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Selbstbestrafung statt Selbstvergewisserung

Was hilft wirk­lich gegen Extre­mis­mus? Und war­um fin­den vie­le Nor­bert Hofer so anzie­hend? Ein Kom­men­tar von Kers­tin Kel­ler­mann, Repor­te­rin beim „Augus­tin”. Selbst­ver­ge­wis­se­rung sei das Ein­zi­ge, was gegen Nei­gun­gen Rich­tung Rechts­extre­mis­mus hel­fe, sag­te der Rechts­ex­tre­­mis­­mus-For­­scher Heri­bert Schie­del neu­lich. Denn zum Bei­spiel Anti­se­mi­tis­mus habe allein mit dem Sub­jekt zu tun, das ihn aus­übt und nicht mit dem […]

19. Mai 2016

Selbst­ver­ge­wis­se­rung sei das Ein­zi­ge, was gegen Nei­gun­gen Rich­tung Rechts­extre­mis­mus hel­fe, sag­te der Rechts­extre­mis­mus-For­scher Heri­bert Schie­del neu­lich. Denn zum Bei­spiel Anti­se­mi­tis­mus habe allein mit dem Sub­jekt zu tun, das ihn aus­übt und nicht mit dem geh­aß­ten Objekt. Selbst-Ver­ge­wis­se­rung? Doch wie soll man jemand zu Refle­xi­on über sich sel­ber brin­gen, der sei­ne Iden­ti­tät und even­tu­ell Gran­dio­si­tät auf einer Vor­lie­be für „Sün­den­bö­cke“ auf­ge­baut hat? Hal­te inne und schaue in die Ver­gan­gen­heit dei­ner eige­nen Fami­lie: Was hat dein Opa oder Uropa im Ers­ten Welt­krieg getan? Was dein Vater oder Opa im Zwei­ten? Genau? Gibt es irgend­wel­che ver­schwun­de­nen Tan­ten, Onkel, Kin­der? Woher kom­men ambi­va­len­te Gefüh­le? Gro­ße Emo­tio­nen, die nicht zum Anlass pas­sen? Selbst­ver­ge­wis­se­rung bedeu­tet, den schwe­ren Weg zu wäh­len, wäh­rend es ein­fach ist, gro­ße Grup­pen, die seit Gene­ra­tio­nen bzw. Jahr­hun­der­ten oder gar Jahr­tau­sen­den ver­folgt wer­den, als „Opfer per se“ zu eige­nen Zwe­cken zu miss­brau­chen. Als Blitz­ab­lei­ter für star­ke Gefüh­le: Juden, Roma, „die Migran­ten“, „den Islam“ oder die Flücht­lin­ge, die an allem schuld sein sol­len. Tod, Mord, Miss­brauch – die Erin­ne­rung an Krieg, Zer­stö­rung und Leid. Gibt es eine auto­ma­ti­sche Iden­ti­fi­ka­ti­on mit Tätern, weil ja kei­ner ger­ne Opfer sein will? Eine „Schutz-Imp­fung“ vor Rechts­extre­mis­mus für Jugend­li­che durch den Besuch von KZ-Gedenk­stät­ten funk­tio­nie­re jeden­falls nicht, mein­te Schie­del. Jugend­li­che sol­len also ihren Opa fra­gen, ob er z. B. im Korea­krieg gekämpft hat? Oder den Vater: Was genau hast du im Bos­ni­en­krieg getan? Bist du ein Täter?

Kultur oder Neurose

Der frei­heit­li­che Bun­des­prä­si­den­ten-Kan­di­dat Nor­bert Hofer ver­fügt über die Anzie­hung eines vom Leben gezeich­ne­ten Man­nes, eines Opfers, das sich auf­ge­rap­pelt hat, und nun müh­sam wie­der geht. In sei­nem Gesicht spie­geln sich die Emo­tio­nen. Hofer möch­te nun allen zei­gen, dass ein ehe­ma­li­ges Opfer (Anm. Jugend­li­chen-Schimpf­wort: „Du Opfer“) auch ganz anders sein kann: hart und eis­kalt, die Regie­rung „her­um kom­man­die­ren“ – als ein­sam mäch­ti­ger Herr­scher in der Hof­burg. Er „kann auch anders“, wie lei­der vie­le ande­re, vom Leben gezeich­ne­te, Men­schen, die lie­ber ihre „inter­na­li­sier­ten Täter­fi­gu­ren“ (Anm. Über­nah­me von einem rea­len Täter, macht aber laut Trau­ma­theo­rie nur zwan­zig Pro­zent der Per­sön­lich­keit aus) aus­le­ben möch­ten, als noch wei­ter „drauf­zu­zah­len“. Wol­len wir also ernst­haft einen Bun­des­prä­si­den­ten haben, der laut Inter­views stän­dig eine Pis­to­le mit sich her­um­trägt? Um was damit zu tun?
Selbst­ver­ge­wis­se­rung und Selbst­iden­ti­fi­ka­ti­on: „Wir müs­sen uns mit dem Men­schen iden­ti­fi­zie­ren, dem das alles geschah – uns selbst“, schrieb der Ausch­witz-Über­le­ben­de Imre Ker­tesz. „Der Über­le­ben­de muss­te begrei­fen, um zu über­le­ben, das heißt, er muss­te begrei­fen, was er ‚über­leb­te’.“ Das Magi­sche, das Dämo­ni­sche, das Ver­füh­re­ri­sche an den Nazis, die Macht­ge­füh­le der „Her­ren­men­schen“. Die ande­ren Men­schen wichen mehr oder weni­ger dem Begrei­fen aus und wie sich die Ideo­lo­gien in ihre Her­zen und Hir­ne gefres­sen haben – über Gene­ra­tio­nen. Erklä­ren den Holo­caust für „uner­klär­lich“. Er such­te „in der Erschüt­te­rung die Befrei­ung“, schrieb Ker­tesz. Und heu­te ganz wich­tig: „Ich bin nach wie vor der Mei­nung, der Holo­caust ist ein Trau­ma der euro­päi­schen Zivi­li­sa­ti­on, und er wird zur Exis­tenz­fra­ge für die­se Zivi­li­sa­ti­on wer­den, ob die­ses Trau­ma in Form von Kul­tur oder Neu­ro­se, in kon­struk­ti­ver oder destruk­ti­ver Form in den Gesell­schaf­ten Euro­pas weiterlebt.“

Wir haben die Wahl.

Braucht Öster­reich wirk­lich einen Bun­des­prä­si­den­ten, der meint, der ach­te Mai 1945 sei kein Tag der Befrei­ung gewe­sen und stän­dig die Täter-Wun­de offen hält? Momen­tan sieht es so aus.