„Drecksfotze“, „Stück Scheiße“, „Schlampe“, „Geisteskranke“, Pädophilen-Trulla“ und noch einiges andere wurde die deutsche Grünen-Politikerin Renate Künast auf Facebook in verschiedenen Posts zu einem Kommentar beschimpft, in dem 2016 ein mittlerweile wegen Verhetzung, übler Nachrede, Körperverletzung verurteilter Rechtsextremer Künast mit einem Falschzitat der Sympathie für Pädophilie beschuldigt hatte. Es hat mehrere Jahre, etliche Urteile gegen Künast und damit viel Geld für anwaltliche Vertretung gebraucht, bis Künast nach einer Verfassungsbeschwerde vom Höchstgericht Recht erhielt und Facebook die persönlichen Daten der Hater freigeben musste.
Renate Künast hat sich gegen Diffamierung und Hetze erfolgreich gewehrt, aber bis zum Höchstgericht in den Urteilen lesen müssen, dass sie „als Politikerin in stärkerem Maße Kritik hinnehmen“ müsse als andere. Warum eigentlich?
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in etlichen Urteilen den Stellenwert des Rechts auf freie Meinungsäußerung erheblich gestärkt und dabei Politiker*innen und anderen „public figures“ abverlangt, dass sie ein erhebliches Ausmaß an Kritik und auch persönlichen Anwürfen aushalten müssen, wenn diese Kritik durch ein Tatsachensubstrat unterfüttert ist. Das ist gut und richtig.
Europäische Menschenrechtskonvention, Artikel 10
Verfassungsbestimmung: Die Europäische Menschenrechtskonvention ist gemäß BVG BGBl. Nr. 59/1964 mit Verfassungsrang ausgestattet.
Text Artikel 10 – Freiheit der Meinungsäußerung
(1) Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, daß die Staaten Rundfunk‑, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen.
(2) Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer unentbehrlich sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten.
Wenn etwa eine „public figure“ als korrupt oder als Lügner bezeichnet wird und das einigermaßen durch Fakten abgesichert ist, müsste wohl eine Klage dagegen erfolglos bleiben. Das gilt auch, wenn jemandem Nazi-Parolen oder die Verharmlosung von NS-Verbrechen vorgeworfen werden. Den Vorwurf, ein „Nichtsnutz“ oder ein „Bonze“ zu sein, wird man als Politiker*in wohl auch dann aushalten müssen, wenn er nicht durch Fakten unterlegt ist.
Wie aber ist es zu bewerten, wenn eine „public figure“ in einem einzigen Post als „Vaterlandsverräter“, „allerletzter Abschaum“, „kleiner, verlogener Nichtsnutz“ und „Arsch“ heruntergemacht wird – ohne geringste Fakten nachweisen zu können? Eine andere als „Vollkoffer und „billiger Lügner“, ein Dritter als „Geistesgestörter“ – einfach so? Wie damit umgehen, wenn eine Landeshauptfrau als „Bums-Dame“ sexistisch beschimpft wird oder eine Justizministerin als „vorbestrafte Islamistin“, die „nach Mauthausen“ gehöre?
Vielfach urteilen Gerichte so, als ob es sich bei den rechtsextremen Hetzern um Personen handeln würde, die einer berechtigten Emotion Ausdruck geben. Mit Verlaub, das ist bei den meisten eine zumindest naive Annahme. „Stoppt die Rechten“ dokumentiert seit 8. Mai täglich Hass- und Hetzkommentare von FPÖ-Aktivist*innen, die – zumeist ausgehend von Halbwahrheiten oder eindeutigen Fake-News – nur einen Zweck haben: nicht nur die angegriffene Person zu erniedrigen und entmenschlichen, sondern auch die Funktion oder Institution, in der sie tätig ist – egal, ob es sich um den Bundespräsidenten, die Obfrau der Neos oder einen Journalisten handelt.
Ich bin der Ansicht, fast alle hier bzw. die in unserer Reihe „Täglich 1 FPÖ-Fail“ genannten Fälle würden eine gerichtliche Würdigung verdienen. Aber die findet in der Regel nicht statt. Warum nicht?
Der richtige Grundsatz, dass Politiker und andere „public figures“ mehr Kritik aushalten müssen (weil sie in der Regel in der stärkeren Position sind), geht von einem einzelnen Bürger aus, der Kritik an einer bestimmten Situation oder Person äußert – und das auch emotional. Der Umstand, dass es mittlerweile und hauptsächlich organisierte rechtsextreme Netzwerke sind, die über neue Medien Fake-News und Hassbotschaften verbreiten und so ihre Wirkung potenzieren, ist bislang in der Strafverfolgung noch nicht wirklich angekommen.
Wenn von 100 Hasskommentaren schätzungsweise 95 weder gelöscht noch rechtlich verfolgt werden, dann läuft etwas gewaltig schief. Weil es Jahre dauert, viel Geld kostet und mit dem hohen Risiko behaftet ist, trotzdem nicht oder lange nicht recht zu erhalten, verzichten viele „public figures“ auf den mühsamen Rechtsweg.
Die rechtsextremen Netzwerke sehen sich dadurch bestätigt und verstärken ihre Hetze. Das führt dazu, dass die verbale Gewalt in physische umschlägt. Vor dieser Gefahr will man jetzt – nach etlichen politischen Morden und schweren Attacken – in Deutschland die „public figures“ durch besondere Strafbestimmungen schützen.
Das ist falsch! Richtiger wäre es, die gewaltigen Lücken bei der Strafverfolgung von Hass und Hetze zu schließen, die Sonderbehandlung von Politiker*innen und politischen Institutionen zu beenden und endlich den rechtsextremen Netzwerken den Kampf anzusagen!
➡️ Zur Causa Künast gegen Facebook https://www.haufe.de/recht/weitere-rechtsgebiete/strafrecht-oeffentl-recht/hass-posts-gegen-renate-kuenast-waren-beleidigung_204_560680.html
➡️ Ein exzellenter Podcast zum Thema Recht oder Gerechtigkeit in der Causa Renate Künast gegen Sven Liebich https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/skript-extrem-rechts-zwei-100.html