Gegenüber dem Vorjahr 2020 stellt der Bericht der Antisemitismus-Meldestelle der IKG für das Jahr 2021 einen Anstieg um rund 60 Prozent fest – in absoluten Zahlen von 585 auf 965 Vorfälle. Dazu muss angemerkt werden, dass es sich dabei „nur“ um Vorfälle handelt, die der IKG bekanntgeworden sind. Mit großer Gewissheit darf angenommen werden, dass es genügend Ecken und Gegenden in Österreich gibt, wo die Bereitschaft, antisemitische Vorfälle als solche zu erkennen und an die Meldestelle der IKG zu berichten, eher gegen Null geht.
Antisemitische Vorfälle im Jahr 2021 – Bericht der Antisemitismus-Meldestelle der IKG Wien vorgestellt.
Im Jahr 2021 wurden insgesamt 965 antisemitische Vorfälle registriert – ein Anstieg von 65% im Vergleich zum Jahr 2020.
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— Antisemitismus-Meldestelle der IKG (@AMeldestelle) May 13, 2022
Die Wahrnehmungen von Antisemitismus sind sehr unterschiedlich und reichen bis zur Opfer-Täter-Umkehr (Freiheitliche als „neue Juden“), der Instrumentalisierung des Holocaust („Judenstern für „Ungeimpfte“) und dem zynisch-dreckigen Sager des russischen Außenministers Lawrow (Hitler habe jüdisches Blut gehabt und die „eifrigsten Antisemiten sind oft selbst Juden“).
Die IKG benutzt für die Definition von Antisemitismus den ersten Absatz des Beschlusstextes der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), der da lautet:
Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.
Was an dieser knappen Definition noch ungenau ist, wird durch die folgenden Beispiele viel deutlicher:
Der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung sowie die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung.
Falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Juden oder die Macht der Juden als Kollektiv – insbesondere aber nicht ausschließlich die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Juden.
Das Verantwortlichmachen der Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nicht-Juden.
Das Bestreiten der Tatsache, des Ausmaßes, der Mechanismen (z. B. der Gaskammern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkrieges (Holocaust).
Der Vorwurf gegenüber den Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen.
Der Vorwurf gegenüber Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer.
Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z. B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.
Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.
Das kollektive Verantwortlichmachen von Juden für Handlungen des Staates Israel.
Auch bei der Kategorisierung antisemitischer Vorfälle übernimmt die Meldestelle der IKG seit 2019 die von EUMC geschaffenen Kriterien, was in der Zukunft eine internationale Vergleichbarkeit erleichtern sollte. Der Vergleich der antisemitischen Vorfälle des Vereinigten Königreichs (UK, England, Schottland, Wales und Nordirland, 67 Mio. Einwohner*innen) mit denen des wesentlich kleineren Österreich (9 Mio) zeigt allerdings schon die dramatische Entwicklung in Österreich auf.
Jahr | Österreich | UK |
2019 | 550 | 1805 |
2020 | 585 | 1668 |
2021 | 965 | 2055 |
Im Bericht für 2021 sind auch weitere Länder angeführt. Bayern mit seinen rund 13 Millionen Einwohner*innen kommt auf 447 Vorfälle, Italien auf insgesamt 226.
Die Reaktionen der politischen Parteien in Österreich auf die Zahlen des Antisemitismusberichts sind übrigens sehr bezeichnend. Während sich SPÖ (Petra Bayr , Sabine Schatz), Grüne ( Eva Blimlinger) und Neos (Stephanie Krisper) zumindest darin einig sind, dass „Handeln“ das Gebot der Stunde sei, darüber hinaus auch mehr Aufklärung und Prävention gefordert wird, strebt Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) nur eine „enge Vernetzung aller Akteure“ , also polizeiliche Maßnahmen, an. Bundesministerin Edtstadler (ÖVP) verweist in ihrer Presseaussendung in erster Linie auf die unter ihrem Vorsitz durchgeführten Maßnahmen der „Nationalen Strategie gegen Antisemitismus“ und lädt „hochrangige Vertreterinnen und Vertreter“ zu einer europäischen Konferenz gegen Antisemitismus. Von der Partei, die sich im Zusammenhang mit antisemitischen Vorfällen am meisten angesprochen fühlen sollte, der FPÖ, kommt auch in diesem Jahr keine offizielle Stellungnahme zu dem Thema.
Erfreulicherweise handeln nun Aktivist*innen aus der Zivilgesellschaft. Die Initiative PLATZ DA! startete gemeinsam mit den Jüdischen Österreichischen Hochschüler*innen (JöH) ab 16.5.22 mit Protestlesungen gegen den Lueger-Platz und das Lueger-Denkmal: „Wir schließen an bestehende Proteste an und werden so lange laut lesen und kommentieren, bis das Abwarten beendet und der Platz umbenannt wird“, heißt es in der Presseaussendung der Universität für angewandte Kunst Wien.
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