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Drastische Zunahme antisemitischer Vorfälle 2021

Der Befund des Anti­se­mi­tis­mus­be­rich­tes für das Jahr 2021 ist alar­mie­rend und depri­mie­rend, aber auch nicht über­ra­schend. In der Kri­se bedie­nen sich wie­der mehr am Sün­den­bock Juden­tum. Depri­mie­rend dar­an ist unter ande­rem, dass sogar die neu­er­li­che Ver­brei­tung der Pro­to­kol­le der Wei­sen von Zion, anti­se­mi­ti­scher Urdreck, gläu­bi­ge Abnehmer*innen fin­det. Beson­ders alar­mie­rend sind der Hass und die Gewalt, […]

16. Mai 2022
Beitragsbild Sockel Lueger-Denkmal Schande (© SdR)
Beitragsbild Sockel Lueger-Denkmal Schande (© SdR)

Gegen­über dem Vor­jahr 2020 stellt der Bericht der Anti­se­mi­tis­mus-Mel­de­stel­le der IKG für das Jahr 2021 einen Anstieg um rund 60 Pro­zent fest – in abso­lu­ten Zah­len von 585 auf 965 Vor­fäl­le. Dazu muss ange­merkt wer­den, dass es sich dabei „nur“ um Vor­fäl­le han­delt, die der IKG bekannt­ge­wor­den sind. Mit gro­ßer Gewiss­heit darf ange­nom­men wer­den, dass es genü­gend Ecken und Gegen­den in Öster­reich gibt, wo die Bereit­schaft, anti­se­mi­ti­sche Vor­fäl­le als sol­che zu erken­nen und an die Mel­de­stel­le der IKG zu berich­ten, eher gegen Null geht.

Die Wahr­neh­mun­gen von Anti­se­mi­tis­mus sind sehr unter­schied­lich und rei­chen bis zur Opfer-Täter-Umkehr (Frei­heit­li­che als „neue Juden“), der Instru­men­ta­li­sie­rung des Holo­caust („Juden­stern für „Unge­impf­te“) und dem zynisch-dre­cki­gen Sager des rus­si­schen Außen­mi­nis­ters Law­row (Hit­ler habe jüdi­sches Blut gehabt und die „eif­rigs­ten Anti­se­mi­ten sind oft selbst Juden“).

Meldungen antisemitische Vorfälle 2008 bis 2021 (2018 keine Daten; Grafik SdR)
Mel­dun­gen anti­se­mi­ti­sche Vor­fäl­le 2008 bis 2021 (2018 kei­ne Daten; Gra­fik SdR)

Die IKG benutzt für die Defi­ni­ti­on von Anti­se­mi­tis­mus den ers­ten Absatz des Beschluss­tex­tes der Inter­na­tio­nal Holo­caust Remem­brance Alli­ance (IHRA), der da lautet:

Anti­se­mi­tis­mus ist eine bestimm­te Wahr­neh­mung von Juden, die sich als Hass gegen­über Juden aus­drü­cken kann. Der Anti­se­mi­tis­mus rich­tet sich in Wort oder Tat gegen jüdi­sche oder nicht­jü­di­sche Ein­zel­per­so­nen und/oder deren Eigen­tum sowie gegen jüdi­sche Gemein­de­in­sti­tu­tio­nen oder reli­giö­se Ein­rich­tun­gen. Dar­über hin­aus kann auch der Staat Isra­el, der dabei als jüdi­sches Kol­lek­tiv ver­stan­den wird, Ziel sol­cher Angrif­fe sein.

Was an die­ser knap­pen Defi­ni­ti­on noch unge­nau ist, wird durch die fol­gen­den Bei­spie­le viel deutlicher:

Der Auf­ruf zur Tötung oder Schä­di­gung von Juden im Namen einer radi­ka­len Ideo­lo­gie oder einer extre­mis­ti­schen Reli­gi­ons­an­schau­ung sowie die Bei­hil­fe zu sol­chen Taten oder ihre Rechtfertigung. 

Fal­sche, ent­mensch­li­chen­de, dämo­ni­sie­ren­de oder ste­reo­ty­pe Anschul­di­gun­gen gegen Juden oder die Macht der Juden als Kol­lek­tiv – ins­be­son­de­re aber nicht aus­schließ­lich die Mythen über eine jüdi­sche Welt­ver­schwö­rung oder über die Kon­trol­le der Medi­en, Wirt­schaft, Regie­rung oder ande­rer gesell­schaft­li­cher Insti­tu­tio­nen durch die Juden. 

Das Ver­ant­wort­lich­ma­chen der Juden als Volk für tat­säch­li­ches oder unter­stell­tes Fehl­ver­hal­ten ein­zel­ner Juden, ein­zel­ner jüdi­scher Grup­pen oder sogar von Nicht-Juden. 

Das Bestrei­ten der Tat­sa­che, des Aus­ma­ßes, der Mecha­nis­men (z. B. der Gas­kam­mern) oder der Vor­sätz­lich­keit des Völ­ker­mor­des an den Juden durch das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Deutsch­land und sei­ne Unter­stüt­zer und Kom­pli­zen wäh­rend des Zwei­ten Welt­krie­ges (Holo­caust).

Der Vor­wurf gegen­über den Juden als Volk oder dem Staat Isra­el, den Holo­caust zu erfin­den oder über­trie­ben darzustellen. 

Der Vor­wurf gegen­über Juden, sie fühl­ten sich dem Staat Isra­el oder angeb­lich bestehen­den welt­wei­ten jüdi­schen Inter­es­sen stär­ker ver­pflich­tet als den Inter­es­sen ihrer jewei­li­gen Heimatländer. 

Das Aberken­nen des Rechts des jüdi­schen Vol­kes auf Selbst­be­stim­mung, z. B. durch die Behaup­tung, die Exis­tenz des Staa­tes Isra­el sei ein ras­sis­ti­sches Unterfangen. 

Die Anwen­dung dop­pel­ter Stan­dards, indem man von Isra­el ein Ver­hal­ten for­dert, das von kei­nem ande­ren demo­kra­ti­schen Staat erwar­tet oder gefor­dert wird. 

Das Ver­wen­den von Sym­bo­len und Bil­dern, die mit tra­di­tio­nel­lem Anti­se­mi­tis­mus in Ver­bin­dung ste­hen (z.B. der Vor­wurf des Chris­tus­mor­des oder die Ritu­al­mord­le­gen­de), um Isra­el oder die Israe­lis zu beschreiben. 

Ver­glei­che der aktu­el­len israe­li­schen Poli­tik mit der Poli­tik der Nationalsozialisten. 

Das kol­lek­ti­ve Ver­ant­wort­lich­ma­chen von Juden für Hand­lun­gen des Staa­tes Isra­el.

Auch bei der Kate­go­ri­sie­rung anti­se­mi­ti­scher Vor­fäl­le über­nimmt die Mel­de­stel­le der IKG seit 2019 die von EUMC geschaf­fe­nen Kri­te­ri­en, was in der Zukunft eine inter­na­tio­na­le Ver­gleich­bar­keit erleich­tern soll­te. Der Ver­gleich der anti­se­mi­ti­schen Vor­fäl­le des Ver­ei­nig­ten König­reichs (UK, Eng­land, Schott­land, Wales und Nord­ir­land, 67 Mio. Einwohner*innen) mit denen des wesent­lich klei­ne­ren Öster­reich (9 Mio) zeigt aller­dings schon die dra­ma­ti­sche Ent­wick­lung in Öster­reich auf.

Jahr Öster­reich UK
2019 550 1805
2020 585 1668
2021 965 2055

 

Im Bericht für 2021 sind auch wei­te­re Län­der ange­führt. Bay­ern mit sei­nen rund 13 Mil­lio­nen Einwohner*innen kommt auf 447 Vor­fäl­le, Ita­li­en auf ins­ge­samt 226.

antisemitische Vorfälle Ö, Ita, Bayern und UK (Grafik Bericht IKG 2021, S. 21)
anti­se­mi­ti­sche Vor­fäl­le Ö, Ita, Bay­ern und UK (Gra­fik Bericht IKG 2021, S. 21)

Die Reak­tio­nen der poli­ti­schen Par­tei­en in Öster­reich auf die Zah­len des Anti­se­mi­tis­mus­be­richts sind übri­gens sehr bezeich­nend. Wäh­rend sich SPÖ (Petra Bayr , Sabi­ne Schatz), Grü­ne ( Eva Blim­lin­ger) und Neos (Ste­pha­nie Kris­per) zumin­dest dar­in einig sind, dass „Han­deln“ das Gebot der Stun­de sei, dar­über hin­aus auch mehr Auf­klä­rung und Prä­ven­ti­on gefor­dert wird, strebt Innen­mi­nis­ter Ger­hard Kar­ner (ÖVP) nur eine „enge Ver­net­zung aller Akteu­re“ , also poli­zei­li­che Maß­nah­men, an. Bun­des­mi­nis­te­rin Edt­stad­ler (ÖVP) ver­weist in ihrer Pres­se­aus­sendung in ers­ter Linie auf die unter ihrem Vor­sitz durch­ge­führ­ten Maß­nah­men der „Natio­na­len Stra­te­gie gegen Anti­se­mi­tis­mus“ und lädt „hoch­ran­gi­ge Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­ter“ zu einer euro­päi­schen Kon­fe­renz gegen Anti­se­mi­tis­mus. Von der Par­tei, die sich im Zusam­men­hang mit anti­se­mi­ti­schen Vor­fäl­len am meis­ten ange­spro­chen füh­len soll­te, der FPÖ, kommt auch in die­sem Jahr kei­ne offi­zi­el­le Stel­lung­nah­me zu dem Thema.

Erfreu­li­cher­wei­se han­deln nun Aktivist*innen aus der Zivil­ge­sell­schaft. Die Initia­ti­ve PLATZ DA! star­te­te gemein­sam mit den Jüdi­schen Öster­rei­chi­schen Hochschüler*innen (JöH) ab 16.5.22 mit Pro­test­le­sun­gen gegen den Lue­ger-Platz und das Lue­ger-Denk­mal: „Wir schlie­ßen an bestehen­de Pro­tes­te an und wer­den so lan­ge laut lesen und kom­men­tie­ren, bis das Abwar­ten been­det und der Platz umbe­nannt wird“, heißt es in der Pres­se­aus­sendung der Uni­ver­si­tät für ange­wand­te Kunst Wien.

Lueger-Denkmal Schande (Dezember 2021; © SdR)
Lue­ger-Denk­mal Schan­de (Dezem­ber 2021; © SdR)

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