In Österreich wurden die besonderen Umstände, unter denen ein Häftling im April 2018 aus der Justizanstalt Garsten (Oberösterreich) nach einem Freigang abgetaucht ist, um sieben Wochen später auf einem Bauernhof in Sachsen-Anhalt von Zielfahndern aufgegriffen zu werden, bisher nicht wirklich öffentlich erörtert. Nur das Boulevard-Blatt „Kronenzeitung“ gab mit der Meldung, dass der „Prostituiertenmörder“ Gerhard S. beim „Kirschenpflücken“ auf einem Neonazi-Bauernhof gesehen wurde, einen knappen Hinweis darauf, wohin die Reise tatsächlich ging.
Der Neonazi-Bauernhof, den die „Kronenzeitung“ etwas ungenau in Sachsen verortete, liegt tatsächlich in Sachsen-Anhalt, und zwar in Görschen bei Naumburg. Ob der Bauernhof dort noch immer im Eigentum von Philip Tschentscher steht, der als „Reichstrunkenbold“ widerliche antisemitische und nazistische Liedchen trällert, ist unklar. Zwischendurch war Tschentschers bäuerliches Leben in Görschen dadurch gestört worden, dass er eine dreijährige Haftstrafe wegen NS-Wiederbetätigung und Verstoß gegen das Waffengesetz in Österreich verbüßen musste.
Wie einige seiner Neonazi-Freunde aus Deutschland war Tschentscher vorher auf einem Bauernhof in Österreich aktiv gewesen. Im nach der Hausnummer 21 im Ortsteil Windern in der Gemeinde Desselbrunn in Oberösterreich benannten „Objekt 21”, haben österreichische Neonazis über mehrere Jahre hinweg einen Bauernhof als regionalen Stützpunkt und Rückzugsort genutzt. (Vgl. AIB Nr.98 und Nr. 104)
Die Kirschen werden es aber wohl eher nicht gewesen sein, die Gerhard S. bis nach Görschen geführt haben. Warum aber landet ein Prostituiertenmörder, der nach über zwanzig Jahren Haft bei einem die Haftentlassung vorbereitenden Freigang in Oberösterreich abtaucht, auf einem Neonazi-Bauernhof in Sachsen-Anhalt? Dafür gibt es zwei denkbare Erklärungen:
Die eine knüpft an seine Vergangenheit im Rotlicht-Milieu an. Im Dezember 1996 wurde Gerhard S. verhaftet, weil er verdächtigt wurde, die Prostituierte Petra K. im Auftrag ihres Zuhälters Georg W. äußerst brutal ermordet zu haben. Die „Kronenzeitung“ schrieb am 31. August 1997 über die Tat: „Die Frau mußte sich im Keller eines Abbruchhauses niederknien, S. setzte ihr einen Revolver am Genick an. Nach einem Fehlversuch drückte er ein zweites Mal ab.“ (Siehe auch: Kronen Zeitung, „Flucht bei Freigang – Prostituiertenmörder beim Kirschpflücken verhaftet” von Christoph Gantner, 26.6.2018)
Gerhard S. und sein Auftraggeber Georg W. wurden in einem Geschworenenprozess in Jahr 1997 zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Strafprozess kam kurz zur Sprache, dass Gerhard S. im Wiener Resselpark neben einer Schule eine Handgranate vergraben hatte. Ein Linzer, der in einem Wiener Park eine Handgranate vergräbt? Weshalb? Das wurde im Prozess ebenso wenig genauer beleuchtet wie der Umstand, dass sein Auftraggeber Georg W., der sich im Jahr 2001 in der Haft das Leben nahm, Kontakte zum Wiener Neonazi Gottfried Küssel hatte: „Fotos im Akt belegten seine Kontakte zu rechtsradikalen Kreisen. Sie zeigen den Waffennarren mit dem Neonazi Gottfried Küssel und bei Schießübungen vor einem Kleinkind.“ (vgl. „Kronen Zeitung vom 31.8.1997)
Viel wahrscheinlicher als irgendwelche denkbaren, aber diffusen Neonazi-Beziehungen aus den 1990er Jahren ist ohnehin die Erklärung, dass der Mörder aus dem Rotlicht-Milieu in den letzten Jahren seiner Haft die Neonazi-Kameraden vom „Objekt 21” kennengelernt hat, die ebenfalls einige Erfahrung im Rotlicht-Milieu haben. Einige der Neonazis vom „Objekt 21” wurden nämlich, nachdem sie Anfang 2013 wegen ihrer kriminellen Aktivitäten aufgeflogen waren, in der Folge zu Haftstrafen wegen einer breiten Palette von Delikten verurteilt, die von Diebstahl, Raub, Körperverletzung, Erpressung, Drogen- und Waffenhandel, Brandstiftungen im Rotlicht-Milieu bis hin zur NS-Wiederbetätigung reichten. Unter den Verurteilten waren auch Neonazis aus Thüringen wie Steffen Mäder von der „Hausgemeinschaft Jonastal“ (2014 zu drei Jahren Haft verurteilt) und Andreas P. aus Gotha, der „Mann fürs Grobe“, der mit seinen Aussagen einige seiner Kameraden belastet hatte (verurteilt zu drei Jahren, neun Monaten und zwei Wochen Haft).
Aus polizeilichen Unterlagen ging hervor, dass Andreas P. noch während der Untersuchungshaft aus dem Kreis seiner ebenfalls inhaftierten Neonazi-Kameraden massiv bedroht und alternativ mit einem lukrativen Angebot zum Schweigen gebracht werden sollte.
Jürgen Windhofer, der eigentliche Chef von „Objekt 21”, hatte schon während seiner Haft, die er zwischen 2010 und 2012 wegen NS-Wiederbetätigung im „Kampfverband Oberdonau“ in der Justizanstalt Suben in Oberösterreich verbringen musste, aus der Zelle und bei Freigängen die kriminellen Aktivitäten von „Objekt 21” koordiniert und dafür Mithäftlinge begeistern können. Windhofer – das geht aus Aussagen von späteren „Objekt 21”-Aktivisten hervor – hat schon die alte Haftzeit für Bekehrungsversuche zur Nazi-Ideologie genutzt und diese publizistisch über seine Facebook-Konten begleitet. Den Button „Freiheit für Wolle“, also für Ralf Wohlleben, zeigte Windhofer zeitweilig auf seinem Facebook-Titelfoto.

„Objekt 21” entwickelte sich vor und während der Haftzeit seines Neonazi-Kapos Windhofer – gefördert durch dessen zahlreiche Freigänge – zu einem über die regionale Szene hinausreichenden Anlaufpunkt für Neonazis, wobei die kriminellen Komponenten bei den Aktivitäten des zunächst als „Kulturverein“ gegründeten braunen Projekts zunehmend an Bedeutung gewannen.
Vor allem mit der Neonazi-„Hausgemeinschaft Jonastal” in Crawinkel (Thüringen) gab es rege Kontakte. Steffen Mäder (“Fränny“) und Tino K. („Krafti”) waren beispielsweise in diverse Aktivitäten von „Objekt 21” eingebunden – vom „Escort-Service“ bis hin zu Einbrüchen und Brandanschlägen.
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Gerhard S. tauchte im Frühjahr 2018 nach seinem heimlichen Abgang aus der Haftanstalt Garsten aber nicht in Thüringen auf einem Bauernhof auf, sondern in Sachsen-Anhalt. Das ist deshalb interessant, weil sich auch dort Neonazis von „Objekt 21” versammelt hatten. Ein Foto, das ein früherer „Objekt 21”-Aktivist aus Oberösterreich im Dezember 2017 auf Facebook veröffentlichte, zeigt eine fröhliche, aus Österreichern und Deutschen gemischte Neonazi-Runde – am Bauernhof in Görschen. Freilich kann das Foto schon älter sein – der Bauernhof ist jedoch derselbe, auf dem Gerhard S. die Kirschen pflückte.
Fast alle der verurteilten Aktivisten von „Objekt 21” sind mittlerweile aus der Haft entlassen worden, haben viel Freizeit und beschäftigen sich vermutlich mit ihren politischen und beruflichen Perspektiven. Kirschenpflücken wird nicht darunter sein.
Update 25.1.19: Laut Anfragebeantwortung sind der Justiz keinerlei Kontakte zwischen Gerhard S. und Mitgliedern der Gruppe Objekt 21 bekannt.
Links
https://www.antifainfoblatt.de/artikel/objekt-21
Auf Stopptdierechten.at haben wir uns in einer Unzahl von Beiträgen mit Objekt 21 beschäftigt https://www.stopptdierechten.at/?s=objekt+21
Die parlamentarische Anfrage von Sabine Schatz (SPÖ)
Eingelangt am 16.11.2018
Dieser Text wurde elektronisch übermittelt. Abweichungen vom Original sind möglich.
ANFRAGE
der Abgeordneten Sabine Schatz, GenossInnen an den Bundesminister für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz
betreffend die Haft von Gerhard S. und Kontakte zum Objekt-21-Netzwerk
Gerhard S. saß seit 1997 eine Haftstrafe ab, weil er eine als Sexarbeiterin tätige junge Frau in Linz ermordete. Schon damals gab es in der Kronen-Zeitung berichte darüber, dass S. Kontakte zur Neo-Nazi-Szene gehabt haben soll: „Fotos im Akt belegten seine Kontakte zu rechtsradikalen Kreisen. Sie zeigen den Waffennarren mit dem Neonazi Gottfried Küssel und bei Schießübungen vor einem Kleinkind.“[1] Am 30. April 2018 kehrte der Häftling S. von einem Freigang samt Übernachtung nicht mehr in die Haftanstalt zurück, deutsche und österreichische BeamtInnen griffen den Mann auf einem Bauernhof in Naumburg (Bundesland Sachsen-Anhalt) auf[2]. Dieser Umstand ist insofern interessant, als dass die Kronen-Zeitung berichtet, S. sei wochenlang „in der Neonazi-Szene im deutschen Bundesland Sachsen untergetaucht“[3] gewesen. Der Burgenlandkreis, in dem S. auftauchte, gilt als auffälliger Sammelpunkt neonazistischer Aktivitäten.[4] So ist in der Nähe der Stadt Naumburg etwa ein Neonazi-Bauernhof in Görschen bekannt, der über enge Verbindungen zur österreichischen Neonazi-Szene verfügt. So verbrachte nicht nur der als „Reichstrunkenbold“[5] bekannte Neonazi Philip T. längere Zeit an diesem Hof, sondern auch „Krafti‘“, der für das „Objekt 21“ im „S & K Management“ tätig war.[6] T. saß in Österreich eine Haftstrafe von drei Jahren wegen Wiederbetätigung ab und gehörte zum Objekt 21-Netzwerk. Ein Foto zeigt Neonazis aus dem Objekt-21-Netzwerk – unter anderem Manuel Spindler[7] und Tino K. („Krafti“) mit lokalen Neonazis aus Sachsen-Anhalt.
Daher richten die unterfertigten Abgeordneten an den Bundesminister für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz folgende
Anfrage
- Hatte Gerhard S. während seiner Haft Kontakt zu Jürgen Windhofer[8]?
a)Wenn ja, wie lange und wo? - Hatte Gerhard S. während seiner Haft Kontakt zu Manuel Spindler?
a) Wenn ja, wie lange und wo? - Hatte Gerhard S. während seiner Haft Kontakte zu anderen ebenfalls inhaftierten Personen aus dem Objekt-21-Netzwerk?
a) Wenn ja, wie lange und wo? - Ist in Ihrem Vollziehungsbereich bekannt, ob Gerhard S. während seiner Freigänge Kontakt zu Jürgen Windhofer hatte?
a) Wenn ja, wie lange und wo? - Ist in Ihrem Vollziehungsbereich bekannt, ob Gerhard S. während seiner Freigänge Kontakt zu Manuel Spindler hatte?
a) Wenn ja, wie lange und wo? - Ist in Ihrem Vollziehungsbereich bekannt, ob Gerhard S. während seiner Freigänge Kontakt zu anderen Neonazis und Rechtsextremisten aus dem Umfeld des O hatte?
a) Wenn ja, wie lange und wo? - Verfügen Sie in Ihrem Vollziehungsbereich über andere Informationen, warum Gerhard S. ausgerechnet auf jenen Bauernhof floh, bei dem es Kontakte zu Neonazis und Rechtsextremisten aus dem Umfeld des Objekt 21 gibt? (Bitte um Ausführung)
- Gibt es Kontakte zwischen Ihrem Vollziehungsbereich und dem Vollziehungsbereich des Innenministers in der Frage einer möglichen neonazistischen Rekrutierung in Haftanstalten a) in Österreich allgemein und b) in Oberösterreich im Besonderen? (Bitte um inhaltliche Ausführung)
a) Wenn ja, seit wann?
b) Wenn nein, warum nicht? - Gibt es Kontakte zwischen Ihnen bzw. Organen in Ihrem Vollziehungsbereich und den deutschen Behörden (insb. Verfassungsschutz des Bundes und der Länder) in der Frage des Austausches zwischen Insassen österreichischer Haftanstalten und österreichischen und deutschen Rechtsextremisten bzw. Neonazis? (Bitte um inhaltliche Ausführung)
a) Wenn ja, seit wann?
b) Wenn nein, warum nicht? - Im Jahr 2016 wurden fünf Männer als Beteiligte am kriminellen Netzwerk um das Objekt-21, damals im Alter zwischen 28 und 32 Jahren, am Landesgericht Wels zu Strafen zwischen 24 Monaten teilbedingt und drei Monaten bedingt sowie zu Geldstrafen verurteilt[9]. Wann traten Verurteilte unbedingte Haftstrafen an und wo?
a) Wie lange waren die tatsächlichen Haftzeiten jener, die zu unbedingten Haftstrafen verurteilt wurden?
b) Wann wurde jene, die zu unbedingten Haftstrafen verurteilt wurden, entlassen?
i) Falls die Haft noch aufrecht ist, wann ist eine Haftentlassung geplant? - Mussten jene, die zu bedingten Haftstrafen verurteilt wurden, auf Grund anderer Straftaten zu Haftstrafen antreten?
a) Wenn ja, wo?
b) Wenn ja, wie lange betrug die tatsächliche Haftzeit?
c) Wenn ja, wann war die Haftentlassung?
[1Kronen-Zeitung zitiert nach https://www.stopptdierechten.at/2018/07/25/der-moerder-und-die-neonazis/, abgerufen am 13. November 2018
[2]https://www.nachrichten.at/oberoesterreich/Geflohener-Moerder-nach-sieben-Wochen-im-Ausland-verhaftet;art4,2934445, abgerufen am 13. November 2018
[3]https://www.krone.at/1729429, abgerufen am 13. November 2018
[4]http://www.belltower.news/artikel/rechtsextremismus-sachsen-anhalt-7869, abgerufen am 13. November 2018
[5]https://www.stopptdierechten.at/2014/01/19/korneuburg-no-drei-jahre-fur-den-reichstrunkenbold/, abgerufen am 13. November 2018
[6]https://www.stopptdierechten.at/2018/07/25/der-moerder-und-die-neonazis/, abgerufen am 13. November 2018
[7]Zur Rolle von Manuel Spindler im Objekt-21-Netzwerk vgl. u.a. https://www.stopptdierechten.at/2013/01/24/objekt-21-kriminell-und-nationalsozialistisch/und https://www.stopptdierechten.at/2015/03/20/objekt-21-prozess-gegen-zwei-frauen/(beide abgerufen am 13. November 2018)
[8]Jürgen Windhofer bezeichnet die Plattform stopptdierechten.at als „der Boss der Neonazi-Truppe „Objekt 21“, vgl. https://www.stopptdierechten.at/2016/10/10/die-nazis-im-freigang/, abgerufen am 13. November 2018
[9]https://ooe.orf.at/news/stories/2801219/, abgerufen am 13. November 2018