Ein Bild jedoch, dass stark genug ist, um vom Attentäter von Oslo/Utøya in seine Begründung für den Massenmord vom 22. Juli 2011 aufgenommen zu werden. Auf Seite 550 seines mehr als 1500 Seiten langen „Manifest“ des Hasses und der Unmenschlichkeit schreibt er: „In Vienna, Austria[90] in December 2006, Santa Claus was removed from kindergartens. Municipal officials insisted that the sight of a strange bearded figure at the door would evoke fear in kids, but many observers accused them of kowtowing to a growing Muslim population.“
Sachlichen Hintergrund hat die Behauptung nicht: Selbstverständlich werden in Wiener Kindergärten am 6. Dezember jeden Jahres Nikolo-Feiern abgehalten. Und selbstverständlich werden dabei Geschenke und Süßigkeiten verteilt; in der Regel von einer mit einem weißen Bart verkleideten Person.
Der Nikolo in Wiener Kindergärten: Nicht fremd und ohne Angstmache
Seit einigen Jahren werden keine hausfremden, den Kindern unbekannten Nikolos mehr in die Kindergärten bestellt. Warum das so ist, ist leicht erklärt: Fremde, den Kindern nicht bekannte Nikolos machen Kindern oft Angst. Stattdessen schlüpfen daher den Kindern gut bekannte Personen wie BetreuerInnen oder Elternteile, die gemeinsam von und mit den Kindern verkleidet wurden, in die Rolle des Nikolaus.
Dies wird nicht nur in den städtischen Kindergärten Wiens so gehandhabt, sondern etwa auch in jenen der Erzdiözese Wien, deren Chefin gegenüber der Zeitschrift „news“ im Jahr 2006 erklärte: „Der Nikolaus ist keine pädagogische Figur. Es sei zutiefst widersinnig, dass man den Kindern etwas schenke und zuvor Angst mache. Das sei wie bei Erwachsenen, wenn eine Perchte auf sie zukomme: Da kommt auch der stärkste Mann ins Schwitzen.” Zusammengefasst: In Wiener Kindergärten werden selbstverständlich Nikolofeiern abgehalten. Es gibt kein Nikolo-Verbot.
Nikolo-Verbot in Wien: Eine Lügengeschichte wird geboren …
Woher dann die Geschichte vom Nikolo-Verbot, auf die sich der rassistische Massenmörder von Oslo bezieht? Das Copyright auf die Fama darf sich die FPÖ an die Fahnen heften: Sie begeht seit 2006 den Festtag des Heiligen Nikolaus Jahr für Jahr mit einer fast alle Bundesländer umfassenden Kampagne gegen das vermeintliche Nikolo-Verbot. „Das Nikolausverbot in den Wiener Kindergärten stellt eine Bankrotterklärung der Wiener Integrationspolitik dar“, verbreitete FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache in einer Presseaussendung am 28. November 2006. Worin das angebliche Verbot bestünde und warum dies etwas mit Integrationspolitik zu tun hätte, erläuterte er nicht.
Deutlicher wurde im selben Jahr der niederösterreichische FPÖ-Abgeordnete Waldhäusl:
Der hohe Prozentsatz an islamischen Einwanderern und deren selbstbewusste Forderungen nach Würdigung ihrer Sitten und Gebräuche schlägt sich immer deutlicher auf unser öffentliches Leben nieder. In Kindergärten wird kein Schnitzel mehr serviert, werden Hausverbote für Nikolos erteilt und die Banken verschenken keine Sparschweine mehr.
Die Angst um Schnitzel und Sparschwein …
Bei so viel Bereitschaft der FPÖ, die von ihr selbst in die Welt gesetzten Lügen zu glauben, konnte die Gründung eines Nikolo-Schutzvereines selbstverständlich nicht ausbleiben. Im März 2007 gab der FPÖ-Abgeordnete Neubauer die Gründung des Vereins SOS-Abendland bekannt. Initialzündung zur Gründung des Vereines, so Neubauer, war ein unmittelbarer Anlassfall, nämlich das „Nikolaus-Verbot” an Wiener Kindergärten und der daraus entstandenen Initiative „Rettet den Nikolaus”, welche durch knapp 5.000 Unterschriften unterstützt wurde.
Zeit, kurz innezuhalten: Im März 2007 ist es also bereits so weit, dass eine Initiative gegen ein Nikolaus-Verbot, das es gar nicht gibt, 5000 Unterschriften sammeln konnte und daraus ein eigener Verein zum Schutz des Abendlandes wurde (wobei der Hl. Nikolaus nicht im Abendland, sondern nahe des heutigen Antalya lebte).
… und gepflegt
Am Krampustag 2007 ließ Strache die Rute dann so richtig aus dem Sack: Die „politisch korrekte” SPÖ-Stadtregierung in Wien ließe mit dem behaupteten Nikolo-Verbot „vorauseilenden Gehorsam gegenüber den Zuwanderern walten“; um in der Folge in einen Ton zu verfallen, die nahe an den Attentäter von Oslo herankommt: „Ohne jegliche Rücksichtnahme werde mittels Ethnomorphose versucht, die eigne (sic!) Bevölkerung langsam aber sicher von ihrer Identität wegzuführen und durch maximale Zuwanderung einen Multi-Kulti-Mix zu erzeugen. Dies werde die FPÖ jedoch zu verhindern wissen — auch gegen den Willen der SPÖ.“
Noch eine Niveau-Ebene tiefer schaffte der oberösterreichische FPÖ-Abgeordnete Lutz Weinzinger im selben Jahr: „Wie kommen unsere Kinder dazu, dass sie aus falsch verstandener Rücksicht auf muslimische Kinder auf die lieb gewordene Tradition des Nikolaus-Besuchs verzichten müssen?”. „Christliches Brauchtum“ sei, so Weinzinger, „zu erhalten und nicht auf dem Altar der Multi-Kulti-Phantastereien zu opfern.”
Ebenfalls 2007 behauptet der Wiener FPÖ-Abgeordnete Schock wahrheitswidrig, dass es eine offizielle Erklärung gäbe, wonach das (real nicht existierende) Nikolo-Verbot aus „Rücksichtname [sic![ auf Zuwandererkinder und vor allem deren Eltern“ erlassen worden sei. Um zu folgern:
In unserer Stadt laufe jedoch einiges schief, wenn wir künftig unsere Identität einfach aufgeben, damit sich andere Menschen dadurch nicht beleidigt fühlen. Nicht wir haben uns anzupassen, sondern jene, die aus anderen Ländern — aus welchen Gründen auch immer — zu uns kommen und hier leben wollen, so Schock abschließend.
Im Jahr 2008 ließ der Freiheitliche Klub im Wiener Rathaus eine Presseaussendung des „Freiheitlichen Familienverbandes“ verbreiten. Eine gewisse Birgit Ossberger heizte noch einmal kräftig die Stimmung gegen Zuwanderer an:
Wir werden daher dessen nicht überdrüssig, weiter darauf zu bestehen, dass Integration eine Bringschuld der Zuwanderer sei. Österreich müsse mit seinen altbewährten und allseits beliebten Traditionen bestehen bleiben, die Abschaffung dieser, weil sich andere Bevölkerungsgruppen dadurch beleidigt fühlen könnten, sei durch und durch inakzeptabel.
Seit der Martini-Schändung wird zurückgeschlagen
Im Jahr 2010 entblödete sich der bereits erwähnte Abgeordnete Neubauer nicht, eine islamische Störaktion gegen einen Laternen-Umzug am Martinstag (11. November) herbei zu phantasieren, mit dem angeblichen Nikolo-Verbot zu verknüpfen und das Zurückschlagen anzukündigen: „Wir werden uns diese Gemeinheiten, diese Respektlosigkeiten hinkünftig nicht mehr bieten lassen. Der Verein „SOS-Abendland” wird ab sofort, alle diese Vergehen sammeln, einer rechtlichen Prüfung unterziehen und gegebenenfalls zur Anzeige bringen.”
Im Verlauf von etwas mehr als vier Jahren war eine an den Haaren herbei gezogene Erfindung der FPÖ zu einem jährlich wiederkehrenden Dauerbrenner der österreichischen Innenpolitik geworden, die auch in internationalen Medien (etwa n‑tv und msnbc) rezipiert wurde. Dort scheint auch der Attentäter von Oslo fündig geworden zu sein (wobei sein Link zum San Francisco Chronicle im Pamphlet des Massenmörders jedoch nicht funktioniert).
Richtig Furore gemacht hat die Lüge vom Nikolo-Verbot jedoch in unzähligen rechtsextremistischen und anti-islamischen Blogs um den gesamten Globus. Von den Nazi-Blogs „Stormfront“ oder „Thiazi“ bis hin zu VerschwörungstheoretikerInnen bei „Gates of Vienna“ und weit darüber hinaus wurde die mittlerweile als Kniefall vor dem Islam geframte Nachricht unüberprüft übernommen, die Korrektur der Falschmeldung jedoch ausgelassen.
Aus Lügen werden tödliche Geschoße
Der Attentäter von Oslo/Utøya hat sie für bare Münze genommen und sich darauf bezogen: auf eine Falschmeldung, die von den FPÖ-Politikern Strache, Neubauer, Schock, Waldhäusl und noch einigen mehr in die Welt gesetzt und trotz alljährlicher Korrektur durch die Wiener Kindergärten am Leben erhalten wurde. Bis zu dem Tag, an dem sich das Weltbild des Attentäters von Oslo/Utøya – zu dem die Lügengeschichte der FPÖ gehört – zu tödlichen Gewehrkugeln materialisierte. Zeit für eine öffentliche Richtigstellung, Herr Strache!