Peter Gstettner war bis 2004 Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Klagenfurt. Er setzt sich seit Jahrzehnten für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus insbesondere in Kärnten ein, ist Begründer des Mauthausen Komitees Kärnten/Koroška und des Vereins Memorial Kärnten Koroška und betreut die Gedenkstätte Loibl KZ Nord. Gstettner erhielt für sein Engagement und seine Verdienste spät aber doch hohe Ehrungen durch die Republik, durch das Land Kärnten und von der Stadt Klagenfurt.
Peter Gstettner
Statement beim Treffen der Kärntner Antifa-Gruppen am 15.11.2019 im k & k in St. Johann im Rosental/Št. Janž v Rožu. Dieses Papier ist mit ergänzenden Beispielen, Anmerkungen und Literaturhinweisen erweitert. Es handelt sich dabei um einen Arbeitstext, in dem ich ein persönliches Fazit aus meinem langjährigen antifaschistischen Engagement in Kärnten ziehe.
„Im Übrigen ist der Nazismus keine ‚Meinung‘, und wir dürfen es uns nicht zur Gewohnheit werden lassen, darüber mit seinen Advokaten zu diskutieren.“ Vladimir Jankélévitch (1)
Erstens: Rechtsextreme Positionen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Sie sind, wie in anderen Staaten Osteuropas, auch in Österreich auf den obersten Ebenen der Regierungskoalition heimisch geworden. Außer Worthülsen und verbalen Bekenntnissen, wie z. B. „Antisemitismus darf in Österreich keinen Platz haben“, war von den Regierungssprechern bislang noch nichts Konkretes zu hören. Dass sie einen Handlungsbedarf sehen oder bereits konkrete Maßnahmen vorhaben, war für die BürgerInnen noch nicht zu erkennen.
Zweitens: Die Aktionsbündnisse von Vereinen und Gruppen der Zivilgesellschaft boten in Kärnten zu den politischen „Bekenntnissen“ der Parteien bislang keine wirklichen Alternativen. In die Öffentlichkeit drängten sich zumeist Vorfeldorganisationen von Parteien, die im „Konsens“ mit den jeweiligen Regierungsprogrammen entsprechende Vorschläge und Aktionen ankündigten. Dies ist weniger auf einen Mangel an Fantasie der Organisationen zurückzuführen, sondern eher auf einen Mangel an Zivilcourage oder auf ein starkes Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung. Die politischen Verhältnisse sind nun mal so: Wer durch Opposition oder durch Solidarität mit den bereits zum Schweigen gebrachten Minderheiten auffällt, kann nicht damit rechnen, zu den Playern oder gar Gewinnern im Verteilungsspiel um die besten Plätze an den Futtertrögen der Macht zu gehören.
Auch die Kärntner Situation im Jubiläumsjahr „100 Jahre Kärntner Volksabstimmung/75 Jahre Kriegsende“ ist unter diesem Anpassungsdruck zu sehen. Einige Beispiele für Konformitäts- und Wohlverhalten: Der sattsam bekannte Kärntner Heimatdienst/KHD, ehemals die tonangebende deutschnationale Organisation, hat in den letzten Jahren seine Programmatik geändert und sich schrittweise den neuen Gegebenheiten angepasst: dem EU-Beitritt Sloweniens, der faktischen Dezimierung der slowenischen Minderheit in Kärnten (ein unbestrittener „Erfolg“ der Agitation des KHD), dem wachsenden Interesse an Themen wie Menschenrechte, Migration und Flüchtlinge, Umweltschutz und Klimawandel usw. Ideologisch war man ohnehin immer schon konform mit der herrschenden Politik, die in der Regierungskoalition unter Bundeskanzler Sebastian Kurz eine Zuspitzung erfuhr: „Fremdenpolitik“ heißt, dass gegenüber (Migrations-)Minderheiten eine eindeutige Abwehrhaltung eingenommen werden muss. Da konnte sich der KHD mit entsprechenden Erklärungen und Veranstaltungen gefahrlos anhängen.
Dieser historische Schwenk war für den „alten“ KHD aus zwei Gründen von Vorteil: Erstens kam er aus seiner Bedeutungslosigkeit heraus, und zweitens konnte er die Chance nutzen, die früher stets drohende Verbotszone endgültig zu verlassen. Gemäß Art. 7, Abs. 5 des Österreichischen Staatsvertrages ist nämlich die Tätigkeit von Organisationen zu verbieten, die darauf abzielen, autochthonen ethnischen Minderheiten ihre Eigenschaften und Rechte zu nehmen. Folglich konnte der KHD jetzt getrost auf die offizielle Regierungslinie einschwenken, denn im Staatsvertrag von 1955 steht nichts davon, dass man gegen andere Bevölkerungsminderheiten, wie Ausländer, Juden, Asylsuchende, Migranten, Flüchtling usw. nicht hetzen darf. Und wie das gemacht wird, konnte man sich bei den FPÖ-„Einzelfällen“, die von der ÖVP toleriert wurden, abschauen. Allgemein brauchte man ja nur den Spuren der herrschenden Regierungspolitik folgen. Auch diese propagierte nach außen hin ein neues Bild des Regierens und Zusammenlebens in Österreich. Gleichzeitig wurde der Alltagsrassismus auf eine quasi gesetzliche Basis gehoben: die Grenzen schließen, Migration unterbinden, Islamisierung bekämpfen, Flüchtlinge in grenznahen Auffanglager konzentrieren, abgelehnte Asylwerber zurückschaffen, Seenotrettung kriminalisieren usw.
Während also die Republik Österreich unter Bundeskanzler Sebastian Kurz restriktive Maßnahmen auf EU-Ebene durchzusetzen versuchte, war der „Heimatdienst“ auf einer etwas kompromissbereiteren Schmalspurschiene unterwegs. Die neuen KHD-Slogans hießen deshalb jetzt: „Traditionspflege steht nicht im Widerspruch zu Verständigung und Versöhnung.“Und: „Der KHD bekennt sich zum interkulturellen Dialog“und tritt für „gutnachbarschaftliche Beziehungen mit grenzüberschreitendem Kulturaustausch“ ein. Das alles konnte leicht auf den Nachbarstaat Slowenien bezogen werden, der mit der von Sebastian Kurz propagierten „Schließung der Balkanroute“ den fremdenfeindlichen „Asylabwehrkampf“ mittrug. Die neue KHD-Orientierung wurde auch dadurch begünstigt, dass sich kärntner-slowenische Partner fanden, die bereit waren, ihrerseits über den historischen Schatten belasteter Vergangenheit zu springen, und die sich nun dem KHD-Obmann als Dialog- und Gesinnungsfreunde anboten bzw. anbiederten. Besonders das unverfängliche Stichwort „Dialog“ war für die rechten Exponenten im KHD, in der FPÖ, in der Ulrichsberggemeinschaft, im Kameradschaftsbund und bei den Schlagenden Burschenschaften eine akzeptable Klammer, mit der die neue slowenische Freundschaft mit der alten Idee von der Verteidigung des Abendlandes gegenüber dem Islam –oder dem slawischen „Aggressor“ –weiterhin verfolgt werden konnte.
Durch den „Dialog“ fanden auch der Slowenen-Vertreter Marjan Sturm, langjähriger Obmann des Zentralverbandes Slowenischer Organisationen, und der seit 1972 regierende KHD-Obmann Josef Feldner zusammen. Aus einer politischen Männerfreundschaft wurde eine Gesinnungsgemeinschaft, die sich der Propagierung von Verständigung und Versöhnungverschrieb. Für den organisatorischen Rahmen erfand man die „Kärntner Konsensgruppe“, die zeitweise mit weiteren, mehr oder weniger namhaften Vertretern aus den Bereichen Politik, Kirche, Medien und Wissenschaft ausgeschmückt wurde.
Neuerdings haben die Konsens-Experten im Rahmen ihres Verständigungs- und Versöhnungsdialogs auch die „gemeinsame Aufarbeitung der dunklen Kapitel der Vergangenheit“auf ihre Fahnen geschrieben. In Form des „gemeinsamen Gedenkens“, z. B. durch gemeinsame Kranzniederlegungen auf Friedhöfen und vor Denkmälern, soll der Vorteil des Dialogisierens auch für die breitere Öffentlichkeit sichtbar werden. Die „Kranzniederlegung zu Ehren der gefallenen Abwehrkämpfer“ als Festakt „90 Jahre KHD mit Gastredner Marjan Sturm“ war so ein Beispiel. Über dieses 90-Jahre-Jubiläum brachte die Kärntner KRONE (am 24. April 2019) einen ausführenden Bericht – mit einer bezeichnenden Freud’schen Fehlleistung: „Der Kärntner Heimatdienst (KHD) hat am Samstag im Wappensaal des Klagenfurter Landhauses sein Jubiläum gefeiert. Vor 90 Jahren war die Konsensgruppe (sic!) aus propagandistischen Zwecken im Vorfeld der Volksabstimmung über den Verbleib Südkärntens bei Österreich gegründet worden.“ (krone.at, 24.4.10)
Als ein weiteres Beispiel kann die Meinungsäußerung von zwei „Konsensgruppen“-Mitglieder zur jährlichen Ustascha-„Gedenkfeier“ am Loibacher Feld (bei Bleiburg/Pliberk) gelten, bei der kroatische Ustascha und ihre Anhänger alljährlich eine NS-nostalgische Massenveranstaltung abhalten. Heinz Stritzl, ehemaligen Chefredakteur der „Kleinen Zeitung“ und Konsensgruppenmitglied, äußerte die Hoffnung, dass diese Gedenkfeier „Loibach einen Tag der Besinnung“ bringen würde und das Wort von „Nie wieder Krieg“ in aller Zukunft wahr machen möge. Darum appellierte er: „Lasst sie gedenken!“ Franz Jordan, KHD-Vorstandsmitglied, sekundierte ihm mit dem Vorschlag, die Repräsentanten des Landes Kärnten sollten „sich auch einmal vor Ort einfinden, um der Opfer zu gedenken“. (Beide Stellungnahmen erschienen als „Leserbriefe“ in der „Kleinen Zeitung“ am 28. April 2018) Die Autoren nennen in diesem Zusammenhang als ein vorbildliches Beispiel für ein „würdevolles, friedliches Totengedenken“ das jährliche „gemeinsame Gedenken“ beim Massengrab im slowenischen Leše/Liescha. Der Hinweis darauf, dass dieses Gedenken von der „Konsensgruppe“ initiierte wurde, darf natürlich nicht fehlen. Beide Leserbrief-Schreiber „vergessen“ bei diesem Äpfel-mit-Birnen-Vergleich, dass am Loibacher Feld selbst weder ein Massaker stattfand und noch ein Massengrab existiert und dass bei den Ustascha-Veranstaltungen noch nie das Wort „Nie wieder Krieg“ zu hören war.
Marjan Sturm, einer der Proponenten der sog. Kärntner Konsensgruppe, selbst Nachfahre einer NS-Opferfamilie, hat den Sinn so eines permanenten Dialogisierens mit der Aussage auf den Punkt gebracht, „dass Opfer auch Täter werden können“. (2) Der tiefere Sinn so eines Statements liegt auf der Hand. Die „Logik“ der Täter-Opfer-Umkehr beginnt mit der Relativierung feststehender Positionen zu Gunsten scheinbar „neuer Problemstellungen“. Die Perspektive, die die Täter-Opfer-Umkehr ins Auge fasst, bietet gegenüber der „einseitigen“, parteinehmenden Geschichtsbetrachtung, wie sie nach Meinung der extremen Rechten die so genannten „Umerzieher“ bevorzugen, einige Erleichterungen für diejenigen, die sich in „Schuldabwehr“ ergehen. Zunächst einmal: Man verwirrt die Geister, die da geglaubt haben, über die Kriegsschuld sei eine Diskussion unzulässig, weil diese Frage unter Historikern schon längst geklärt sei. Und: Man möchte sich auf das demokratische Recht der „Meinungsfreiheit“ berufen, wenn man in Frage stellt, ob die deutsche und österreichische Täter-Gesellschaft tatsächlich die Hauptschuld an den Abermillionen Opfern des Zweiten Weltkriegs trifft. „Blauäugig“ gesagt: Es darf doch eine Diskussion darüber geben, ob der „Holocaust“ eine deutsche Erfindung war und ob er überhaupt, wie immer behauptet, ein politisches Ziel der Kriegsführung von Adolf Hitler und seiner Generäle gewesen sei!? Solche Diskurse müssten doch erlaubt sein, zumal die Mehrheit der Deutschen und Österreicher selbst „unschuldige Opfer“ ihres anerzogenen Führergehorsams waren. Im Grunde waren sie doch allesamt verführte Idealisten — „Opfer“ eben!
Auch in Kärnten/Koroška fanden sich „flexible“ Heimatforscher und Politiker, die den wahren Schuldigen auf diese Weise bereitwillig Alibis verschafften und ihnen ihr schlechtes Gewissen, so eines überhaupt da war, ausredeten. Zu erinnern ist etwa an die Ulrichsberg-Rede von 1990 des damaligen FPÖ-Landeshauptmannes Jörg Haider. Als heimatverbundener Burschenschafter und „Vertreter der jüngeren Generation, der es erspart geblieben ist, diese fürchterlichen Ereignisse der kriegerischen Auseinandersetzungen selbst miterleben zu müssen“ (Haider im O‑Ton), hielt er es für angebracht, festhalten zu müssen, „dass diese Soldatengeneration nicht nur nach 1945 in ganz Europa eine großartige Aufbauarbeit geleistet hat“, und dass „unsere Soldaten“ nicht Täter waren, sondern „bestenfalls Opfer, denn die Täter saßen woanders …“ Haiders damalige Schlussfolgerung: „Daher werde ich mich auch in Zukunft weigern (…) die so genannte Befreiungsmedaille der Republik Österreich an ehemalige Angehörige der Tito-Partisanen zu verleihen, weil auf Kärntner Boden kein Feind dieses Landes ausgezeichnet wird, solange ich Landeshauptmann bin.“ (3)
Bereits 10 Jahre nach Haiders Rede am Ulrichsberg, sollte die Ausstellung „Unter Hakenkreuz und Titostern/Med kljukastim križem in rdečo zvezdo” (2002) in Kärnten und Slowenien Furore machten. Jörg Haider war wieder Landeshauptmann. Er protegierte diese Ausstellung, die wohl das beste Beispiel dafür war, wie leicht das kollektive Bewusstsein in Kärnten durch simple Vergleiche in eine bestimmte Bahn gelenkt werden kann. Von dieser „Bahn“ haben wir bereits gesprochen. Die Ausstellungsmacher schrieben in der Einleitungim Katalog auf Seite 11: „Die Verhältnisse zwischen den Tätern und Opfern änderten sich ständig und oft derart grundlegend, dass so mancher Täter im Laufe der Ereignisse selbst zum Opfer wurde und umgekehrt.“
Die Strategie der „Konsensgruppe“ war also insofern erfolgreich, als Nachfahren der ehemaligen Täter heute Nachfahren der ehemaligen Opfer umarmen sollten und umgekehrt. Vladimir Jankélévitchschreibt darüber: Diese Geste hat „etwas Schändliches und Höhnisches“ an sich und kommt einer „schwerwiegenden Ungebührlichkeit gegenüber den Gemarterten“ gleich. (4) Mit dem Verwaschen und Verschwimmen von Täter- und Opferperspektive wurdeauch die ehemalige Polarität in der Geschichtsbetrachtung bis zur Unkenntlichkeit verwässert. Im Weihrauchnebel von Versöhnung und Vergebung verschwanden beim „gemeinsamen Totengedenken“ die Fragen nach Schuld und Sühne, die Fragen nach Vernichtung des Gegners und nach der Berechtigung von Gegenwehr und alle Fragen von Ursache und Folge, von Vergeltung und eigenmächtiger „Rachejustiz“. (5)
Den heutigen „Nachfahren“ und Versöhnungsaposteln wäre überdies ins Stammbuch zu schreiben, was Alexandre Oler, Sohn eines Holocaustopfers, mit den Worten seines Vater als Leitlinie der folgenden Generationen anempfohlen hat: „Wenn du das Böse vergessen kannst, vergiss. Doch vergiss nur Böses, das man dir selbst zugefügt hat. Wenn du das Böse vergeben willst, vergib. Doch vergib nur Böses, das du selbst erlitten hast. Vergiss oder vergib, mein Sohn, vergib UND vergiss, aber bitte nicht in meinem Namen. Denn was mich angeht, Freunde, tut mir leid, ich habe von den Opfern keinerlei Auftrag außer Zeugnis abzulegen.“ (6)
Mit Blick auf das kommende Jahr 2020, von dem bereits diverse „Manifeste“ künden, es werde das Jahr des grenzüberschreitenden interkulturellen Dialogs mit Angeboten der Versöhnung und des gegenseitigen Verständnisses, soll abschließend angemerkt werden: Die meisten der eingereichten und bewilligten Projekte, die dem Format „Carinthija 2020 — Zeitreisen und Perspektiven“folgen, sind getragen vom hehren Gedanken der Friedensbildung. (7) Projekte, die explizit zum Ziel haben, den grassierenden Neofaschismus und den erstarkten Rechtsextremismus, den gewaltbereiten Antisemitismus und den ausufernden Alltagsrassismus zu bekämpfen, wurden offenbar nicht eingereicht oder fielen bei der Auswahl durch.
Auch in dem auf mehrere Jahre angelegten Projekt „War is over. If you want it“, einer in Klagenfurt 2018 zur Erinnerung an den 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs gegründeten „Alpen-Adria-Friedensinitiative“, finden sich keine Hinweise oder Strategien, wie der in Europa angewachsenen Bedrohung durch extrem-nationalistische, rassistische und antisemitische Gruppen und Parteien zu begegnen ist. Es stellt sich die Frage, ob in diesem schönen Land Kärnten/Koroškadas Bewusstsein vorherrschend ist, wir würden immer noch auf einer „Insel der Seligen“ leben, und die neofaschistischen Terror-Aktivitäten und ‑netzwerke hielten von sich aus eine Art Respektabstand zu unserem Land „im Herzen Europas“. Oder glaubt man, wir seien davon in keiner Weise betroffen, wenn in Norwegen ein rechtsextremer Terrorist 77 Menschen (8 in einem Regierungsbüro und 69 Jugendliche in einem Feriencamp) in einem gnadenlosen Massaker niedermäht? Wenn in Halle a. d. Saale ein schwer bewaffneter Terrorist zwei Menschen ermordet, nachdem er sich den Zugang zum Inneren der Synagoge erfolglos freisprengen wollte? Wenn deutsche Abgeordnete (in diesem Fall zwei Politiker der Grünen) Morddrohungen erhalten? Wenn die rechtsextreme AfD, die mit Hassparolen und Aufhetzung den Boden für solche Angriffe vorbereiten half, in Regierungspositionen gewählt wird? Wenn Anhänger der PEGIDA und der „Identitären“ (unter Polizeischutz) bei ihren Demonstrationen mit rechtsextremen Parolen die Straßen in Besitz nehmen? Wenn das Bürgerbüro des aus dem Senegal stammenden SPD-Bundestagsabgeordneten eines Morgens mehrere Einschusslöcher aufwies? Wenn in Italien eine 90-jährige Holocaust-Überlebende wegen zahlloser Hass-Botschaften unter Polizeischutz gestellt werden muss? Wenn sich in Ungarn der Regierungschef mit seiner restriktiven und inhumanen Flüchtlingspolitik zum Vorbild für die Verteidigung der „Festung Europa“ hochstilisiert? Wenn sich in Kroatien jedes Jahr unter einer ideologisch wohlmeinenden Regierung Tausende neofaschistische Ustascha-Fans aufmachen, um mit ihren Fahnen und Emblemen in Bleiburg/Pliberk (Kärnten) aufzumarschieren? Wenn die neue österreichische Justizministerin Alma Zadic täglich im Netz mit Hasspostings, rassistischen Beschimpfungen und Morddrohungen konfrontiert ist?
Eigentlich sollte kein Zweifel daran bestehen, dass Österreich längst keine „Insel der Seligen“ mehr ist, denn Terrorattackenhat es in Österreich in den letzten 25 Jahren genügend gegeben. Zu Beginn dieser Zeitspanne stand 1995 der rassistische und „völkisch“ motivierte Mord durch eine Rohrbombe an vier burgenländischen Roma in Oberwart. Die österreichische Schriftstellerin Anna Mitgutsch schrieb damals: „Machen wir uns nichts vor – Oberwart war ein Symptom, das nicht unerwartet kam, und wir sind dabei, unsere Gesellschaft so zu gestalten, dass die Mordanschläge nicht eine schreckliche, isolierte Entgleisung gewesen sein werden, sondern Ausdruck einer sich auflösenden Demokratie.“ (8)
Fast 25 Jahre danach lesen wir in einer Presseaussendung (vom 25. November 2019), dass „drei Jahre nach dem aufsehenerregenden Brandanschlag auf ein Asylheim in Himberg (Niederösterreich) die Polizei vier Verdächtige im Alter zwischen 25 und 32 Jahren ausgeforscht hat. Drei von ihnen dürften laut Angaben der Polizei aus dem Umfeld der sog. „Identitären Bewegung Österreichs“ (IBÖ) stammen“. Man könnte meinen, der Rechtsextremismus sei wie der Phönix aus der Asche wieder aufgestiegen! Dem ist aber nicht so.
Offenbar waren alle bisherigen Ausschreitungen für die Politiker noch nicht hinreichend bedrohlich, um wirksame Abwehrkonzepte gegen den rechtsextremen Terror zu entwickeln und umzusetzen. Ob man 71 Leichen in einem Schlepper-Kühl-LKW kurz hinter der ungarisch-österreichischen Grenze (in Parndorf im Burgenland) entdeckte, oder ob in der Kärntner Gemeinde Hermagor der „rote“ SPÖ-Bürgermeister und seine 2 Stellvertreter zahlreiche Todesdrohungen von einem Gemeindebürger erhalten haben–nie gab es eine Verantwortlichkeit seitens der Politik für das Klima, das solche Verbrechen gedeihen ließ. Offenbar waren für keine der regierenden politischen Parteien solche Vorkommnisse Anlässe „Besorgnis“ öffentlich zu äußern oder über Präventivmaßnahmen nachzudenken. Sorgen hätte man sich vermutlich nur dann gemacht, wenn durch diesen Vorfall die politischen Alltagsgeschäfte massiv gestört worden wären oder wenn die Täter ihre Todesdrohungen wahr gemacht hätten.
In Kärnten/Koroška heißt offensichtlich der „New Deal“ der rechten Populisten mit den „Konsensbereiten“ so: Ihr kümmert euch nicht mehr um den „Antifaschismus“, und wir fördern die „Pluralität der Meinungen“. So können sich beiden Seiten im gegenseitig „Konsens“ stärken: Auf der einen Seite marginalisiert und ignoriert man die Antifaschisten, und auf der anderen Seite gewinnt man dadurch neue „Freunde“ und Partner beim politischen Aufstieg zu Macht und Ansehen. Mit anderen Worten: Wer sich brav und angepasst in den „Dialog“ einfügt und von den „linken“ Vergangenheitsinterpretationen Abstand nimmt, der darf an der „rechten Zukunft“ teilhaben. Der „Antifaschismus“ wird so allenfalls zu einem Negativbegriff, der von der herrschenden populistischen Politik gegen engagierte zivilgesellschaftliche Organisationen ins Treffen geführt werden kann. Diese verlockende Zukunftsaussicht hat Heinz Stritzl, als Seniormitglied des KHD und Mentor der „Konsensgruppe“, schon vor mehr als zehnJahren so umrissen: „Das Wühlen in der Vergangenheit versperrt den Weg in die gemeinsame Zukunft in Europa.“ (9)
Im Jubiläumsjahr 2020 Kärnten-Koroška „neu denken“? Ja sicher, aber wie? Die Wiener Journalistin Alexia Weiss hat (im Jüdischen Stadtmagazin „WINA“ im Novemberheft 2019, S. 45) die richtige Antwort darauf gegeben: Wir müssen die Gefahren rechter Gewaltentwicklung neu denken. Es braucht neue Strategien in der Abschätzung der rechtsextremen Gewaltpotentiale, die in der Vernetzung der europäischen Rechten liegen. Und wir brauchen neue politische Handlungsstrategien, um den rassistischen und antisemitischen Gewaltausbrüchen präventiv zu begegnen.
Fußnoten
1 Vladimir Jankélévitch (1903–1985) in seiner Abhandlung „Verzeihen?/Pardonner?“ aus dem Jahre 1971.Jankélévitch war Resistance-Kämpfer und später einer der profiliertesten Kritiker der Verdrängung der NS-Vergangenheitin Frankreich und derraschen deutsch-französischen Aussöhnung. Er kritisierte auch die Praxis, die eigentlichen Täter des Holocaust dadurch zu entlasten, indem man sie auch zu Opfern erklärte.
2 So Marjan Sturm in seiner Rede als Obmann des Zentralverbandes Slowenischer Organisationen in Kärnten bei der Gedenkveranstaltung für die Deserteure von Goldegg am 30. Juni 2018. — Marjan Sturm wolle die Konsens-Freundschaft mit Feldner auch als „Dienst an der Heimat“ abgebucht sehen. Die „Kleine Zeitung“ zitierte (am 3. März 2019) in einer Titelzeile ihn wörtlich: „Kärnten hat sich das offenere Klima verdient.“
3 Aus der Verbandszeitschrift „Die Kameradschaft“, 11/1990, zitiert nach dem „Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus“, herausgegeben vom DÖW, Wien 1993, S. 251
4 Vladimir Jankélévitch: Das Unverjährbare (1971). In: Vladimir Jankélévitch: Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie. Frankfurt/M. 2004, S. 246–282
5 Diesen Gedanken habe ich erstmals in meiner Rede bei der Gedenkveranstaltung beim Partisanendenkmal in Ferlach/Borovlje am 31.10.2003vorgetragen.
6 Zitiert aus dem Buch von Alexandre Oler und David Olère: Vergessen oder Vergeben. Bilder aus der Todeszone. (Deutsche Ausgabe) Springe 2004, S. 11
7 Die Projekte, werden aus dem Gesamtbudget der „Landesausstellung“ (in der Höhe von 7,8 Millionen Euro) finanziert. Offiziell heißt es, die Projekte sollen aktiv von der Bevölkerung mitgestaltet werden.
8 In der Zeitschrift „BEHINDERTE in Familie, Schule und Gesellschaft“, Heft 2/1995, S. 36 — Vgl. in diesem Heft auch meinen Beitrag „Gewalt gegen Minderheiten – jetzt auch in Österreich“, S. 21 – 26
9 Das Zitat stammt aus dem Nachwortvon Heinz Stritzl zum Dialog-Buch „Kärnten neu denken“ von Josef Feldner und Marjan Sturm (Klagenfurt/Celovec 2007, S. 252)