — Aufregung um Gutachter in Neonazi-Prozess