Missbrauch unserer Ängste
Beim Versuch, den aktuellen Rechtsextremismus zu erklären, wird oft von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen den angstmachenden großen Krisen, der Klimakrise, der Corona-Krise, dem Ukraine-Krieg, dem Kaufkraftverlust auf der einen Seite und der Faszination des Rechtsextremismus auf der anderen Seite, gesprochen. Es gibt hier aber eine Erklärungslücke. Es ist überhaupt nicht schlüssig, dass die Angst vor den realen großen Bedrohungen, welche wir haben (oder haben sollten), mehr oder weniger automatisch zu einer hasserfüllten Beschimpfung, Erniedrigung und Abschiebedrohung gegenüber einer Gruppe von ausgewählten Personen führt, vor denen man Angst haben soll und die als gefährlich gelten. Die Angst und die Aggression beziehen sich auf Menschen, die vor Jahren oder Jahrzehnten eingewandert sind – und daneben auch auf solche, die nicht unbedingt in den traditionellen Geschlechterrollen leben, stattdessen z. B. „gendern“ wollen. Es gibt hier einen Angstkomplex, den man mit Sigmund Freud nur als neurotische Angst im Unterschied zur Realangst bezeichnen kann.
Realangst ist überlebensfördernd. Ohne die Angst vor äußeren Gefahrenquellen würden wir blind in jede Gefahr hineinlaufen oder wären schon tot. Natürlich sind wir, wie unser jahrzehntelanger Umgang mit der Erderwärmung zeigt, auch gegenüber der Realangst große Künstler im Verleugnen und Bagatellisieren. Neurotische Angst oder „Binnenangst“ hingegen empfinden wir gegenüber unseren eigenen inneren Regungen: unserer Gier, aggressiven Größenphantasien, ungewollt auftauchenden obszönen Bildern und unseren Hirngespinsten. Wir haben ein beunruhigendes Wespennest in uns selbst. Die gefährlichen Seiten unserer inneren Natur projizieren wir aber lieber auf Personen und Gruppen in der Außenwelt, wo sie dann verfolgt und entschieden bekämpft werden. Damit bewegen wir uns im Feld der neurotisch-paranoiden Angst.
Neben der Realangst und der neurotischen Angst muss man aber noch die Gewissensangst ansprechen,laut Freud die dritte der menschlichen Grundängste. Diese Angst vor unserem Über-Ich wird von den neuen harten Machos wie Bernd Höcke (“Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken”) und Martin Sellner lächerlich gemacht. Sie soll durch eine notwendige „wohltemperierte Grausamkeit“ (Höcke) in Bezug auf Auszubürgernde und Hilflose ersetzt werden. Empathie und der “Schuldkult” (ebenfalls Höcke) sind out — das war etwas für Weicheier. Die äußeren Repräsentanten des Gewissens werden als „Gutmenschen“, als VertreterInnen eines „Tugendterrors“ und neuerdings auch einer aufdringlichen „Wokeness“ lächerlich gemacht und persönlich bedroht. Die neuen Scharlatane versprechen ihren AnhängerInnen ein unbeschwertes fröhliches Leben ohne den manchmal doch recht schweren Rucksack des Über-Ichs, des Gewissens.
Neid und Eifersucht
Der „Spiegel“ (31/2023, 10.8.23) wollte im Sommer 2023 die Attraktivität der Rechtsextremen in Ostdeutschland besser verstehen und hat dazu Gespräche geführt. Eine Frau auf der Straße findet Bernd Höcke gut. Denn [die Flüchtlinge] „bekommen alles bezahlt. Friseur, Wohnung. Unsereins muss arbeiten und kriegt nichts. Die sollen arbeiten gehen und nicht alles in den Arsch geschoben kriegen. (…) Ja mir geht es schlecht.“ Sie könne gerade nicht in den Urlaub fahren (…), „ich möchte mehr Geld haben und keine Steuern mehr zahlen“. Sie deutet auf eine Frau um die fünfzig, die mit ihrer Handtasche und einer Einkaufstasche über die Brücke geht. „[D]a sehen Sie, das ist bestimmt eine Ausländerin, nix zu tun.“ Das ist der Klassiker. Zahllose Statements von Anhängern der rechten Politik zeigen diese Dynamik: Es läuft mehr oder weniger auf die Behauptung hinaus: „Die kriegen alles und wir kriegen nichts!“ Man hat Angst, zu den Zurückgesetzten zu gehören. Dass ein Arbeitsverbot für Flüchtlinge herrscht, scheint unbekannt. Mit der Angst verbunden sind Gefühle von Neid und Eifersucht, die wir gelegentlich alle haben, über die man aber nur schwer kommunizieren kann. Neid sehen wir nur bei den anderen. Der eigene Neid ist tabu, eine der sieben Todsünden, in der christlichen Tradition ein schweres Vergehen. Man denke an Kain und Abel oder das neunte bzw. zehnte Gebot: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel“ usw.
Vor einigen Monaten erregte sich Friedrich Merz von der CDU über die vielen abgelehnten Asylbewerber, welche die notleidenden Inländer aus den Wartezimmern der Zahnärzte verdrängen. Der Berufsverband der deutschen Zahnärzte widerlegte umgehend dieses Hirngespinst. Das Eingeständnis des eigenen Neides ist eine Kränkung. Trotz oder gerade wegen der Tabuisierung führen unser Neid und das „grünäugige Monster Eifersucht“ (Shakespeare) ein Eigenleben, das sich von politischen Führern und Bewegungen leicht mobilisieren und mit einem Ruf nach Gerechtigkeit und Rache verbinden lässt. Rechte Demagogen zeichnen regelmäßig für das Publikum ein opulentes Bild von den „verbotenen Früchten“, welche die Flüchtlinge und die Eliten angeblich genießen. Der Ruf nach dem strafenden Robin Hood ist dann nicht weit.
Beim Neidkomplex in den rechten Bewegungen geht es mehr noch als um die materielle Versorgung um das knappe Gut der Aufmerksamkeit, welche die Flüchtlinge von den HelferInnen und von „denen da oben“ bekommen. Man denke an den rekordverdächtigen Shitstorm, welcher im Sommer 2015 über Angela Merkel und einen gerade angekommenen syrischen Kriegsflüchtling hereinbrach, nachdem ein Begrüßungs-Selfie mit den beiden durch das Internet ging. Es schien so, als würde Mama Merkel die Neuankömmlinge mehr würdigen und verhätscheln als uns Alteingesessene, die sich Jahrzehnte lang bemüht haben. Das verdient wütenden Protest.
Im Herbst 2017 plakatierte die niederösterreichische FPÖ die ÖVP-Landeshauptfrau, damals noch politische Gegnerin, als „Moslem-Mama Mikl-Leitner“, die sich um aufdringliche Ausländer kümmert. – Überhaupt: Kennen Sie diese kleinen Fremdlinge, die, ohne dass man uns gefragt hat, einfach in unsere Welt gekommen sind, überhaupt kein Deutsch können, stattdessen zunächst nur unverständliche Laute von sich geben und trotzdem sofort von elternartigen Figuren total versorgt und verwöhnt werden, während wir Ältere bereits im Haushalt mithelfen und für die Schule arbeiten müssen. Man wünscht sich manchmal, dass die Neulinge dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen sind. Der Klapperstorch nimmt sie aber nicht zurück. Es ist der Neid auf die nach uns gekommenen Geschwister und auf andere kleine Kinder, der dem Zorn über die Eindringlinge aus der Fremde zugrunde liegt. Sie bekommen ja auch umgehend „alles hineingeschoben“. Vater und Mutter scheinen sie lieber zu haben als die Älteren, die schon länger fleißig sind und ihre Pflichten erfüllen. Jedes Jahr kommen Millionen von diesen “Einwanderern in unser Sozialsystem“ hinzu.
Der Hass auf die Helferinnen und auf “die da oben” ist manchmal sexualisiert: Peter Boehringer, immer noch hochrangiger AfD-Abgeordneter, hatte Anfang 2016 über Angela Merkel geschrieben: „Die Merkelnutte lässt jeden rein, sie schafft das. Dumm nur, dass es unser Volkskörper ist, der hier gewaltsam penetriert wird.“ (Der Spiegel 3.3.2018, S. 32) Die rechtsextreme Rhetorik scheint generell nicht davor zurückzuschrecken, die verbotenen Früchte mit Bildern von verpönter Sexualität in Verbindung zu bringen. Den Helferinnen wird manchmal unterstellt, dass sie sexuelle Beziehungen zu Flüchtlingen aufnehmen. Als Strafe wird ihnen in den sozialen Medien oftmals eine Gruppenvergewaltigung durch Flüchtlinge an den Hals gewünscht.
Angststaubsauger mit Deckschleuder
Die rechtsextremen Demagogen arbeiten damit, dass sie alle möglichen in der Gesellschaft herumgeisternden Ängste, darunter auch Realängste, systematisch aufgreifen und in neurotisch-paranoide Ängste transformieren. Die Ängste werden von den Demagogen mit großer psychologischer Sensibilität aufgespürt, wie mit einem Staubsauger eingesammelt und mit Hirngespinsten vermengt. Die Ängste werden dabei konkretisiert und personalisiert. Man nennt einige konkrete Personen oder überschaubare Gruppen (Eliten, Verschwörer, Flüchtlinge), deren Bestrafung oder Beseitigung die angstmachenden Missstände umgehend beenden würde. Es wird so getan, als ob es nur einige wenige dingfest zu machende Ursachen für die Angst gäbe, welche von einer Gruppe beherzter Personen rasch beseitigt werden können, zum Beispiel durch den Sturm auf das Machtzentrum. Die für die Missstände angeblich Verantwortlichen können dann aufFahndungslisten gesetzt werden. Im Staubsauger entsteht eine toxische Mischung aus Realängsten, neurotisch-paranoider Angst und Wut.
Der Angststaubsauger ist mit einer Art Dreckschleuder verbunden, mit der man auf bestimmte Personen und Gruppen zielt. Dabei ist es praktisch, wenn man die ausgewählten Gruppen mit entwertenden Namen wie „Asylbetrüger“, „Mastdarmakrobaten in der EU“, „Feministen-Gender-Woke-Geschwader“ belegen kann. Politische Mitbewerber werden von Kickl zum „Swingerclub der Machtlüsternen“ erklärt, gehören wie gesuchte Verbrecher „auf die Fahndungsliste“ oder sind „Folterknechte“.
Den Bundespräsidenten nennt Kickl „senil“ und „Mumie in der Hofburg“. Den Namen des aktuellen SPÖ-Chef verballhornt er zu „Herrn Blabla“. Einen früheren Kanzler nennt er „dicke, rote, fette Spinne“. Er machte sich über die Gesichtsfarbe eines Parlamentariers und über dessen vermutlich hohen Blutdruck lustig, über einen älteren ÖVP-Politiker, dessen Erscheinung er mit Ötzi verglich und mit einem „Verstorbenen, der nur noch zuckt“. Kickl hebt das Übergewicht und die physische Unattraktivität von Arbeitnehmervertretern hervor („Alle dick, statt ausgemergelt“). Ein prominenter Politiker aus dem grünen Spektrum, der über die FPÖ recherchiert, habe vom vielen Sitzen schon „einen Hintern rot wie ein Pavian“. (Rede in Hartberg, 23.9.2019) und die Sprecherin einer anderen Partei „mehr Haar‘ auf den Zähnen als auf dem Kopf“. Auf die verbale Erniedrigung, Kriminalisierung und Dehumanisierung des Gegners reagiert das Publikum immer wieder mit Lachsalven und Schenkelklopfen. Durch die spontane Eruption von Schadenfreude erodieren in Sekundenschnelle die Reste der Gewissensangst, welche in unserer zivilisierten Alltagskommunikation die Verletzungsbereitschaft gegenüber anderen Menschen normalerweise noch unter Kontrolle hält. Bevor sich das Gewissen meldet, hat man schon gelacht.
Die Verspottung von körperlichen Mängeln
Auffällig ist die Hervorhebung von körperlichen Mängeln und Schwächen auf Seiten der Erniedrigten. Donald Trump ist in dieser Disziplin Weltmeister. Er hat es sogar fertiggebracht, sich über den Mitbewerber und Kritiker McCain, der Kriegsinvalide war, vor und nach dessen Tod noch lustig zu machen.
Warum ist das Verspotten von Menschen mit körperlichen Schwächen so erfolgreich? Die meisten von uns fühlen sich manchmal oder dauerhaft zu klein, zu groß, zu dick, zu dünn, zu wenig männlich oder zu wenig weiblich, zu unsportlich, zu faltig, zu alt, zu hässlich. Ich habe eine Patientin kennengelernt, über die in einer Gruppe von Klassenkameradinnen gesagt wurde: Wenn ein Lastwagen über sie fährt, bleibt nur ein großer Fettfleck. Daraufhin wollte die junge Frau sich umbringen, was sie aber zum Glück nicht gemacht hat. Früher haben PsychologInnen und TherapeutInnen vor allem bei Frauen die Diagnose einer „Dysmorphophobie“ (Angst vor Missgestaltigkeit) gestellt. Heute betrifft sie immer mehr Männer. An dieser Angst verdienen mittlerweile ganze Wirtschaftszweige: von der Kosmetik- und Pharmaindustrie über die Schönheitschirurgie, Diät- und Modeindustrie bis hin zu den zahllosen Fitness-Zentren. Das Verdecken, die Verhüllung und Kompensation unserer äußerlichen Körpermängel nimmt viel Energie und Zeit in Anspruch. Sozialpsychologen sprechen vom „Stigma-Management“. Es wird dann als temporäre Entlastung erfahren, wenn von einem Redner die Mängel bei anderen Personen hervorgehoben und mit bösem Witz verspottet werden. Man darf sich dann zumindest für einige Minuten als völlig normal und perfekt fühlen.
Heiler und Held in Zeiten von Corona
Vor allem in der Corona-Zeit gelang es Kickl, sich als Heiler von Ängsten um die Gesundheit zu inszenieren. Viele Menschen haben unangenehme Erinnerungen an das Geimpftwerden, das sie als Kinder erlebt haben. Es tat weh. Eltern und Ärzte haben sie dabei festgehalten und in einer Art Überraschungsangriff einen unbekannten Stoff introjiziert. Die meisten Menschen haben etwas gegen physische und auch psychische Introjekte, die ihnen unter die Haut gehen. Andreas Gabalier fungierte zeitweise als Volkes Stimme: „Ich glaube, dass man uns als Kind viel zu viel hineingespritzt hat. Das weiß man ja heute. Vom Hausverstand her glaube ich, dass ein Medikament, das bei schweren Verläufen hilft, besser wäre.” (zit. nach kurier.at, 15.1.2021) Eingeimpft oder introjiziert, wie die Psychologen sagen, wurden auch Regeln und Merksätze, die uns vielleicht zu brav und unterwürfig gemacht haben.
Auch gewalttätige Erzieher-Figuren, die einen zu lange von innen gesteuert haben, können als Introjekte empfunden werden, auf die man später wütend wird und die man am liebsten loswerden möchte. (“Da geht einem ja das Geimpfte auf!”) Zudem gibt es eine berechtigte Angst vor ungewollter Penetration und zwar in einem wörtlichen und in einem übertragenen Sinn. Kickl nannte die Impfung eine “Vergewaltigung”. Auf die Radikalität der Wortwahl angesprochen, zeigte er sich als durchaus feinfühliger Psychologe: „Für mich ist das ein zulässiges Bild dafür, dass einem Menschen mit dieser Impfung etwas widerfährt, eine Form von Gewalt und Verletzung körperlicher Unversehrtheit. Dieser Zwang kann ja auch psychologisch sein.“ (Kleine Zeitung, 6.11.21)
Es geht um unsere Angst vor der Verletzung körperlicher Unversehrtheit, die ja in der Corona-Zeit wirklich bedroht war. Bruchstücke von aktueller realistischer Angst und von früheren biographischen Verletzungen wurden eingesammelt, mit neurotischer Angst vermengt und auf angeblich böswillige Personen umgelenkt: auf die „Impfmafia“, auf ihr hörige Politiker, Ärzte, Bill und Melinda Gates usw., die sich angeblich verschworen haben, um die körperliche Integrität der kleinen Leute zu unterwandern, in sie einzudringen und sie zu steuern.
Herbert Kickl empfahl statt der Impfung und der Maskenpflicht Präventionsmaßnahmen, die das Immunsystem stärken sollen: “Es gibt viele Möglichkeiten, etwa Vitaminpräparate, die Empfehlung, mit Bitterstoffen zu arbeiten, sich möglichst viel an frischer Luft zu bewegen und einen zwischenmenschlichen Umgang zu pflegen, der nicht von Angst dominiert ist.” Er gab sich, ähnlich wie Trump, als unverletzlicher Held. Mit seinen alternativmedizinischen Ratschlägen “überschritt er die Grenze zum Obskurantismus” (Hans Rauscher). Wiederholt empfahl Kickl dem Publikum das Entwurmungsmittel Ivermectin, das bei Pferden und Hunden verwendet wird, aber für die Covid-19-Behandlung nicht zugelassen ist. Ärztliche Experten, die WHO und auch der Hersteller warnten eindringlich vor seinem Einsatz beim Menschen. Trotzdem fand das Mittel monatelang reißenden Absatz. In Oberösterreich gab es Ende Oktober 2021 den Fall einer ganzen Corona-infizierten Familie, die als Impfgegner an die Wirkung von Ivermectin geglaubt hatte, schwer erkrankte und ins Krankenhaus musste. Zwei Familienmitglieder starben.
Identität als Irrlicht
Die rechten Demagogen betätigen sich nicht nur in Bezug auf die körperliche und psychische Gesundheit der Menschen als Ratgeber, sondern sie verbreiten auch auf der großen Bühne der nationalen und internationalen Politik ein umfassendes Heilungsversprechen. Sie versprechen nicht mehr und nicht weniger als die Herstellung oder Wiederherstellung von „Identität“. Haben wir nicht alle manchmal das Gefühl, unsere Identität verloren zu haben oder zerrissen zu sein? Identität ist doch etwas Gutes. Die „Identitären“ haben unter dem Schutzschirm von FPÖ und AfD in den letzten zwölf Jahren und unter dem Deckmantel der akademischen Sprache einen Identitätsbegriff verbreitet, der schwachsinnig, unpraktikabel und gefährlich ist.
Nachdem im Frühjahr 2019 bekannt geworden war, dass der Massenmörder von Christchurch sich positiv auf die Ideen der Identitären bezogen und Martin Sellner Geld gespendet hatte, gab es nur eine kurze öffentliche Distanzierung der FPÖ. Die Fraktion der rechten Parteien im europäischen Parlament nannte sich schon bald danach großspurig „Identität und Demokratie“. Der harmlos klingende Begriff der Identität hat sich bis weit in die Programme der rechtskonservativen Parteien hinein ausgebreitet, wo er sich mit dem eher hilflosen Bemühen um die Definition einer Leitkultur verbindet. Die Rechtsextremen scheinen hier bereits die von ihnen angestrebte „kulturelle Hegemonie“ (Antonio Gramsci) errungen zu haben.
Das Konzept der Identität hat erst Ende der 60er Jahre über den Psychoanalytiker Erik H. Erikson Eingang in die Psychologie und Humanwissenschaften gefunden. Es kann sinnvoll mit Selbstgefühl, Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit übersetzt werden. Im Bildungssystem der 70er und 80er Jahre stand „Identität“ für die Entwicklung einer emanzipatorischen Beziehung des Menschen zu sich selbst. Diese Beziehung eröffnet im Verlauf der Lebensgeschichte Möglichkeiten der Selbstreflexion und Selbstkritik. Das ist so ziemlich das Gegenteil einer einfachen, bekenntnishaften Gruppenzugehörigkeit, wie sie den Rechten vorschwebt. Die Entstehung und Ausgestaltung von Identität sind vielfach untersucht worden.
Eine gute Basis von Identität sind bekanntlich Liebe und Vertrauen in unsere frühen familialen Bezugspersonen („Urvertrauen“). Soziale Anerkennung in Gruppen spielt bald eine Rolle, auch die Zugehörigkeit zu einer Nation, Religion oder kulturellen Gruppe. Zu einer stabilen und flexiblen Identität („Ich-Identität“) gehört aber immer auch das Ausbalancieren von verschiedenen („multiplen“) Gruppen-Zugehörigkeiten und von teilweise sehr unterschiedlichen Teilidentitäten. Um seine Identität zu erhalten, muss man sich oft genug vom aktuellen Gruppenkonformismus klar abgrenzen. Manchmal auch mit Ironie oder „Rollendistanz“. Man muss so sein zu wie alle anderen und zugleich so sein wie kein anderer. Manche Menschen, z. B. Künstler, finden ihre Identität erst, wenn sie radikal aus einer oder mehreren Gruppenzugehörigkeiten aussteigen.
Die soziale Gruppenidentität ist immer nur ein Aspekt. Für die Entwicklung von Identität und für unsere Selbstfindung sind eine menschenwürdige Arbeit und das Erleben von Kreativität in Handwerk und Kunst genauso wichtig oder wichtiger als die jubelnde Zugehörigkeit zu einer der großen Gruppen. Unsere Identität als Geschlechtswesen beruht nicht auf irgendeiner inneren Substanz als Mann oder Frau, sondern auf einem Sozialisations- und sozialen Definitionsprozess. Frei nach Simone de Beauvoir: „Man wird nicht als Frau (oder Mann) geboren, man wird es.“ Und kann sich in und zwischen diesen Rollen weiter selbst definieren, auch umdefinieren. Für die Rechtsextremen ist das unsäglich. Ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung einer humanen Identität wäre auch ein akzeptierender Umgang mit den eigenen und fremden „Stigmata“, mit den Abweichungen von der angeblichen Normalität der Mehrheit. Rechtsextreme betreiben, wie gezeigt, das Gegenteil.
Die Rechtspopulisten und Rechtsextremen propagieren die Zugehörigkeit zu einer einzigen ethnisch homogenen Großgruppe als den allein glücklich machenden Weg zur Identität. Dabei wird mit einer auffälligen Penetranz die Überlegenheit der eigenen Großgruppe über andere Gruppen betont und skandiert: „America first!“, „Unser Land zuerst!“, „Zuerst Italien und die Italiener“, „Ungarn an erster Stelle!“, „Britain first!“, „Les Français d’abord!“ usw., usw.. Das relativiert sich eigentlich wechselseitig. Man kann sich das Gedränge vorstellen, wenn alle Rechtsextremen auf einem Platz versammelt wären. Orbáns Programm ist von dem der Identitären nicht zu unterscheiden. Orbán ist erklärtes Vorbild für Kickl. Auch in Putins Russland herrscht ein Konzept von Identität – explizit nachlesbar bei Putins Hofphilosophen Alexander Dugin –, bei dem die Größe des Landes alles ist und die Würde des verletzlichen Individuums nichts. Dass unsere Rechtsextremen alle „Russlandversteher“ sind, versteht sich fast von selbst. Auch im Kampf gegen die „Gender-Ideologie“ sind inzwischen alle vereint.
Die Identitären haben auch den egriff des „Ethnopluralismus“ geschaffen, welcher sich erst einmal harmlos und akademisch anhört, aber nichts anderes meint, als dass es verschiedene Ethnien gibt, die aber bitte getrennt leben und sich nicht vermischen sollen. Das dominante Volk muss reingehalten werden. Donald Trump: „Einwanderer vergiften das Blut unseres Landes.“ Die Reinzucht, von der die Identitären träumen, kann nur gelingen, wenn es im Land getrennte Territorien für unterscheidbare Ethnien gibt, oder wenn die Einwanderer und ihre Nachkommen von der dominanten Ethnie zur Auswanderung oder „Remigration“ gedrängt werden.
Zur identitären und rechtsextremen Rhetorik gehört auch noch die behauptete Bedrohung durch einem „Bevölkerungsaustausch“, den George Soros oder finstere Eliten auf Kosten der Einheimischen planen. Das FPÖ-Urgestein Andreas Mölzer hat immer wieder von „Umvolkung“ gesprochen. Natürlich droht allen Lohnabhängigen im Kapitalismus immer ein Ausgetauschtwerden, wenn andere Arbeitskräfte billiger, kompetenter, jünger sind als sie, wobei Hautfarbe und Migrationshintergrund für die Unternehmer selten eine Rolle spielen. Das sind objektive Mechanismen, vor denen man Angst haben kann. Die Behauptung, dass hinter dem Austausch ein geheimer Plan steht, ist aber ein neurotisch-paranoides Hirngespinst, das zur Aufhetzung der Betroffenen dient.
Die Folgen einer Identitätspolitik durch ethnische Säuberung haben wir in den 90er Jahren in Jugoslawien und in Ruanda, kürzlich auch in Myanmar erlebt. Für die geplante „Remigration“ hatte Martin Sellner auf der denkwürdigen rechten Tagung in Potsdam im November 2023 schon einen Stufenplan vorgelegt. Zielland soll Nordafrika werden. Der Identitätswahn ist nicht nur unpraktikabel und lebensgefährlich. Er hat offenbar auch die Fähigkeit zum Kopfrechnen vernichtet. Ein Viertel der Bewohner von Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Wenn man die gemischten Partnerschaften, Freunde und Unterstützer hinzuzählt, sind es noch einmal viel mehr. Wohin mit all denen? Mit den Millionen von Menschen, die Anfang 2024 gegen das rechtsextreme Projekt auf die Straße gingen, hatten Sellner und seine Unterstützer in AfD und FPÖ nicht gerechnet.
„Man hat es wissen können.“
Zu Beginn der Amtszeit von Donald Trump haben 27 bekannte PsychologInnen und PsychiaterInnen in den USA davor gewarnt, dass mit Trump ein Mann mit den Charakterzügen eines bösartigen („malignen“) Narzissmus und mit asozialen Neigungen ins Präsidentenamt kommen würde. Man hat die ExpertInnen kritisiert, weil sie damit gegen eine ältere Regel (die „Goldwater Rule“) verstoßen hätten, die besagt, dass man über lebende Politiker in der Öffentlichkeit keine psychologischen oder psychiatrischen Diagnosen verbreiten darf. Außerdem wisse man noch gar nicht, wie sich die kritisierten Eigenschaften in der realen Amtsführung zeigen würden. Es werde vielleicht nicht so schlimm. Nachher kam aber alles noch viel schlimmer. Inzwischen weiß dank Trump die ganze Welt, was bösartiger Narzissmus ist. Die menschenfeindlichen Züge des neuen Rechtsextremismus und die psychologischen Tricks, mit denen Herbert Kickl das Publikum zur einer Selbsterhöhung sowie zur Erniedrigung und Verfolgung anderer einlädt, sind jetzt schon gut sichtbar und erklärbar. So kompliziert sind die Tricks, die an unsere niedrigsten Instinkte appellieren, nicht.
Es stehen in Österreich wie auch in den USA und Deutschland Wahlen an. Man sollte vorher wissen, wes Geistes Kind der angekündigte Volkskanzler oder Erlöser ist, bei dem man sein Kreuz macht. PsychologInnen und PsychotherapeutInnen können und sollten öffentlich den rechtsextremen und identitären Ungeist benennen, der nicht nur die Demokratie, sondern auch die Gesundheit von Menschen gefährdet.
Klaus Ottomeyer, geb.1949, ist Sozialpsychologe und Psychotherapeut. Er war bis 2013 Ordentlicher Professor an der Universität Klagenfurt.