Die braunen Flecken der ÖVP als Leerstellen

Dieser Film hat in den let­zten Monat­en die his­torisch Inter­essierten gefes­selt: Mur­er – Anatomie eines Prozess­es“. Er erzählt die Geschichte des skan­dalösen Graz­er Prozess­es gegen den Massen­mörder und späteren ÖVP-Funk­tionär Franz Mur­er. Den „Schlächter von Wilna“ sucht man aber verge­blich in der von Michael Wladi­ka ver­fassten Studie des „Karl-von-Vogel­sang-Insti­tuts“ zu den braunen Fleck­en in der ÖVP.

Franz Mur­er (rechts) und davor SA-Sturm­ban­n­führer Hans Chris­t­ian Hingst (als Stadtkom­mis­sar Mur­ers Vorge­set­zter in Vilnius)

Die Diskus­sio­nen um die braune Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart der FPÖ wird seit langem geführt, und es gibt darüber auch unzäh­lige Pub­lika­tio­nen. Mit dem Ein­tritt der FPÖ in die Regierung und den bei­den Lieder­buch­skan­dalen sah sich die blaue Parteispitze gemüßigt, eine His­torik­erkom­mis­sion einzuricht­en, um unter Fed­er­führung von eige­nen Parteim­it­gliedern die Parteigeschichte aufzuar­beit­en. Was bei der bekan­nten Beset­zung dieser Kom­mis­sion rauskom­men kann, bleibt dahingestellt – allzu viel ist davon eher nicht zu erwarten. Dass aber die ÖVP ihren Anteil an der Aufar­beitung ihrer sehr braunen Geschichte nur mar­gin­al geleis­tet hat, wird kaum disku­tiert. Zu Unrecht, denn ein Blick in die im Mai präsen­tierte Studie „Zur Repräsen­tanz von Poli­tik­ern und Man­dataren mit NS-Ver­gan­gen­heit in der Öster­re­ichis­chen Volkspartei 1945–1980“ zeigt, dass viele, zu viele Leer­stellen geblieben sind.

Ein euphemistis­ches „Wir haben die Welt gese­hen”, dazu die Front­gren­zen bzw. Kriegss­chau­plätze der deutschen Wehrmacht

Da ist schon ein­mal der Zeit­punkt des Erscheinens: Laut Eige­nangabe hat­te die ÖVP 2005 – nach Präsen­ta­tion der dur­chaus respek­tablen SPÖ-Studie – sich dazu entschlossen, die Parteigeschichte aufzuar­beit­en. 13 Jahre später liegen nun 200 Seit­en vor, die von einem einzi­gen His­torik­er erar­beit­et wur­den. Im Ver­gle­ich dazu: An der SPÖ-Studie arbeit­eten sechs Wis­senschaf­terIn­nen fünf Jahre lang, und sie legten 360 Seit­en vor.1

Wieso aber wurde die Studie erst jet­zt fer­tig und veröf­fentlicht? ‚Das hat mit der teils schwieri­gen Quellen- und Forschungssi­t­u­a­tion zu tun’, sagt Wohnout. Er ver­weist auf die teils über­bor­dende NS-Bürokratie, deren Ämter sich bisweilen gegeneinan­der um ihre Zuständigkeits­bere­iche rangen, sowie auf die auf ver­schiedene Archive aufgeteil­ten Bestände. Der Stu­di­en­au­tor betont zudem, die Forschungsar­beit in ein­er Neben­tätigkeit ver­richtet zu haben. (wienerzeitung.at, 3.5.18)

Dem ste­ht die SPÖ-Studie gegenüber, deren AutorIn­nen – so ist es anzunehmen – keine leichtere Quellen- und Forschungssi­t­u­a­tion vorge­fun­den hat­ten – eher im Gegen­teil, da früher die Forschun­gen durch den beschränk­ten Zugang an Archiv­ma­te­r­i­al noch schwieriger gewe­sen sind.

Durch die schlecht­en Rah­menbe­din­gun­gen, die seit­ens der ÖVP vorgegeben wur­den, ist es auch wenig ver­wun­der­lich, dass sich die von ihr präsen­tierte Studie auf eine Nazi-Zäh­lerei unter den ober­sten Funk­tion­strägern der ÖVP beschränkt und nur wenig über die poli­tis­che Strate­gie der ÖVP im Umgang mit den „Ehe­ma­li­gen“ aussagt. 

Es fehlt hier nicht nur der ein­gangs zitierte Franz Mur­er, son­dern beispiel­sweise auch der berüchtigte Anti­semit Taras Boro­da­jkewycz, der – pro­te­giert durch ÖVP-Unter­richtsmin­is­ter Hein­rich Drim­mel und den späteren Bun­deskan­zler Josef Klaus – einen Lehrstuhl an der Hochschule für Welthandel erhal­ten hat­te und dort seine skan­dalösen Vor­lesun­gen hielt. Die „Affäre Boro­da­jkewycz“ hat das Land in den 60er-Jahren aufgewühlt: Die Mitschrift ein­er Vor­lesung durch den dama­li­gen Stu­den­ten und spätere Finanzmin­is­ter Fer­di­nand Lacina führte erst­mals in Öster­re­ich zu ein­er bre­it­eren Diskus­sion über den Umgang mit der NS-Ver­gan­gen­heit und dem Antisemitismus.

Auf ein­er Demon­stra­tion gegen Taras Boro­da­jkewycz wurde der Antifaschist Ernst Kirch­weger von einem Burschen­schafter ermordet

Beson­ders schmer­zlich ver­misst man Hin­weise auf das aktive Wer­ben der ÖVP um ehe­ma­lige Nazis. Das bleibt ver­bor­gen im Dunkel des schwarzen Parteikellers. Schon ein flüchtiger Blick auf Wikipedia ist da deut­lich erhel­len­der: Dort wird beispiel­sweise die Ober­weis­er Kon­ferenz aus­führlich dargestellt, das waren geheim gehal­tene Ver­hand­lun­gen führen­der Vertreter der ÖVP wie Julius Raab und Alfred Male­ta mit ehe­mals hochrangi­gen Nazis am 28. Mai 1949 in der oberöster­re­ichis­chen Gemeinde Ober­weis. Erörtert wur­den die Bedin­gun­gen für eine Unter­stützung der Volkspartei durch die „Ehe­ma­li­gen“.

Ähn­liche Ver­suche ein­er Ver­schmelzung des katholisch-kon­ser­v­a­tiv­en mit dem deutschna­tionalen Lager gab es nicht nur auf Bun­de­sebene, son­dern auch in den Bun­deslän­dern. In der Steier­mark beispiel­sweise ver­sucht­en das speziell der spätere Bun­deskan­zler Alfons Gor­bach – wie Male­ta ehe­ma­liger KZ-Häftling – und der „Ennstaler Kreis“.

Sehr erfol­gre­ich war man dies­bezüglich in Vorarl­berg. Fast alle führen­den Indus­triellen des Lan­des waren Nazis, macht­en als NS-Funk­tionäre Kar­riere und viele prof­i­tierten von „Arisierun­gen“. Nach 1945 fan­den die meis­ten von ihnen – mit mehr oder weniger großer Begeis­terung – eine poli­tis­che Heimat in der ÖVP. Mit dem NSDAP- und SS-Mit­glied Rudolf Häm­mer­le wird ein einziger von ihnen in der Studie erwäh­nt: Er zog für die ÖVP in den Nation­al­rat ein. Inter­es­sant wären aber auch andere gewe­sen – wie etwa der spätere ÖVP-Land­tagsab­ge­ord­nete Hans Ganahl. Dass sie alle 1945 erst ein­mal ver­haftet und als „schwer­be­lastet“ eingestuft wor­den waren, ver­ste­ht sich von selb­st. Dass sie anschließend poli­tisch wieder „mit­mis­cht­en“, ver­ste­ht sich nur aus dem dama­li­gen poli­tis­chen Machtkalkül, die wirtschaftlich Mächti­gen an die ÖVP zu binden. Dass mit Elmar Grab­herr mehr als zwanzig Jahre ein ehe­mals fanatis­ch­er Nation­al­sozial­ist Lan­desamts­di­rek­tor und somit der höch­ste Beamte des Lan­des war, ver­wun­dert da kaum noch.

Auf solche Entwick­lun­gen geht die Studie lei­der nicht ein. Als sta­tis­tis­che Erfas­sung ist sie kor­rekt und gibt Auskun­ft darüber, welche ehe­ma­li­gen Nazis als ÖVP-Mit­glieder im Nation­al­rat und Bun­desrat waren, zu Min­is­tern oder Lan­desräten auf­stiegen, Land­tagspräsi­den­ten oder Klubob­män­nern (männliche Form bewusst gewählt) wur­den – mehr als eine Aufzäh­lung aber ist sie nicht und somit his­torisch lei­der wenig aussagekräftig.

In drei Face­book-Grup­pen (FV JusAk­tiv, Aktive AG Jusler und FVJus­Män­nerkollek­tiv) und der What­sApp-Gruppe Badass war­lords tauscht­en sich Mit­glieder der ÖVP-nahen Aktion­s­ge­mein­schaft (AG) Jus aus. Darin wur­den Bilder wie dieses gepostet

Der His­torik­er und Jour­nal­ist Wern­er Reisinger von der Wiener Zeitung hat genauer nachge­fragt, wie es nun weit­erge­ht: „Welche Schlüsse aber zieht nun die ÖVP aus den Ergeb­nis­sen der Studie? Und wieso wird sie genau jet­zt — mit­ten in der Debat­te um die FPÖ-Kom­mis­sion — veröf­fentlicht? Wladi­ka und Wohnout ver­weisen auf die poli­tis­che Ebene. Genaueres war ÖVP-Gen­er­alsekretär Karl Neham­mer am Mittwoch nicht zu ent­lock­en. Aus dessen Büro aber heißt es schriftlich: ‚Wir wer­den nun auf Grund­lage dieser Ergeb­nisse die Geschichte der Volkspartei kri­tisch sicht­bar machen, ohne Geschicht­slöschung zu betreiben. Wir wer­den in Zukun­ft Funk­tionäre und Mit­glieder ver­stärkt mit diesem Teil der Parteigeschichte ver­traut machen.’”

In drei Face­book-Grup­pen (FV JusAk­tiv, Aktive AG Jusler und FVJus­Män­nerkollek­tiv) und der What­sApp-Gruppe Badass war­lords tauscht­en sich Mit­glieder der ÖVP-nahen Aktion­s­ge­mein­schaft (AG) Jus aus. Darin wur­den Bilder wie dieses gepostet

Nun, an fähi­gen Wis­senschaf­terIn­nen, die die schwarz-braune Parteigeschichte ordentlich und umfassender aufar­beit­en kön­nten, liegt es nicht. Und wohl auch nicht daran, dass die ÖVP dafür keine Finanzen hätte. Es braucht nur den Willen der Parteispitze, es endlich zu tun – auch wenn ihr Parte­ichef Sebas­t­ian Kurz damals noch nicht geboren war. Als der AG-Leaks-Skan­dal pub­lik wurde, war Kurz immer­hin schon VP-Obmann. 

1 Im Anschluss daran pub­lizierte auch der „Bund sozialdemokratis­ch­er Akademik­erIn­nen“ (BSA) seine eigene Studie.