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Parlamentsrede Ruth Klüger (2011)

Vor zehn Jah­ren hielt Ruth Klü­ger (1931–2020), Lite­ra­tur­wis­schen­schaf­te­rin, Schrift­stel­le­rin und Über­le­ben­de der Shoa, anläss­lich des Gedenk­tags an die Befrei­ung vom Natio­nal­so­zia­lis­mus eine Rede im öster­rei­chi­schen Par­la­ment. Der Rechts­extre­mist Fred Dus­wald reagier­te mit einer Ver­höh­nung und Dif­fa­mie­rung in der „Aula“. Eine Anzei­ge war damals noch erfolg­los. Erst im Jän­ner 2017 wur­den Dus­wald und die „Aula“ nach einer […]

27. Jan 2021
Ruth Klüger am Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus
Ruth Klüger am Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

Rede Ruth Klü­ger, 5.5.2011 im öster­rei­chi­schen Parlament

Wir Über­le­ben­de der gro­ßen jüdi­schen Kata­stro­phe des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts, die heut­zu­ta­ge die Sho­ah oder der Holo­caust genannt wird, sind sozu­sa­gen ein Aus­lauf­mo­dell. Nur ganz weni­ge von uns gibt es noch, und die­se weni­gen, zu denen ich gehö­re, waren damals Kin­der. Von Kin­dern möch­te ich daher sprechen.

Im Mai 1945, also vor 66 Jah­ren, gleich nach Kriegs­en­de, schick­te ich zwei Gedich­te, die ich im KZ ver­fasst hat­te und die von der Ver­fol­gung und Ver­nich­tung han­del­ten, an die Hes­si­sche Post. Dazu einen Brief, in dem ich stolz ver­kün­de­te, ich sei erst drei­zehn ein­halb Jah­re alt, hät­te jedoch schon mehr erlebt als ande­re mit fünf­zig. (Die Gedich­te hat­te ich nicht geschrie­ben, denn ich hat­te kein Schreib­ma­te­ri­al, son­dern sie ein­fach ver­faßt und im Kop­fe behal­ten und manch­mal ande­ren Häft­lin­gen auf­ge­sagt.) Sie waren schön gereimt und in Stro­phen ein­ge­teilt, wie ich es von der klas­si­schen deut­schen Lyrik gelernt hat­te. Denn in Wien, vor der Ver­schi­ckung im Jah­re 1941, als wir von einer Woh­nung in die ande­re muß­ten, alle mit ver­ängs­tig­ten Erwach­se­nen voll­ge­stopft, und ich gezwun­ge­ner­ma­ßen schul­frei hat­te, ver­trieb ich mir die Zeit mit dem Aus­wen­dig­ler­nen von Ver­sen. Ich wuß­te also, wie man das macht. Und mein­te, mit der sprach­li­chen Kon­trol­le, die in sol­chen Kom­po­si­tio­nen steckt, zu bewei­sen, dass ich kein ver­schreck­tes, bewußt­lo­ses Opfer gewe­sen war son­dern eine, die sich über Was­ser hal­ten und auf­merk­sam beob­ach­ten konn­te. Also eine, die man ernst neh­men soll­te und die in Zukunft mit­re­den woll­te. Ich lesen Ihnen eines der bei­den vor:

DER KAMIN

Täg­lich hin­ter den Baracken
Seh ich Rauch und Feu­er stehn. Jude, beu­ge dei­nen Nacken, Kei­ner hier kann dem ent­gehn. Siehst du in dem Rau­che nicht Ein ver­zerr­tes Angesicht?
Ruft es nicht voll Spott und Hohn: Fünf Mil­lio­nen berg’ ich schon! Ausch­witz liegt in mei­ner Hand, Alles, alles wird verbrannt.

Täg­lich hin­term Stacheldraht
Steigt die Son­ne pur­purn auf,
Doch ihr Licht wirkt öd und fad, Bricht die and­re Flam­me auf.
Denn das war­me Lebenslicht
Gilt in Ausch­witz längst schon nicht. Blick zur roten Flam­me hin:

Ein­zig wahr ist der Kamin. Ausch­witz liegt in sei­ner Hand, Alles, alles wird verbrannt.

Man­cher leb­te einst voll Grau­en Vor der dro­hen­den Gefahr. Heut’ kann er gelas­sen schau­en, Bie­tet ruh’g sein Leben dar. Jeder ist zer­mürbt von Lei­den, Kei­ne Schön­heit, kei­ne Freu­den, Leben, Son­ne, sie sind hin,

Und es lodert der Kamin. Ausch­witz liegt in sei­ner Hand, Alles, alles wird verbrannt.

Hört ihr Äch­zen nicht und Stöh­nen, Wie von einem, der ver­schied? Und dazwi­schen bit­tres Höh­nen, Des Kami­nes schau­rig Lied: Kei­ner ist mir noch ent­ron­nen, Kei­nen, kei­ne werd ich scho­nen. Und die mich gebaut als Grab Schling ich selbst zuletzt hin­ab. Ausch­witz liegt in mei­ner Hand, Alles, alles wird verbrannt.

1944

Ich lese die­se Ver­se hier zum ers­ten Mal laut vor, weil ich sie bis jetzt vor dem sal­bungs­vol­len Mit­leid bewah­ren woll­te, das dem gespro­che­nen Wort zuteil wird, mehr als dem gedruck­ten. Doch nun sind sie schon so ver­jährt, dass ich mei­ne, die zwölf- bis drei­zehn­jäh­ri­ge Autorin, die ich damals war, mit einem kur­zen Kom­men­tar schüt­zen zu kön­nen. Das The­ma war natür­lich zu groß und schwer für ein Kind, aber es war kein The­ma, das ich mir aus­ge­sucht hat­te, son­dern eines, das ich auf­ge­tischt bekam und ich ver­such­te es zu bewäl­ti­gen, indem ich dar­über Rei­me mach­te. Ich möch­te damit sagen, dass mir und den ande­ren Kin­dern die Unge­heu­er­lich­keit des­sen, was in den Lagern vor­ging, klar war. Wir haben nicht som­nam­bu­lis­tisch vor uns hin­ge­döst, wir waren hell­wach, wir Kin­der, viel­leicht nie wie­der so hell­wach wie damals.

Wenn man von „ver­lo­re­ner Kind­heit“ spricht oder davon, dass man den Kin­dern ihre Spiel­plät­ze und Spiel­sa­chen geraubt hat­te und ähn­li­chen Lap­pa­li­en, so lenkt man ab von die­ser Unge­heu­er­lich­keit und ver­rin­gert den Respekt vor denen, ein­schließ­lich der Kin­der, die damals klar­sich­tig gelebt haben und den Ver­stand nicht ver­lo­ren, den man ja zum Bespiel beim Gedich­te­ma­chen braucht. Es gibt auch gele­gent­lich die Unter­stel­lung, dass wir gar nicht wuß­ten, was los war. (Ich schnapp­te ja sogar über­trie­be­ne Zah­len auf, wie sie eben hör­ten: In Ausch­witz wur­den ins­ge­samt ein­ein­halb Mil­lio­nen Juden ver­gast, nicht fünf, wie in mei­nem Gedicht.) Oder dass man ja die Mut­ter dabei hat­te, es kann also gar nicht so arg gewe­sen sein. Sol­che Reak­tio­nen rei­chen nicht an das Gefühl her­an, an das ich mich so leb­haft erin­ne­re, die­ses Gefühl der Zwölf­jäh­ri­gen in Ausch­witz-Bir­ken­au und der Drei­zehn­jäh­ri­gen in Groß-Rosen, das sich so zusam­men­fas­sen läßt: Ich hab ein Leben, es ist meins, es hat erst ange­fan­gen, nehmt es mir nicht, es gehört mir; was ihr alles sonst genom­men habt, die Woh­nung, aus der wir raus­ge­schmis­sen wur­den, das Geld der Eltern in der Bank und alle unse­re Sachen, der schö­ne Gar­ten der Groß­el­tern, könnt ihr alles haben, wer will das schon, könnt ihr behal­ten, is wurscht, aber die­ses Leben, ich geb’s nicht auf, ich hab Angst, ich will noch was ler­nen — und auch eine gro­ße Wut hab ich. Das war das Grund­ge­fühl. Und wenn ich heu­te von Respekt rede, so mei­ne ich nicht etwa, einen Respekt, den Sie vor mir, der Erwach­se­nen, Alt­ge­wor­de­nen, haben soll­ten – den müß­te ich mir schon durch eige­ne Leis­tung ver­die­nen –, son­dern den ich vor dem Kind bewah­re, das ich damals war und das ganz gut den­ken konn­te und sich trot­zig bewähr­te und bestand.

Ein paar Ver­se aus den erwähn­ten Gedich­ten erschie­nen dann auch in der Zei­tung, zusam­men mit einem kunst­voll zer­ris­se­nen Stück mei­nes Briefs. Mein Gedicht war ver­kürzt, mei­ne Aus­sa­ge ver­stüm­melt und vor allem mit einem lar­moy­an­ten Kom­men­tar ver­se­hen wor­den, das mich beschäm­te. „Ein­zel­ne Stro­phen“, so hieß es, „eig­nen sich nicht zur Ver­öf­fent­li­chung, denn sie eröff­nen das gan­ze unbe­schreib­li­che Elend, in das die See­le eines Kin­des gesto­ßen wur­de.“ Die­se Logik war mir unklar. War­um, so frag­te ich mich, haben sie nicht das gan­ze Gedicht gedruckt, oder sogar alle bei­de? Ich war unter ande­rem belei­digt, weil ich kei­ne Ant­wort und kein Beleg­ex­em­plar bekom­men hat­te. Ich hat­te auf ein Wort der Aner­ken­nung gehofft, zumin­dest der Erken­nung, ich woll­te ein Gesicht haben. Und ein Gesicht war auch da, aber nicht mei­nes, eine Zeich­nung, die nicht ich war, son­dern der Sam­mel­be­griff, wie so ein Kind aus­zu­se­hen hat­te, mit weit­auf­ge­ris­se­nen Augen, ver­mut­lich schrei­end. Eigent­lich woll­te ich, dass sich jemand nach mir erkun­digt, fragt, wie’s war, wie’s mir geht und was ich sonst noch geschrie­ben hat­te. Denn so wie’s dastand, genier­te ich mich ein­fach. Ich kam mir ver­ein­nahmt, sogar an den Pran­ger gestellt vor.

Wenn man die Zeu­gen nicht befragt, oder, wenn man sie befragt, ihnen dann nicht zuhört, sobald sie aus­führ­lich wer­den wol­len, son­dern den eige­nen Gefüh­len den Vor­rang gibt, wie das auch heu­te noch oft bei der Aus­wer­tung von „oral histo­ry“ geschieht, so stellt sich leicht eine Ver­dre­hung des Gesche­hens ein. Die­je­ni­gen, die nicht dabei gewe­sen waren, hiel­ten noch lan­ge nach dem Krieg selbst die erwach­se­nen Über­le­ben­den für unzu­ver­läs­sig, weil angeb­lich zu sehr geschä­digt durch das Erleb­te. Wie viel mehr die Kin­der. Mit mei­nem Ärger und mei­ner Beschä­mung über die­se ers­te Ver­öf­fent­li­chung, so kin­disch sie gewe­sen sein mögen, hat­te ich etwas erfasst, was rich­tig war. Denn das Des­in­ter­es­se für die Autorin, die nur eine Quel­le war für die Erschüt­te­rungs­fä­hig­keit der Her­aus­ge­ber, war nicht zufäl­lig, son­dern eher typisch. Kin­der hat­ten kei­ne rech­te Iden­ti­tät, des­halb muss­te man sich auch nicht für ihre Bei­trä­ge bedan­ken, schon in die­ser frü­hen Pha­se der Erin­ne­rung war mehr Gere­de als Spra­che und nicht so sehr Trau­er als rühr­se­li­ges Gewäsch.

Frei­lich war das wäh­rend und nach dem Krieg oft so: Man hat die Ermor­dung von einer gan­zen nicht­po­li­ti­schen Zivil­be­völ­ke­rung wenn nicht bei­sei­te gescho­ben, so doch irgend­wie kom­pri­miert, viel­leicht weil der Gedan­ke uner­träg­lich war, aber viel­leicht auch, weil man mit Trau­er über die Gefal­le­nen und mit Stolz über die Poli­ti­schen, die Wider­stands­kämp­fer im KZ, reden konn­te, aber was ließ sich schon über jüdi­sche Haus­frau­en und Kin­der sagen, als dass sie Pech gehabt hatten?

In den 50er Jah­ren trat dann ein ermor­de­tes Kind leb­haft vors Auge der Öffent­lich­keit: Anne Frank. Anne Frank war jedoch eben kei­ne Über­le­ben­de, nie­mand, mit dem man sich aus­ein­an­der­set­zen muß­te und – ein sprin­gen­der Punkt – man muß­te sich nicht ein­mal mit ihren KZ Erfah­run­gen aus­ein­an­der­set­zen, denn das Buch han­delt ja nicht davon, es han­delt vom Ver­steck vor der Ver­schlep­pung. Zwar hing sein enor­mer Erfolg vom Wis­sen ab, dass Anne Frank ein Opfer des Mas­sen­mords war, aber gera­de das mach­te es mög­lich, ihre über­aus scharf­sin­ni­gen Auf­zeich­nun­gen zu sen­ti­men­ta­li­sie­ren. Sie war ein Opfer, vor dem man nicht zurück­schre­cken muß­te. Das, was ihr nach dem Ver­steck im Ams­ter­da­mer Hin­ter­haus zustieß, wur­de erst Jah­re nach der Ver­öf­fent­li­chung des Tage­buchs recher­chiert und die Details, die zu ihrem Tod führ­ten wur­den nie so bekannt und hat­ten nie die­sel­be Aus­strah­lung wie ihre eige­nen Wor­te über das enge Zusam­men­le­ben vor dem Ent­deckt­wer­den. Man konn­te sie bewei­nen und man konn­te bereu­en. Die Vor­stel­lung ihrer Ver­schi­ckung und ihres frü­hen Todes konn­te man dazu­den­ken oder aus­las­sen, mit so vie­len oder so weni­gen Ein­zel­hei­ten, wie man woll­te. Von ihr kam kei­ne Gegen­re­de mehr. Und doch hat sie es mit ihrem schrift­stel­le­ri­schen Talent und ihrer aku­ten Beob­ach­tungs­ga­be allen Kin­dern von damals leich­ter gemacht zu spre­chen und gehört zu werden.

Die Wör­ter, die uns immer ein­fal­len, wenn wir die über das Geden­ken an die Sho­ah spre­chen, sind „ver­ges­sen“, „erin­nern“, „ver­zei­hen“. Ich möch­te ver­suchs­wei­se auf ein ande­res Wort hin­steu­ern, näm­lich das Wort, das Sig­mund Freud hier in Wien auf jenen psy­cho­lo­gi­schen Pro­zess ange­wen­det hat, wenn der Mensch nicht zurecht kommt mit dem, was ihm oder ihr zuge­sto­ßen ist (oder was er getan hat) und es auf eine Wei­se bei­sei­te schiebt, die es nicht etwa zer­stört – denn das geht nicht – aber es so auf­be­wahrt, dass es sich nicht dem Bewußt­sein und der Ver­nunft zur Ver­fü­gung stellt. Und das mit Recht – denn die Ver­nunft ist in sol­chen Fäl­len hilf­los gewor­den. Ich spre­che natür­lich vom Verdrängungsprozess.
Freud hat den Begriff „ver­drän­gen“ auf den Ein­zel­nen, das Indi­vi­du­um, ange­wen­det. Doch auch eine Gesell­schaft kann Tei­le ihrer Ver­gan­gen­heit ver­drän­gen. Da gibt es ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten. Wir den­ken zuerst an den Ver­such das Gesche­he­ne zu ver­ges­sen – ich sage „Ver­such“, weil es ja nicht gelingt: das was gesche­hen ist ver­schwin­det nicht, es geis­tert nur. Man leug­net also ein­fach, dass das, womit man nicht fer­tig wird, statt­ge­fun­den hat. Im Eng­li­schen ver­wen­det man das Wort „sup­press“ für die­sen Freud’schen Begriff, denn das Eng­li­sche hat kein rich­ti­ges Wort für „ver­drän­gen“. Aber das Deut­sche ist bes­ser, denn es meint ja, Bei­sei­te­schie­ben, nicht Unter­drü­cken; das Bei­sei­te­ge­scho­be­ne ist nach­bar­lich anwe­send. Wenn man es pau­schal abstrei­tet, wird man schnell ent­larvt, und dar­um waren die Holo­caust­leug­ner von Anfang an unglaub­wür­dig, das Beweis­ma­te­ri­al war über­wäl­ti­gend. Der Mas­sen­mord war kei­ne ver­bor­ge­ne Lei­che im Kel­ler. Er war schlicht nicht zu übersehen.

Ver­drän­gen kann aber auch ande­re For­men anneh­men. Wenn wir nicht umhin kön­nen, die Fak­ti­zi­tät des Gesche­he­nen anzu­er­ken­nen, dann ver­su­chen wir es so zu deu­ten, dass es erträg­lich, wenn auch ver­fälscht wird, zum Bei­spiel durch Sen­ti­men­ta­li­sie­ren, eine Form von Entschärfung.

Dazu eig­nen sich beson­ders die Kin­der, die toten wie die über­le­ben­den. Da nimmt dann ein wei­ner­li­ches, rück­ge­wand­tes Mit­ge­fühl dem Ent­set­zen über das Vor­ge­fal­le­ne den Sta­chel und ver­wan­delt es in eine Stär­kung der eige­nen mora­li­schen Über­le­gen­heit. Oder man ver­frem­det die Zeu­gen und fein­det sie an. Wenn wir Kin­der die Geschich­te unse­rer Jah­re unter den Nazis anders erzähl­ten als es sich die Erwach­se­nen zurecht gelegt hat­ten oder uner­wünsch­te Fra­gen über das Ver­hal­ten eben die­ser Erwach­se­nen stell­ten, dann wur­de man, wenn man Glück hat­te, nicht ernst genom­men und bei­sei­te gescho­ben (also „ver­drängt“, in eine Ecke gedrängt) – irgend­wie mund­tot gemacht, weil man annahm, dass wir nicht genug wis­sen konn­ten und sowie­so kei­ne Mei­nung zu haben hat­ten; oder wir wur­den sogar beschimpft: „Du hast’s faust­dick hin­ter den Ohren“, sag­te mir eine Deut­sche ver­ächt­lich noch in den frü­hen 50er Jah­ren. Man hat die Opfer seit­her zu Mär­ty­rern sti­li­siert. Dar­an dach­te man anfangs noch nicht. Doch auch das ist eine Form der Ver­drän­gung, indem man der äußers­ten Sinn­lo­sig­keit einen Sinn abgewinnt.

Noch eine Art der Bewäl­ti­gung, die der Ver­drän­gung Vor­schub leis­tet, ist die Rela­ti­vie­rung. Wir rei­hen das Ver­bre­chen ein, fin­den ihm einen Platz in der Geschich­te der Unta­ten. Doch das Aus­maß des Holo­caust sprengt alle Rah­men und Raster.

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Das soge­nann­te Eutha­na­sie­pro­gramm, das am Anfang des gro­ßen Blut­bads statt­fand, ver­deut­licht einen Aspekt, der ihn von ande­ren Mas­sa­kern unter­schei­det, näm­lich ein Ele­ment der natio­na­len oder völ­ki­schen Selbstzerfleischung.

Ich rede jetzt ein­mal aus­drück­lich nicht von Juden oder Zigeu­nern, son­dern von Opfern, die in die uner­hör­te Kate­go­rie „unnüt­ze Esser“ ein­ge­stuft wurden.
Die ers­ten expe­ri­men­tel­len Gas­kam­mern kann man in Öster­reich bequem besich­ti­gen, an einer Gedächt­nis­stät­te unweit von hier, Hart­heim bei Linz, — Linz, eine euro­päi­sche Kul­tur­haupt­stadt. Sie waren nicht beson­ders geheim gehal­ten, in kei­nen dump­fen Kel­lern ver­steckt, sie hat­ten Fens­ter und lagen zu ebe­ner Erde. Da wur­den Behin­der­te aus dem eige­nen Volk, Deut­sche und Öster­rei­cher, von ihren Lands­leu­ten besei­tigt. Dar­un­ter auch vie­le Kin­der. Das waren kör­per­lich und geis­tig behin­der­te Kin­der, oder autis­ti­sche Kin­der, es waren auch ein­fach aso­zia­le, soge­nann­te „schwer erzieh­ba­re Kin­der“ dar­un­ter, Kin­der, die Krach in der Schu­le gemacht haben.

Man muss sich vor­stel­len, was das heißt: Unnüt­ze Esser. Es heißt, dass man den eige­nen Kin­dern nicht den Bis­sen im Mund gegönnt hat. Der nor­ma­le Instinkt, mei­nen wir, ist ja, Kin­der zu beschüt­zen und ihnen zu hel­fen. Sie sind her­zig und hilf­los. Es ist ein Natur­ge­setz, dass jede Tier­art sich zu ver­meh­ren sucht, oft mit dem Opfer von erwach­se­nen Indi­vi­du­en der Spe­zi­es. Nicht nur die Eltern, auch die Her­de oder das Rudel, ver­bürgt ihr Wei­ter­le­ben. Doch in Groß­deutsch­land, ein­schließ­lich Öster­reich, wur­den wäh­rend der Nazi­herr­schaft nicht nur soge­nann­te „anders­ras­si­ge“ Kin­der getö­tet, son­dern auch die eige­nen deut­schen, wenn sie „unnüt­ze Esser“ waren. Nicht nur ver­ein­zel­te, son­dern sehr vie­le, von bezahl­ten Tätern. Und hier setzt mein Ver­ständ­nis aus. Nur eine Ver­bin­dung wird immer deut­li­cher: Auch mit der Ver­nich­tung der Juden wur­de ja ein Teil der eige­nen Zivil­be­völ­ke­rung aus der deutsch-öster­rei­chi­schen Gesell­schaft beseitigt.

Schoß­hun­de sind auch unnüt­ze Esser und wur­den nicht mas­sen­ver­nich­tet im Nazi-Euro­pa. Über­haupt waren Haus­tie­re unter den Nazis nicht ver­bo­ten – obwohl man ihnen zu essen geben muß.– (Im Gegen­teil, sie waren sozu­sa­gen höhe­re Wesen als Juden, denn Juden muß­ten die ihren abge­ben, Juden waren nicht wür­dig, Hun­de zu hal­ten.) Was sich hier als Spar­sam­keit und not­wen­di­ge Maß­nah­me zur Erhal­tung der Ras­sen­zucht tarn­te und in dem Mas­sen­mord an Zivi­lis­ten mün­de­te, war in Wahr­heit ein Men­schen­haß und eine Men­schen­ver­ach­tung, die man mit Schlag­wör­tern wie „nie wie­der“ oder mit Mahn­ma­len oder mit Süh­ne­zei­chen oder – ja, auch mit Gedenk­ta­gen, wie wir hier einen fei­ern — nicht in den Griff bekommt.

Ein berühm­tes jüdi­sches Sprich­wort lau­tet: „Wer ein Leben ret­tet, ret­tet die gan­ze Welt.“ Es ist ein schö­ner Satz, ein poe­ti­scher Satz, er läßt sich genie­ßen, doch mit dem Mas­sen­mord ist er unver­ein­bar. Sicher hat es unzäh­li­ge tap­fe­re Men­schen gege­ben, die gefähr­de­te Kin­der geret­tet haben, und sie ver­die­nen es, dass wir sie ehren und fei­ern, aber eine Welt, in der ein Kind leben bleibt und neun­hun­dert neun­und­neun­zig Kin­der mit vol­ler Absicht ermor­det wer­den, eine sol­che Welt ist nicht „geret­tet“, im Sin­ne unse­res Spruchs. Ich bin eine die­ser Ein­zel­fäl­le und habe nie die Erleich­te­rung gekannt, dass durch mein Über­le­ben das Grau­sen am Mord mei­ner Alters­ge­nos­sen auf­ge­wo­gen und wider­legt ist. Sol­che Wider­sprü­che blei­ben für mei­nes­glei­chen im Gedächt­nis eintätowiert.

Der Kern der Sache bleibt unbe­greif­lich, trotz der vie­len nüch­tern wis­sen­schaft­li­chen und pas­sio­niert dich­te­ri­schen Ana­ly­sen, die seit­her erschie­nen sind. Wir brau­chen sie alle, aber sie genü­gen nicht. Wie kam es zum Völ­ker­mord? Wirt­schaft­li­che Grün­de? Es gab ärme­re Län­der, wo sowas nicht pas­sier­te. Unwis­sen­heit? Die Täter hat­ten ein rela­tiv hohes Bil­dungs­ni­veau. Sie waren kei­ne Analpha­be­ten und hat­ten ent­we­der eine reli­giö­se oder eine huma­nis­ti­sche Erzie­hung gehabt, die lei­der nicht stand­hielt. Aber wie­so und war­um nicht? Die frü­hen Jah­re üben ja angeb­lich einen blei­ben­den Ein­fluß auf uns aus. Auf die Täter traf das nicht zu. Sie hat­ten nichts erlebt, was mit ihrem spä­te­ren Tun in Ein­klang zu brin­gen wäre. Sie kamen aus einer Gesell­schaft, die zwar fünf­zehn oder zwan­zig Jah­re vor­her einen Krieg ver­lo­ren hat­te, aber einen Ver­lie­rer gibt es in jedem Krieg. Das erklärt nicht, wie es zu die­ser Umkeh­rung aller Wer­te mit­ten in Euro­pa kam. Weder andäch­ti­ges Schwei­gen noch Reue, Andacht oder auch Hass und Ver­ach­tung geben uns Ant­wort auf die Fra­gen, die die Geschich­te des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts uns stellt.

Und so belas­sen wir es bei der fes­ten Über­zeu­gung, dass jetzt alles anders ist. Das stimmt sogar, ich muss mich nur umschau­en und an das Wien mei­ner Kind­heit den­ken, eine düs­te­re, feind­se­li­ge Stadt, wo man als Jude wie in einem Bela­ge­rungs­zu­stand vege­tier­te, wo ich alles ver­lor, auch den Vater und den Bru­der und schließ­lich in den Tod abtrans­por­tiert wur­de, dem ich dann merk­wür­di­ger- und aus­nahms­wei­se ent­ging. Heu­te bin ich hier will­kom­men, ich darf sogar im Par­la­ment dar­über spre­chen. Aber wie­so? Wo und was sind die Quel­len, die vom Damals und die vom Jetzt? Was hat sich im Den­ken geän­dert und auf wel­che Wei­se? Was war der Ursprung des Genozids?

Wie der Holo­caust mög­lich war, bleibt ein unge­lös­tes Rät­sel. Es ist im Grun­de das Rät­sel der mensch­li­chen Frei­heit. Wir sind nicht vor­pro­gram­miert, wie sich her­aus­stell­te, ein Rechts­staat bleibt nicht unbe­dingt ein Rechts­staat, und sei­ne Bewoh­ner kön­nen ihre Vor­stel­lun­gen und Absich­ten jeder­zeit über den Hau­fen wer­fen und es sich anders über­le­gen. Meis­tens sind wir stolz auf die­ses Selbst­be­stim­mungs­ver­mö­gen und mei­nen, es führt zum Fort­schritt und zum Guten. Manch­mal führt es ins abgrund­tief Böse. Der Holo­caust gähnt wie ein schwar­zes Loch in der Mit­te des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts. Ich habe im Lau­fe eines lan­gen Lebens eini­ges dar­über gele­sen, auch ein biss­chen dar­über geschrie­ben, bin aber zu kei­nen Schluß­fol­ge­run­gen gekom­men und fand gewiss kei­nen Trost. Trotz­dem bleibt die Hoff­nung, dass wei­te­res For­schen, Dich­ten, Nach­den­ken und Dis­ku­tie­ren zu einer Erhel­lung füh­ren möge über unser Tun und Las­sen, das heißt, über die Mög­lich­kei­ten und Gren­zen die­ser unse­rer zwie­lich­ti­gen, zwei­deu­ti­gen, zwie­späl­ti­gen mensch­li­chen Frei­heit. (Öster­rei­chi­sches Par­la­ment, Gedenk­tag gegen Gewalt und Ras­sis­mus im Geden­ken an die Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus 2011)

➡️ Wir Über­le­ben­de sind nicht zustän­dig für Ver­zei­hung. Zum Tod von Ruth Klüger.

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