Der gute Mann und die alte Frau
Eine Frage, die ihm nicht gestellt wurde, beantwortet sich Kickl gleich im ersten Drittel seiner Monologe. Also: Warum tut sich Kickl das alles an, warum will er unbedingt Kanzler werden?
„… nicht weil ich selber unbedingt Bundeskanzler werden will, sondern weil einem das das Instrument in die Hand gibt, für die Bevölkerung Gutes zu tun …“
Tränen der Rührung steigen auf – so ein guter, selbstloser Mann! Klar, dass das die Menschen spüren, oder? Und daher verspürt er später auch den völlig selbstlosen Drang, eine Frau in Innsbruck, die ihn schon länger beobachtet hat, in ihren Worten und ohne jede Schmeichelei bestätigen zu lassen, wie wichtig einer wie er ist:
Sie hat irgendwie das Gefühl, dass es mich, ja, dass ich ein Fremdkörper bin in dieser Politik, dass es mich nicht zu jedem Mikrofon hinzieht, dass ich nicht bei jedem, sagen wir, wie man so schön sagt, Kuhaustreiben dabei bin, dass mir diese, diese ganze Welt der, der Schmeicheleien und der Wichtigtuerei, die vieles in der Politik prägt, dass mir das alles fremd ist.
Und als sich Kickl fragt, worauf ihre Analyse hinausläuft, soll sie ihm geantwortet haben: „Sehen Sie, deshalb sind Sie so wichtig!“ – Taschentuch, bitte!
Der unsaubere Journalismus als alte Unterstellung
Auf’s Framing kommt es an, das weiß der FPÖ-Chef. Und so inszeniert er sich selbst als den guten Menschen und den Interviewer als Teil eines angeblich lügenhaften Systems. 2023 kam Kickl damit noch etwas patschert rüber, indem er der Interviewerin Susanne Schnabl bzw. dem ORF unterstellte, etwas von seinen Antworten herausschneiden, also Zensur üben zu wollen. 2024 war der FPÖ-Obmann schon deutlich aggressiver, unterstellte Martin Thür mehrfach unsauberen Journalismus. und drohte dem ORF-Mann unverhohlen: „Jetzt müssen Sie ein bisschen vorsichtig sein! (…) Vielleicht werden Sie da jetzt bald einmal auch ein juristisches Problem bekommen, dann schauen wir einmal.“
Der Naturbursch und die Vogelperspektive
Wer würde Kickl widersprechen, wenn er für sich in Anspruch nimmt: „Ich glaube, es ist gut, sich in der Natur zu bewegen.“ Aber das hatten wir auch 2023 schon, als er festhielt: „Na ja, schauen Sie, ich bin gerne in der Natur unterwegs.“
Gut, soll nichts Schlimmeres passieren, als dass sich Kickl viel in der Natur bewegt. Ein ernsthafteres Problem wirft es allerdings auf, wenn er die Perspektive ins Spiel bringt: „Wenn man dann von oben hinunterschaut, schaut dann manches, was unten ganz groß ist und fast übermächtig, dann ein bisschen kleiner aus, das ist dann auch oft eine interessante Erfahrung.“ Wir erinnern uns an die kindliche Freude, als der eher kleine Innenminister ein Polizeipferd bereiten durfte und würden an dieser Stelle gerne an Psycholog*innen übergeben. Für den „kleinen Mann“, dem die FPÖ doch immer beizustehen verspricht, bedeutet die neue Kickl-Perspektive nichts Gutes.
+++ Doch keine Störaktion: Kickl reiste im Putin-Boot zu Sommergespräch an +++ pic.twitter.com/1D0FoY0TJV
— Die Tagespresse (@DieTagespresse) August 20, 2024
Die alte Erzählung im neuen Kleid
Schon 2023 stellte er sich und dem Publikum die rhetorische Frage: „Ja, warum kommen denn die Leute nicht nach Österreich, aus den anderen europäischen Ländern?“ Damals hatte er die falsche Ahnung, dass der 25-jährige ledige Schwede, den er gerne in der Tourismus-Branche arbeiten lassen wollte, hier deutlich weniger verdienen würde als zuhause. Ein Irrtum, den wir gerne aufgeklärt haben.
2024 kommt er wieder mit dem alten Sermon daher: „Und jetzt muss man sich doch als österreichischer Politiker die Frage stellen, was machen wir falsch, dass diese Leute nicht zu uns kommen? Warum kommen die nicht zu uns?“ War es 2023 noch die falsche Ahnung von den angeblich so hohen Steuern, so hat Kickl heuer die Lohnnebenkosten als den Grund identifiziert, warum „die zwölf, dreizehn Millionen Arbeitslose, die sich jederzeit frei bewegen dürfen innerhalb der Europäischen Union“, nicht zu uns kommen.
Die Lohnnebenkosten, das sind – von unbedeutenden Ausnahmen abgesehen – die Beiträge, die für die Sozialversicherung (Krankheit, Pension, Unfall), die Arbeitslosenversicherung und Sozialleistungen (Familienleistungen wie Familienbeihilfe, Insolvenzentgeltfonds usw.) vom Bruttolohn abgezogen werden bzw. als Dienstgeberbeiträge zu entrichten sind. Im Vorjahr schloss Kickl die Lohnnebenkosten als Grund für den Unwillen des ledigen 25-jährigen Schweden, in Österreich arbeiten zu wollen, noch aus: Es „kann also nicht an der Finanzierung des Sozialsystems liegen, das gibt es dort auch, ja?“
2024 hat Kickl seine Meinung total revidiert: „Und wissen Sie, was der Grund ist? Jetzt sind wir wieder bei dem, worüber wir am Anfang diskutiert haben, bei den Lohnnebenkosten, bei den Dingen, die man in Österreich bezahlt und anderswo nicht.“
Aber weil auch ein Kickl nicht gerne sagen will, wo bei den Lohnnebenkosten (bei den Pensionen, im Gesundheitssystem, bei der Pflege, bei den Familienleistungen?) er so kräftig reinschneiden will, dass sich die 12,13 Millionen Arbeitslose begeistert Richtung Österreich in Bewegung setzen, fällt ihm nur der dümmliche und hinterhältige Spruch ein, dass „diese Leute (…) kein Interesse daran [haben], mit ihrer Arbeitsleistung irgendwelche Leute, irgendwelche Islamisten zum Beispiel quer zu finanzieren, wo dann diese Fälle herauskommen mit 4.600 Euro in Wien.“ Ein Prachtbeispiel für rechte Hetze!
Erstens fallen die Aufwendungen für die von ÖVP und FPÖ ruinierte Mindestsicherung („Sozialhilfe neu“) nicht unter die Lohnnebenkosten, sondern werden aus Ländermitteln finanziert, zweitens ist die Verknüpfung, wonach diese Sozialleistung Islamisten wie die syrische Familie mit den sieben Kindern produziere, eine atemberaubende hetzerische Unterstellung.
Kickls neoliberale Milchmädchenrechnung
Kickls Entdeckung der Vogelperspektive, seine Verärgerung, wenn er oder die FPÖ aus vergangenen Jahren zitiert werden, sogar, wenn er als Sozialpolitiker im Jahr 2005 angesprochen wird: „Also 2005 ist schon ziemlich weit zurück. Zum Urknall könnten Sie vielleicht noch.“
Da tut sich etwas! Auch wenn Kickl es natürlich nicht so benennt, seine wirtschafts- und finanzpolitischen Vorschläge entstammen der neoliberalen Hexenküche. Die Steuer- und Abgabenquote auf unter 40 Prozent zu senken, kostet „so in etwa“ 17 Milliarden Euro. Wie will Kickl diese Einnahmenminderung gegenfinanzieren? Alles, was ihm dazu einfällt, ist, die Mindestsicherung zu einem „Privileg der österreichischen Staatsbürger“ zu machen und das Rüstungsprojekt „Sky Shield“ zu streichen.
Die Streichung der Mindestsicherung für alle Ausländer*innen (auch die EU-Bürger*innen?) wäre nicht nur verfassungs- und EU-rechtswidrig, sondern fällt auch nicht in die Kompetenz der Bundesregierung. Selbst wenn, würde sie nur 500–600 Millionen Euro bringen, abgesehen davon, dass 100.000 Menschen, darunter mehrheitlich Kinder, nichts zum Überleben hätten.
Aus dem Rüstungsprojekt „Sky Shield“, das vertraglich bereits paktiert ist, auszusteigen, ist noch weniger realistisch als der Eurofighter-Ausstieg war. Der würde sechs Milliarden Euro bringen – einmalig und nicht jedes Jahr! Da fehlen also einige Milliarden in der Gegenfinanzierung – eigentlich fast alle! Und, siehe da: Aus der Milchmädchenrechnung wird ein großes neoliberales Schwätzchen:
Wenn Sie hier mit Steuersenkungen arbeiten, bei den Unternehmenssteuern und dabei, wenn Sie mit steuerlichen Anreizen arbeiten für die Leistungsträger in diesem Land, dann kommt ein Teil davon natürlich auch wieder sozusagen indirekt in Steuersystem zurück. Da können Sie davon ausgehen, dass Sie damit etwa 30 bis 50 Prozent abdecken können.
Wir übersetzen: Steuersenkungen bei Unternehmenssteuern = höhere Unternehmensgewinne ohne Steuern. Steuerliche Anreize für die Leistungsträger = Entlastung der Spitzensteuersätze bei den Einkommen. Kommen dann wirklich 30–50 Prozent zurück? Nein! Was Kickl hier ohne Zitat nachbetet, sind die Rezepte aus der neoliberalen Hexenküche von Ronald Reagan („Reaganomics“) und „Trickle Down“-Voodoo-Ökonomie. Was ist mit dem Rest von 50–70 Prozent? Schweigen? Oder doch eher massiver Sozialabbau? Anzumerken ist, dass die nicht bzw. kaum gegenfinanzierten 17 Milliarden das Budgetdefizit von derzeit rund 13 Milliarden auf 30 Milliarden hochtreiben würde.
Literatur
Zwei Faktenchecks des „Standard“ zum Sommergespräch 2024 mit Kickl:
20.8.24: Massenüberwachung und erfundene Berichte? Einordnende Fakten zu einigen Kickl-Aussagen
20.8.24: Eckpunkte des FPÖ-Wirtschaftsplans: Wie viel Voodoo-Ökonomie steckt hinter Kickls Ideen?
Weitere Leseempfehlungen:
Der Standard (20.8.24): Eckpunkte des FPÖ-Wirtschaftsprogramms
kontrast.at (20.8.24): FPÖ-Wirtschaftsprogramm – Steuersenkungen für Reiche und Einsparungen bei Arbeitnehmern
wirtschaftsdienst.eu (2020): Reaganomics – Wegbereiter des Trumpismus
Wikipedia zum Begriff „Trickle-Down“