Rede Ruth Klüger, 5.5.2011 im österreichischen Parlament
Wir Überlebende der großen jüdischen Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, die heutzutage die Shoah oder der Holocaust genannt wird, sind sozusagen ein Auslaufmodell. Nur ganz wenige von uns gibt es noch, und diese wenigen, zu denen ich gehöre, waren damals Kinder. Von Kindern möchte ich daher sprechen.
Im Mai 1945, also vor 66 Jahren, gleich nach Kriegsende, schickte ich zwei Gedichte, die ich im KZ verfasst hatte und die von der Verfolgung und Vernichtung handelten, an die Hessische Post. Dazu einen Brief, in dem ich stolz verkündete, ich sei erst dreizehn einhalb Jahre alt, hätte jedoch schon mehr erlebt als andere mit fünfzig. (Die Gedichte hatte ich nicht geschrieben, denn ich hatte kein Schreibmaterial, sondern sie einfach verfaßt und im Kopfe behalten und manchmal anderen Häftlingen aufgesagt.) Sie waren schön gereimt und in Strophen eingeteilt, wie ich es von der klassischen deutschen Lyrik gelernt hatte. Denn in Wien, vor der Verschickung im Jahre 1941, als wir von einer Wohnung in die andere mußten, alle mit verängstigten Erwachsenen vollgestopft, und ich gezwungenermaßen schulfrei hatte, vertrieb ich mir die Zeit mit dem Auswendiglernen von Versen. Ich wußte also, wie man das macht. Und meinte, mit der sprachlichen Kontrolle, die in solchen Kompositionen steckt, zu beweisen, dass ich kein verschrecktes, bewußtloses Opfer gewesen war sondern eine, die sich über Wasser halten und aufmerksam beobachten konnte. Also eine, die man ernst nehmen sollte und die in Zukunft mitreden wollte. Ich lesen Ihnen eines der beiden vor:
DER KAMIN
Täglich hinter den Baracken
Seh ich Rauch und Feuer stehn. Jude, beuge deinen Nacken, Keiner hier kann dem entgehn. Siehst du in dem Rauche nicht Ein verzerrtes Angesicht?
Ruft es nicht voll Spott und Hohn: Fünf Millionen berg’ ich schon! Auschwitz liegt in meiner Hand, Alles, alles wird verbrannt.Täglich hinterm Stacheldraht
Steigt die Sonne purpurn auf,
Doch ihr Licht wirkt öd und fad, Bricht die andre Flamme auf.
Denn das warme Lebenslicht
Gilt in Auschwitz längst schon nicht. Blick zur roten Flamme hin:Einzig wahr ist der Kamin. Auschwitz liegt in seiner Hand, Alles, alles wird verbrannt.
Mancher lebte einst voll Grauen Vor der drohenden Gefahr. Heut’ kann er gelassen schauen, Bietet ruh’g sein Leben dar. Jeder ist zermürbt von Leiden, Keine Schönheit, keine Freuden, Leben, Sonne, sie sind hin,
Und es lodert der Kamin. Auschwitz liegt in seiner Hand, Alles, alles wird verbrannt.
Hört ihr Ächzen nicht und Stöhnen, Wie von einem, der verschied? Und dazwischen bittres Höhnen, Des Kamines schaurig Lied: Keiner ist mir noch entronnen, Keinen, keine werd ich schonen. Und die mich gebaut als Grab Schling ich selbst zuletzt hinab. Auschwitz liegt in meiner Hand, Alles, alles wird verbrannt.
1944
Ich lese diese Verse hier zum ersten Mal laut vor, weil ich sie bis jetzt vor dem salbungsvollen Mitleid bewahren wollte, das dem gesprochenen Wort zuteil wird, mehr als dem gedruckten. Doch nun sind sie schon so verjährt, dass ich meine, die zwölf- bis dreizehnjährige Autorin, die ich damals war, mit einem kurzen Kommentar schützen zu können. Das Thema war natürlich zu groß und schwer für ein Kind, aber es war kein Thema, das ich mir ausgesucht hatte, sondern eines, das ich aufgetischt bekam und ich versuchte es zu bewältigen, indem ich darüber Reime machte. Ich möchte damit sagen, dass mir und den anderen Kindern die Ungeheuerlichkeit dessen, was in den Lagern vorging, klar war. Wir haben nicht somnambulistisch vor uns hingedöst, wir waren hellwach, wir Kinder, vielleicht nie wieder so hellwach wie damals.
Wenn man von „verlorener Kindheit“ spricht oder davon, dass man den Kindern ihre Spielplätze und Spielsachen geraubt hatte und ähnlichen Lappalien, so lenkt man ab von dieser Ungeheuerlichkeit und verringert den Respekt vor denen, einschließlich der Kinder, die damals klarsichtig gelebt haben und den Verstand nicht verloren, den man ja zum Bespiel beim Gedichtemachen braucht. Es gibt auch gelegentlich die Unterstellung, dass wir gar nicht wußten, was los war. (Ich schnappte ja sogar übertriebene Zahlen auf, wie sie eben hörten: In Auschwitz wurden insgesamt eineinhalb Millionen Juden vergast, nicht fünf, wie in meinem Gedicht.) Oder dass man ja die Mutter dabei hatte, es kann also gar nicht so arg gewesen sein. Solche Reaktionen reichen nicht an das Gefühl heran, an das ich mich so lebhaft erinnere, dieses Gefühl der Zwölfjährigen in Auschwitz-Birkenau und der Dreizehnjährigen in Groß-Rosen, das sich so zusammenfassen läßt: Ich hab ein Leben, es ist meins, es hat erst angefangen, nehmt es mir nicht, es gehört mir; was ihr alles sonst genommen habt, die Wohnung, aus der wir rausgeschmissen wurden, das Geld der Eltern in der Bank und alle unsere Sachen, der schöne Garten der Großeltern, könnt ihr alles haben, wer will das schon, könnt ihr behalten, is wurscht, aber dieses Leben, ich geb’s nicht auf, ich hab Angst, ich will noch was lernen — und auch eine große Wut hab ich. Das war das Grundgefühl. Und wenn ich heute von Respekt rede, so meine ich nicht etwa, einen Respekt, den Sie vor mir, der Erwachsenen, Altgewordenen, haben sollten – den müßte ich mir schon durch eigene Leistung verdienen –, sondern den ich vor dem Kind bewahre, das ich damals war und das ganz gut denken konnte und sich trotzig bewährte und bestand.
Ein paar Verse aus den erwähnten Gedichten erschienen dann auch in der Zeitung, zusammen mit einem kunstvoll zerrissenen Stück meines Briefs. Mein Gedicht war verkürzt, meine Aussage verstümmelt und vor allem mit einem larmoyanten Kommentar versehen worden, das mich beschämte. „Einzelne Strophen“, so hieß es, „eignen sich nicht zur Veröffentlichung, denn sie eröffnen das ganze unbeschreibliche Elend, in das die Seele eines Kindes gestoßen wurde.“ Diese Logik war mir unklar. Warum, so fragte ich mich, haben sie nicht das ganze Gedicht gedruckt, oder sogar alle beide? Ich war unter anderem beleidigt, weil ich keine Antwort und kein Belegexemplar bekommen hatte. Ich hatte auf ein Wort der Anerkennung gehofft, zumindest der Erkennung, ich wollte ein Gesicht haben. Und ein Gesicht war auch da, aber nicht meines, eine Zeichnung, die nicht ich war, sondern der Sammelbegriff, wie so ein Kind auszusehen hatte, mit weitaufgerissenen Augen, vermutlich schreiend. Eigentlich wollte ich, dass sich jemand nach mir erkundigt, fragt, wie’s war, wie’s mir geht und was ich sonst noch geschrieben hatte. Denn so wie’s dastand, genierte ich mich einfach. Ich kam mir vereinnahmt, sogar an den Pranger gestellt vor.
Wenn man die Zeugen nicht befragt, oder, wenn man sie befragt, ihnen dann nicht zuhört, sobald sie ausführlich werden wollen, sondern den eigenen Gefühlen den Vorrang gibt, wie das auch heute noch oft bei der Auswertung von „oral history“ geschieht, so stellt sich leicht eine Verdrehung des Geschehens ein. Diejenigen, die nicht dabei gewesen waren, hielten noch lange nach dem Krieg selbst die erwachsenen Überlebenden für unzuverlässig, weil angeblich zu sehr geschädigt durch das Erlebte. Wie viel mehr die Kinder. Mit meinem Ärger und meiner Beschämung über diese erste Veröffentlichung, so kindisch sie gewesen sein mögen, hatte ich etwas erfasst, was richtig war. Denn das Desinteresse für die Autorin, die nur eine Quelle war für die Erschütterungsfähigkeit der Herausgeber, war nicht zufällig, sondern eher typisch. Kinder hatten keine rechte Identität, deshalb musste man sich auch nicht für ihre Beiträge bedanken, schon in dieser frühen Phase der Erinnerung war mehr Gerede als Sprache und nicht so sehr Trauer als rührseliges Gewäsch.
Freilich war das während und nach dem Krieg oft so: Man hat die Ermordung von einer ganzen nichtpolitischen Zivilbevölkerung wenn nicht beiseite geschoben, so doch irgendwie komprimiert, vielleicht weil der Gedanke unerträglich war, aber vielleicht auch, weil man mit Trauer über die Gefallenen und mit Stolz über die Politischen, die Widerstandskämpfer im KZ, reden konnte, aber was ließ sich schon über jüdische Hausfrauen und Kinder sagen, als dass sie Pech gehabt hatten?
In den 50er Jahren trat dann ein ermordetes Kind lebhaft vors Auge der Öffentlichkeit: Anne Frank. Anne Frank war jedoch eben keine Überlebende, niemand, mit dem man sich auseinandersetzen mußte und – ein springender Punkt – man mußte sich nicht einmal mit ihren KZ Erfahrungen auseinandersetzen, denn das Buch handelt ja nicht davon, es handelt vom Versteck vor der Verschleppung. Zwar hing sein enormer Erfolg vom Wissen ab, dass Anne Frank ein Opfer des Massenmords war, aber gerade das machte es möglich, ihre überaus scharfsinnigen Aufzeichnungen zu sentimentalisieren. Sie war ein Opfer, vor dem man nicht zurückschrecken mußte. Das, was ihr nach dem Versteck im Amsterdamer Hinterhaus zustieß, wurde erst Jahre nach der Veröffentlichung des Tagebuchs recherchiert und die Details, die zu ihrem Tod führten wurden nie so bekannt und hatten nie dieselbe Ausstrahlung wie ihre eigenen Worte über das enge Zusammenleben vor dem Entdecktwerden. Man konnte sie beweinen und man konnte bereuen. Die Vorstellung ihrer Verschickung und ihres frühen Todes konnte man dazudenken oder auslassen, mit so vielen oder so wenigen Einzelheiten, wie man wollte. Von ihr kam keine Gegenrede mehr. Und doch hat sie es mit ihrem schriftstellerischen Talent und ihrer akuten Beobachtungsgabe allen Kindern von damals leichter gemacht zu sprechen und gehört zu werden.
Die Wörter, die uns immer einfallen, wenn wir die über das Gedenken an die Shoah sprechen, sind „vergessen“, „erinnern“, „verzeihen“. Ich möchte versuchsweise auf ein anderes Wort hinsteuern, nämlich das Wort, das Sigmund Freud hier in Wien auf jenen psychologischen Prozess angewendet hat, wenn der Mensch nicht zurecht kommt mit dem, was ihm oder ihr zugestoßen ist (oder was er getan hat) und es auf eine Weise beiseite schiebt, die es nicht etwa zerstört – denn das geht nicht – aber es so aufbewahrt, dass es sich nicht dem Bewußtsein und der Vernunft zur Verfügung stellt. Und das mit Recht – denn die Vernunft ist in solchen Fällen hilflos geworden. Ich spreche natürlich vom Verdrängungsprozess.
Freud hat den Begriff „verdrängen“ auf den Einzelnen, das Individuum, angewendet. Doch auch eine Gesellschaft kann Teile ihrer Vergangenheit verdrängen. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Wir denken zuerst an den Versuch das Geschehene zu vergessen – ich sage „Versuch“, weil es ja nicht gelingt: das was geschehen ist verschwindet nicht, es geistert nur. Man leugnet also einfach, dass das, womit man nicht fertig wird, stattgefunden hat. Im Englischen verwendet man das Wort „suppress“ für diesen Freud’schen Begriff, denn das Englische hat kein richtiges Wort für „verdrängen“. Aber das Deutsche ist besser, denn es meint ja, Beiseiteschieben, nicht Unterdrücken; das Beiseitegeschobene ist nachbarlich anwesend. Wenn man es pauschal abstreitet, wird man schnell entlarvt, und darum waren die Holocaustleugner von Anfang an unglaubwürdig, das Beweismaterial war überwältigend. Der Massenmord war keine verborgene Leiche im Keller. Er war schlicht nicht zu übersehen.
Verdrängen kann aber auch andere Formen annehmen. Wenn wir nicht umhin können, die Faktizität des Geschehenen anzuerkennen, dann versuchen wir es so zu deuten, dass es erträglich, wenn auch verfälscht wird, zum Beispiel durch Sentimentalisieren, eine Form von Entschärfung.
Dazu eignen sich besonders die Kinder, die toten wie die überlebenden. Da nimmt dann ein weinerliches, rückgewandtes Mitgefühl dem Entsetzen über das Vorgefallene den Stachel und verwandelt es in eine Stärkung der eigenen moralischen Überlegenheit. Oder man verfremdet die Zeugen und feindet sie an. Wenn wir Kinder die Geschichte unserer Jahre unter den Nazis anders erzählten als es sich die Erwachsenen zurecht gelegt hatten oder unerwünschte Fragen über das Verhalten eben dieser Erwachsenen stellten, dann wurde man, wenn man Glück hatte, nicht ernst genommen und beiseite geschoben (also „verdrängt“, in eine Ecke gedrängt) – irgendwie mundtot gemacht, weil man annahm, dass wir nicht genug wissen konnten und sowieso keine Meinung zu haben hatten; oder wir wurden sogar beschimpft: „Du hast’s faustdick hinter den Ohren“, sagte mir eine Deutsche verächtlich noch in den frühen 50er Jahren. Man hat die Opfer seither zu Märtyrern stilisiert. Daran dachte man anfangs noch nicht. Doch auch das ist eine Form der Verdrängung, indem man der äußersten Sinnlosigkeit einen Sinn abgewinnt.
Noch eine Art der Bewältigung, die der Verdrängung Vorschub leistet, ist die Relativierung. Wir reihen das Verbrechen ein, finden ihm einen Platz in der Geschichte der Untaten. Doch das Ausmaß des Holocaust sprengt alle Rahmen und Raster.
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Das sogenannte Euthanasieprogramm, das am Anfang des großen Blutbads stattfand, verdeutlicht einen Aspekt, der ihn von anderen Massakern unterscheidet, nämlich ein Element der nationalen oder völkischen Selbstzerfleischung.
Ich rede jetzt einmal ausdrücklich nicht von Juden oder Zigeunern, sondern von Opfern, die in die unerhörte Kategorie „unnütze Esser“ eingestuft wurden.
Die ersten experimentellen Gaskammern kann man in Österreich bequem besichtigen, an einer Gedächtnisstätte unweit von hier, Hartheim bei Linz, — Linz, eine europäische Kulturhauptstadt. Sie waren nicht besonders geheim gehalten, in keinen dumpfen Kellern versteckt, sie hatten Fenster und lagen zu ebener Erde. Da wurden Behinderte aus dem eigenen Volk, Deutsche und Österreicher, von ihren Landsleuten beseitigt. Darunter auch viele Kinder. Das waren körperlich und geistig behinderte Kinder, oder autistische Kinder, es waren auch einfach asoziale, sogenannte „schwer erziehbare Kinder“ darunter, Kinder, die Krach in der Schule gemacht haben.
Man muss sich vorstellen, was das heißt: Unnütze Esser. Es heißt, dass man den eigenen Kindern nicht den Bissen im Mund gegönnt hat. Der normale Instinkt, meinen wir, ist ja, Kinder zu beschützen und ihnen zu helfen. Sie sind herzig und hilflos. Es ist ein Naturgesetz, dass jede Tierart sich zu vermehren sucht, oft mit dem Opfer von erwachsenen Individuen der Spezies. Nicht nur die Eltern, auch die Herde oder das Rudel, verbürgt ihr Weiterleben. Doch in Großdeutschland, einschließlich Österreich, wurden während der Naziherrschaft nicht nur sogenannte „andersrassige“ Kinder getötet, sondern auch die eigenen deutschen, wenn sie „unnütze Esser“ waren. Nicht nur vereinzelte, sondern sehr viele, von bezahlten Tätern. Und hier setzt mein Verständnis aus. Nur eine Verbindung wird immer deutlicher: Auch mit der Vernichtung der Juden wurde ja ein Teil der eigenen Zivilbevölkerung aus der deutsch-österreichischen Gesellschaft beseitigt.
Schoßhunde sind auch unnütze Esser und wurden nicht massenvernichtet im Nazi-Europa. Überhaupt waren Haustiere unter den Nazis nicht verboten – obwohl man ihnen zu essen geben muß.– (Im Gegenteil, sie waren sozusagen höhere Wesen als Juden, denn Juden mußten die ihren abgeben, Juden waren nicht würdig, Hunde zu halten.) Was sich hier als Sparsamkeit und notwendige Maßnahme zur Erhaltung der Rassenzucht tarnte und in dem Massenmord an Zivilisten mündete, war in Wahrheit ein Menschenhaß und eine Menschenverachtung, die man mit Schlagwörtern wie „nie wieder“ oder mit Mahnmalen oder mit Sühnezeichen oder – ja, auch mit Gedenktagen, wie wir hier einen feiern — nicht in den Griff bekommt.
Ein berühmtes jüdisches Sprichwort lautet: „Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.“ Es ist ein schöner Satz, ein poetischer Satz, er läßt sich genießen, doch mit dem Massenmord ist er unvereinbar. Sicher hat es unzählige tapfere Menschen gegeben, die gefährdete Kinder gerettet haben, und sie verdienen es, dass wir sie ehren und feiern, aber eine Welt, in der ein Kind leben bleibt und neunhundert neunundneunzig Kinder mit voller Absicht ermordet werden, eine solche Welt ist nicht „gerettet“, im Sinne unseres Spruchs. Ich bin eine dieser Einzelfälle und habe nie die Erleichterung gekannt, dass durch mein Überleben das Grausen am Mord meiner Altersgenossen aufgewogen und widerlegt ist. Solche Widersprüche bleiben für meinesgleichen im Gedächtnis eintätowiert.
Der Kern der Sache bleibt unbegreiflich, trotz der vielen nüchtern wissenschaftlichen und passioniert dichterischen Analysen, die seither erschienen sind. Wir brauchen sie alle, aber sie genügen nicht. Wie kam es zum Völkermord? Wirtschaftliche Gründe? Es gab ärmere Länder, wo sowas nicht passierte. Unwissenheit? Die Täter hatten ein relativ hohes Bildungsniveau. Sie waren keine Analphabeten und hatten entweder eine religiöse oder eine humanistische Erziehung gehabt, die leider nicht standhielt. Aber wieso und warum nicht? Die frühen Jahre üben ja angeblich einen bleibenden Einfluß auf uns aus. Auf die Täter traf das nicht zu. Sie hatten nichts erlebt, was mit ihrem späteren Tun in Einklang zu bringen wäre. Sie kamen aus einer Gesellschaft, die zwar fünfzehn oder zwanzig Jahre vorher einen Krieg verloren hatte, aber einen Verlierer gibt es in jedem Krieg. Das erklärt nicht, wie es zu dieser Umkehrung aller Werte mitten in Europa kam. Weder andächtiges Schweigen noch Reue, Andacht oder auch Hass und Verachtung geben uns Antwort auf die Fragen, die die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts uns stellt.
Und so belassen wir es bei der festen Überzeugung, dass jetzt alles anders ist. Das stimmt sogar, ich muss mich nur umschauen und an das Wien meiner Kindheit denken, eine düstere, feindselige Stadt, wo man als Jude wie in einem Belagerungszustand vegetierte, wo ich alles verlor, auch den Vater und den Bruder und schließlich in den Tod abtransportiert wurde, dem ich dann merkwürdiger- und ausnahmsweise entging. Heute bin ich hier willkommen, ich darf sogar im Parlament darüber sprechen. Aber wieso? Wo und was sind die Quellen, die vom Damals und die vom Jetzt? Was hat sich im Denken geändert und auf welche Weise? Was war der Ursprung des Genozids?
Wie der Holocaust möglich war, bleibt ein ungelöstes Rätsel. Es ist im Grunde das Rätsel der menschlichen Freiheit. Wir sind nicht vorprogrammiert, wie sich herausstellte, ein Rechtsstaat bleibt nicht unbedingt ein Rechtsstaat, und seine Bewohner können ihre Vorstellungen und Absichten jederzeit über den Haufen werfen und es sich anders überlegen. Meistens sind wir stolz auf dieses Selbstbestimmungsvermögen und meinen, es führt zum Fortschritt und zum Guten. Manchmal führt es ins abgrundtief Böse. Der Holocaust gähnt wie ein schwarzes Loch in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Ich habe im Laufe eines langen Lebens einiges darüber gelesen, auch ein bisschen darüber geschrieben, bin aber zu keinen Schlußfolgerungen gekommen und fand gewiss keinen Trost. Trotzdem bleibt die Hoffnung, dass weiteres Forschen, Dichten, Nachdenken und Diskutieren zu einer Erhellung führen möge über unser Tun und Lassen, das heißt, über die Möglichkeiten und Grenzen dieser unserer zwielichtigen, zweideutigen, zwiespältigen menschlichen Freiheit. (Österreichisches Parlament, Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus 2011)
➡️ Wir Überlebende sind nicht zuständig für Verzeihung. Zum Tod von Ruth Klüger.