Die Diskussionen um die braune Vergangenheit und Gegenwart der FPÖ wird seit langem geführt, und es gibt darüber auch unzählige Publikationen. Mit dem Eintritt der FPÖ in die Regierung und den beiden Liederbuchskandalen sah sich die blaue Parteispitze gemüßigt, eine Historikerkommission einzurichten, um unter Federführung von eigenen Parteimitgliedern die Parteigeschichte aufzuarbeiten. Was bei der bekannten Besetzung dieser Kommission rauskommen kann, bleibt dahingestellt – allzu viel ist davon eher nicht zu erwarten. Dass aber die ÖVP ihren Anteil an der Aufarbeitung ihrer sehr braunen Geschichte nur marginal geleistet hat, wird kaum diskutiert. Zu Unrecht, denn ein Blick in die im Mai präsentierte Studie „Zur Repräsentanz von Politikern und Mandataren mit NS-Vergangenheit in der Österreichischen Volkspartei 1945–1980“ zeigt, dass viele, zu viele Leerstellen geblieben sind.
Da ist schon einmal der Zeitpunkt des Erscheinens: Laut Eigenangabe hatte die ÖVP 2005 – nach Präsentation der durchaus respektablen SPÖ-Studie – sich dazu entschlossen, die Parteigeschichte aufzuarbeiten. 13 Jahre später liegen nun 200 Seiten vor, die von einem einzigen Historiker erarbeitet wurden. Im Vergleich dazu: An der SPÖ-Studie arbeiteten sechs WissenschafterInnen fünf Jahre lang, und sie legten 360 Seiten vor.1
Wieso aber wurde die Studie erst jetzt fertig und veröffentlicht? ‚Das hat mit der teils schwierigen Quellen- und Forschungssituation zu tun’, sagt Wohnout. Er verweist auf die teils überbordende NS-Bürokratie, deren Ämter sich bisweilen gegeneinander um ihre Zuständigkeitsbereiche rangen, sowie auf die auf verschiedene Archive aufgeteilten Bestände. Der Studienautor betont zudem, die Forschungsarbeit in einer Nebentätigkeit verrichtet zu haben. (wienerzeitung.at, 3.5.18)
Dem steht die SPÖ-Studie gegenüber, deren AutorInnen – so ist es anzunehmen – keine leichtere Quellen- und Forschungssituation vorgefunden hatten – eher im Gegenteil, da früher die Forschungen durch den beschränkten Zugang an Archivmaterial noch schwieriger gewesen sind.
Durch die schlechten Rahmenbedingungen, die seitens der ÖVP vorgegeben wurden, ist es auch wenig verwunderlich, dass sich die von ihr präsentierte Studie auf eine Nazi-Zählerei unter den obersten Funktionsträgern der ÖVP beschränkt und nur wenig über die politische Strategie der ÖVP im Umgang mit den „Ehemaligen“ aussagt.
Es fehlt hier nicht nur der eingangs zitierte Franz Murer, sondern beispielsweise auch der berüchtigte Antisemit Taras Borodajkewycz, der – protegiert durch ÖVP-Unterrichtsminister Heinrich Drimmel und den späteren Bundeskanzler Josef Klaus – einen Lehrstuhl an der Hochschule für Welthandel erhalten hatte und dort seine skandalösen Vorlesungen hielt. Die „Affäre Borodajkewycz“ hat das Land in den 60er-Jahren aufgewühlt: Die Mitschrift einer Vorlesung durch den damaligen Studenten und spätere Finanzminister Ferdinand Lacina führte erstmals in Österreich zu einer breiteren Diskussion über den Umgang mit der NS-Vergangenheit und dem Antisemitismus.
Besonders schmerzlich vermisst man Hinweise auf das aktive Werben der ÖVP um ehemalige Nazis. Das bleibt verborgen im Dunkel des schwarzen Parteikellers. Schon ein flüchtiger Blick auf Wikipedia ist da deutlich erhellender: Dort wird beispielsweise die Oberweiser Konferenz ausführlich dargestellt, das waren geheim gehaltene Verhandlungen führender Vertreter der ÖVP wie Julius Raab und Alfred Maleta mit ehemals hochrangigen Nazis am 28. Mai 1949 in der oberösterreichischen Gemeinde Oberweis. Erörtert wurden die Bedingungen für eine Unterstützung der Volkspartei durch die „Ehemaligen“.
Ähnliche Versuche einer Verschmelzung des katholisch-konservativen mit dem deutschnationalen Lager gab es nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in den Bundesländern. In der Steiermark beispielsweise versuchten das speziell der spätere Bundeskanzler Alfons Gorbach – wie Maleta ehemaliger KZ-Häftling – und der „Ennstaler Kreis“.
Sehr erfolgreich war man diesbezüglich in Vorarlberg. Fast alle führenden Industriellen des Landes waren Nazis, machten als NS-Funktionäre Karriere und viele profitierten von „Arisierungen“. Nach 1945 fanden die meisten von ihnen – mit mehr oder weniger großer Begeisterung – eine politische Heimat in der ÖVP. Mit dem NSDAP- und SS-Mitglied Rudolf Hämmerle wird ein einziger von ihnen in der Studie erwähnt: Er zog für die ÖVP in den Nationalrat ein. Interessant wären aber auch andere gewesen – wie etwa der spätere ÖVP-Landtagsabgeordnete Hans Ganahl. Dass sie alle 1945 erst einmal verhaftet und als „schwerbelastet“ eingestuft worden waren, versteht sich von selbst. Dass sie anschließend politisch wieder „mitmischten“, versteht sich nur aus dem damaligen politischen Machtkalkül, die wirtschaftlich Mächtigen an die ÖVP zu binden. Dass mit Elmar Grabherr mehr als zwanzig Jahre ein ehemals fanatischer Nationalsozialist Landesamtsdirektor und somit der höchste Beamte des Landes war, verwundert da kaum noch.
Auf solche Entwicklungen geht die Studie leider nicht ein. Als statistische Erfassung ist sie korrekt und gibt Auskunft darüber, welche ehemaligen Nazis als ÖVP-Mitglieder im Nationalrat und Bundesrat waren, zu Ministern oder Landesräten aufstiegen, Landtagspräsidenten oder Klubobmännern (männliche Form bewusst gewählt) wurden – mehr als eine Aufzählung aber ist sie nicht und somit historisch leider wenig aussagekräftig.
Der Historiker und Journalist Werner Reisinger von der Wiener Zeitung hat genauer nachgefragt, wie es nun weitergeht: „Welche Schlüsse aber zieht nun die ÖVP aus den Ergebnissen der Studie? Und wieso wird sie genau jetzt — mitten in der Debatte um die FPÖ-Kommission — veröffentlicht? Wladika und Wohnout verweisen auf die politische Ebene. Genaueres war ÖVP-Generalsekretär Karl Nehammer am Mittwoch nicht zu entlocken. Aus dessen Büro aber heißt es schriftlich: ‚Wir werden nun auf Grundlage dieser Ergebnisse die Geschichte der Volkspartei kritisch sichtbar machen, ohne Geschichtslöschung zu betreiben. Wir werden in Zukunft Funktionäre und Mitglieder verstärkt mit diesem Teil der Parteigeschichte vertraut machen.’”
Nun, an fähigen WissenschafterInnen, die die schwarz-braune Parteigeschichte ordentlich und umfassender aufarbeiten könnten, liegt es nicht. Und wohl auch nicht daran, dass die ÖVP dafür keine Finanzen hätte. Es braucht nur den Willen der Parteispitze, es endlich zu tun – auch wenn ihr Parteichef Sebastian Kurz damals noch nicht geboren war. Als der AG-Leaks-Skandal publik wurde, war Kurz immerhin schon VP-Obmann.