Faktisch alles, sofern es nicht strafrechtlich verboten ist. Antisemitischer Dreck allerdings geht – man will es kaum glauben – fast immer noch. Das erste Werk, das der Sprach- und Literaturwissenschafter Victor Klemperer nach der Niederlage des NS-Regimes 1947 verfasste, war „LTI. Notizbuch eines Philologen“. LTI steht für Lingua Tertii Imperii (Sprache des Dritten Reiches). Klemperers Beobachtungen sind keine systematische Studie der Sprache des Nationalsozialismus, wie auch schon der Untertitel verrät, aber sie waren bahnbrechend.

Das Buch ist auch kein Kompendium belasteter Begriffe, aber wer immer sich mit der Sprache des Nationalsozialismus, überhaupt mit Sprachkritik befassen will, wird an diesem Werk nicht vorbeikommen. Dafür stehen schon Sätze wie diese:
Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist ? Worte können sein wie winzige Arsendosen : sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. Wenn einer lange genug für heldisch und tugendhaft : fanatisch sagt, glaubt er schließlich wirklich, ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatismus könne man kein Held sein. Die Worte fanatisch und Fanatismus sind nicht vom Dritten Reich erfunden, es hat sie nur in ihrem Wert verändert und hat sie an einem Tage häufiger gebraucht als andere Zeiten in Jahren. Das Dritte Reich hat die wenigsten Worte seiner Sprache selbstschöpferisch geprägt, vielleicht, wahrscheinlich sogar, überhaupt keines. (Klemperer, LTI, Aufbau-Verlag Berlin 1947, S. 30)
Bei Letzterem irrt Klemperer: Die Nazis haben tatsächlich einige Sprachschöpfungen zuwege gebracht. Viele ihrer Neologismen haben den Nationalsozialismus aber nicht oder nur bei einigen Neonazis im alltäglichen Sprachgebrauch überlebt. Dazu gehören klarerweise die Rangbezeichnungen, die sich NSDAP, SS und andere Nazi-Formationen gegeben hat („Blockwart“, „Sturmbannführer“ usw.), andererseits auch ein bürokratisches Wortungetüm wie „Verdunkelungsverbrechen“, das im Paragraph 2 der Verordnung gegen „Volksschädlinge“ bezeichnet und mit schweren Kerkerstrafen, aber auch der Todesstrafe geahndet wurde. Das „Verdunkelungsverbrechen“ hat die Nazi-Ära nicht überlebt, auch der „Zuchtwart“ nicht. Mit einer „Vollfamilie“ bezeichneten die Nazis eine „erbgesunde Familie“ mit mindestens vier Kindern. Der Begriff geht vermutlich auf die Nazis zurück, wie Cornelia Schmitz-Berning in ihrem akribisch recherchierten Standardwerk „Vokabular des Nationalsozialismus“ dazu festhält. Die „Vollfamilie“ geistert – selten, aber doch – auch heute noch herum, hat aber seine Nazi-Definition verloren.

Das trifft wohl auch für einen anderen Nazi-Neologismus zu: der „Kulturschaffende“, der – wie einige andere Neologismen aus dem Kunst- und Kulturbereich – aus Goebbels‘ Reichspropagandaministerium stammen dürfte. Im Unterschied zu Schmitz-Berning, die die Genesis des Begriffs dort verortet, weist ihn Wikipedia den 1920er-Jahren zu. Anyway. heute ist die bei den Nazis ideologisch aufgeladene Definition dieses Begriffs verblasst und weitgehend nur mehr sprachhistorisch interessant.

Matthias Heine, der das 2019 erschienene Buch „Verbrannte Wörter. Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht“ verfasst hat, schreibt dazu: „Der Ausdruck ist wohl nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Da es sich um eine relativ neutrale Bezeichnung handelt, ist das aber auch keine Katastrophe. Dennoch schadet es nichts, seinen NS-Ursprung zu kennen und abzuwägen, ob er überall angebracht ist.“

Heines Buch ist flott zu lesen, mit seinen etwas über 200 Seiten nicht eine Schwarte wie das Standard-Werk von Schmitz-Berning (700 Seiten). Es gibt sich aber auch einen anderen, sehr praktischen Anspruch, indem es zu den Ausführungen über „verbrannte“, durch die Nazi-Geschichte und Ideologie aufgeladene Wörter oder Redewendungen auch praktische Empfehlungen für den Umgang mit solchen Wörtern wagt.
Wenn Heine vorschlägt, das Wort „betreuen besonders im Zusammenhang mit Gruppen, die von den Nazis verfolgt und ermordet wurden“ zu meiden, mag einem das zunächst übertrieben vorkommen. Schon Klemperer wies in seiner LTI aber darauf hin, dass – ausgerechnet – die Nazis das unschuldige Verb geradezu maßlos und überspannt verwendet haben. Wer dann noch die ausführliche Recherche von Schmitz-Berning zur Verwendung des Wortes durch die Nazis liest, wird nicht nur sprachlich und historisch sensibilisiert, sondern die Empfehlung von Heine nachvollziehen können.
Der bereits erwähnte „Volksschädling“ wird von Schmitz-Berning klar der Nazi-Ideologie zugeordnet, wobei sich der Bedeutungsinhalt immer mehr verschärft hat: vom „Schieber und Wucherer“ zum mit der Todesstrafe bedrohten „Volksverräter“ oder „Volksschädling“. Klemperer berichtet von einer in den letzten Tagen des Nazi-Regimes aufgestellten Militärpolizeieinheit mit der Armbinde „Volksschädlingsbekämpfer“ (gegen Deserteure). Das „Amt für Schädlingsbekämpfung“ war übrigens zuständig für die Belieferung des KZ Auschwitz mit dem Giftgas Zyklon B, das zum Massenmord an Juden verwendet wurde – ein zynischer und sehr bewusster Einsatz von Sprache durch die Nazis. Den „Volksschädling“ hat zuletzt Lutz Bachmann von der Pegida im Oktober 2019 benutzt, um gegen Klima-Aktivist*innen zu hetzen, die in einen Graben geworfen und zugeschüttet werden sollten. In derselben Rede benutzte er auch die Begriffe „Müll“, „Parasiten“ und „miese Maden“.
Heine, der sich mit dem Begriff „Volksverräter“ beschäftigt, der ebenfalls heute in der rechtsextremen Terminologie gebräuchlich ist, schreibt dazu: „Wer Volksverräter sagt, könnte auch gleich mit erhobenem rechten Arm herummarschieren. Er muss damit rechnen, für einen Nazi gehalten zu werden.“
Eigentlich sollte das auch für die anderen, von Bachmann in seiner Rede verwendeten Begriffe gelten. „Parasiten“ und „parasitär“ war bei den Nazis ein weitgehend exklusiv den Juden und Jüdinnen geltendes Schimpfwort – mit hoher ideologischer Aufladung. Die verbale Entmenschlichung durch Bezeichnungen wie Parasiten, Ratten, Zecken, Schädlinge – übrigens kein Privileg der Nazis – ist eine Vorstufe der tatsächlichen Entmenschung durch Tötung und verbietet sich auch ohne Gebrauch durch die Nazis.
Die „Volksgemeinschaft“ war übrigens eines der Hochwertwörter der Nazis, zentral für ihre menschenverachtende Ideologie. Der Begriff existierte schon lange vor der NS-Ära, erlangte in der politischen Debatte als antidemokratischer Slogan aber erst mit Ende des 19. Jahrhunderts Bedeutung – nicht nur im rechtsextremen Eck, auch „für konservative, aber auch liberale, nationalbolschewistische und christliche Bewegungen“ (Wikipedia).
Schmitz-Berning geht dessen Verwendung durch die Nazis akribisch nach. Nach der NS-Ära war der Begriff bei den demokratischen Parteien komplett diskreditiert; nur neonazistische Parteien wie die Deutsche Reichspartei und später die NPD verwendeten den Begriff weiter. Und die FPÖ, die sich immer darauf berief, dass es den Begriff ja auch schon vor dem Nationalsozialismus gegeben habe – so, wie die „Kornblume“, das Erkennungszeichen der illegalen Nazis. Ja, die Kornblume ist sogar viel älter – eine unschuldige und schöne Blume, die nichts für die Verbrechen der Nazis kann, die man sich aber trotzdem nicht ans Revers stecken sollte, weil sie in dieser Verwendung durch die Nazis belastet wurde.

Da wären wir dann noch einmal bei „durch den Rost fallen“ und bei „bis zur Vergasung“. Bei Schmitz-Berning und Klemperer kommen beide Redewendungen nicht vor. Das ist kein Zufall, weil gerade sie keine Nazi-Redewendungen waren, sondern schon früher gebraucht wurden. Heine bespricht die Phrase „bis zur Vergasung“ und stellt dazu in seinem Tipp dann fest:
Auch wenn bis zur Vergasung kein NS-Jargon ist und noch nicht einmal etwas mit dem Grauen des Ersten Weltkriegs zu tun hat, sollte man die Redensart wegen des für viele Menschen schockierenden Tons nur vorsichtig nutzen. Ohnehin ist sie eine arg umgangssprachliche Formulierung und ist in schriftlichen Texten fast immer fehl am Platz.
Dem haben wir nichts mehr hinzuzufügen, außer den Hinweis, dass wir allen, die sich mit NS-Vokabular und „verbrannten Wörtern“ befassen wollen, diese Bücher dringend empfehlen:
Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen. Reclam, Stuttgart.
Cornelia Schmitz-Berning , Vokabular des Nationalsozialismus. Walter de Gruyter, Berlin. Reprint (teuer, aber gut!)
Matthias Heine, Verbrannte Wörter. Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht. Dudenverlag, Berlin
Wer sich dann immer noch beschweren will, weil man ja gar nichts mehr sagen darf, dem und der können wir leider auch nicht mehr helfen.